Nasr Hamid Abu Zaid

Nasr Hamid Abu Zaid

Nasr Hamid Abu Zaid (* 10. Juli 1943 in Qufaha bei Tanta, Ägypten; † 5. Juli 2010 in Kairo; arabisch ‏نصر حامد أبو زيد‎, DMG Naṣr Ḥāmid Abū Zaid) war ein ägyptischer Literaturwissenschaftler und einer der führenden liberalen Denker des Islam.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Nasr Hamid Abu Zaid (auch Abu Zayd geschrieben) wurde 1943 in Quhafa bei Tanta, Ägypten, geboren. Nach einer technischen Ausbildung arbeitete er in der National Communications Organization in Kairo. Gleichzeitig begann er das Studium der Arabistik an der Universität Kairo (BA 1972). Es folgten der Magister (1977) und die Promotion (1981) in Islamwissenschaft, jeweils mit Arbeiten zur Interpretation des Koran. Im Anschluss an die Promotion nahm er am dortigen Institut für arabische Sprache und Literatur seine Lehrtätigkeit auf, zuerst als Lehrbeauftragter, seit 1982 als Assistenzprofessor und ab 1987 als außerordentlicher Professor. Seine kritischen Analysen des Koran, in denen er diesen auf dem Hintergrund seiner Entstehungszeit interpretiert, führten zu heftigen öffentlichen Diskussionen und letztlich zum Vorwurf, ein Apostat, das heißt ein vom Islam Abgefallener (Murtadd) zu sein, was 1995 die Ablehnung seiner Ernennung zum ordentlichen Professor und die Zwangsscheidung von seiner Frau, der Romanistikdozentin Ibtihal Yunis, zur Folge hatte.

Konservative islamische Gelehrte versuchten, ihn als Apostat anzuklagen. Da dies nach ägyptischem Strafrecht nicht zulässig ist und bei einem Universitätsprofessor in der Hauptstadt auch nicht durchsetzbar war, wurde ein juristischer Trick angewandt. Das Ehe- und Scheidungsrecht wird in Ägypten von religiösen Gerichten verhandelt. Für Muslime gilt dabei die Schari'a. Daher wurde vor einem Ehegericht die Annullierung der Ehe von Abu Zaid mit der Begründung beantragt, eine Muslima dürfe nach der Schari'a nur mit einem Muslim verheiratet sein. Wenn aber Abu Zaid durch Abfall kein Muslim mehr sein sollte, dürfte seine Frau nicht mehr mit ihm verheiratet sein. Das Gericht ließ sich auf dieses Vorgehen ein, traf eine Feststellung über die Apostasie von Abu Zaid und erklärte die Ehe für ungültig.

Aufgrund des Verfahrens und der damit verbundenen Publizität erhielt Abu Zaid zahlreiche Morddrohungen. Seitdem lebte er im niederländischen Exil. Er lehrte zunächst als Gastprofessor Islamwissenschaft an der Universität Leiden. Seit 2004 hatte er den Ibn-Rushd-Lehrstuhl für Humanismus und Islam an der Universität für Humanistik in Utrecht inne. Im Jahr 2005 erhielt er den Ibn-Ruschd-Preis für Freies Denken, Berlin.

Leistungen

Die literaturkritische Methode Abu Zaids

Abu Zaids Koranverständnis war der Ausgangspunkt des „Falles Abu Zaid“, der einen großen Tumult sowohl im ägyptischen Inland als auch bei ausländischem fachkundigen Publikum verursachte. Die in seiner Habilitationsschrift Mafhum an-Nass an der Kairoer Universität eingereichte These steht in der Tradition der philologischen Koraninterpretation. Seit Amin al-Huli († 1969) entstand eine Richtung, die die These vertritt, dass der Koran auch mit modernen literaturwissenschaftlichen Theorien analysiert werden dürfe.

Autobiographie Ein Leben mit dem Islam

Das Buch Ein Leben mit dem Islam beruht auf Gesprächen von Navid Kermani und Chérifa Magdi mit Abu Zaid, die von Chérifa Magdi übersetzt und von Navid Kermani ediert und zu einer Biographie zusammengestellt wurden. Im Rahmen dieser Biographie werden auch verschiedene Themen abgehandelt, die Abu Zaid am Herzen lagen, sodass dieses Buch einen ersten Einblick in sein Denken ermöglicht.

Inhalt des Buches Ein Leben mit dem Islam
Kapitel Biographisches Thematisches Zitate
1 Kindheit, Halbwaise mit 14 Jahren, Erfahrungen in der Koranschule (kuttâb) Die Koranrezitation (taschwîd); der Koran als gesprochener Text; verschiedene Lesearten des Koran „Eine Religion ohne die physische Erfahrung des Rituals ist kaum mehr als ein Gedankengebäude, ein Konstrukt. Jede Religion bedarf sinnlicher oder ästhetischer Erfahrungen. Im Islam ist es vor allem die Koranrezitation, die diese Funktion erfüllt. Sie ist ein spiritueller Vorgang und ritueller Akt: Indem der Gläubige die Rede Gottes hört, hört er den Sprecher selbst – er hört Gott.“ (S. 19)

„Der mündliche Vortrag des Korans ist sehr wichtig, denn er ist seiner Natur nach kein Lesetext.“ (S. 21)

2 Erfahrungen an der christlichen Grundschule, an der Taufiqiyya-Mittelschule, an der Berufsschule, Berufstätigkeit in der Funk-Abteilung des Verkehrsministeriums Das Zusammenleben von Muslimen und Kopten

Die Muslimbrüder

Sayyid Qutb

„Das Gewebe der ägyptischen Gesellschaft ist beschädigt – aber es ist nicht zerstört.“ (S. 32)

„Die Muslimbrüder in unserem Dorf waren freundliche und ehrliche Menschen, die den Armen halfen und sich für Gerechtigkeit einsetzten. […] [Sie] haben auch nie schlecht über Christen oder andere Religionsgemeinschaften gesprochen. Nur über die Kolonialisten schimpften sie“ (S. 42)

„Sayyid Qutb hat kein Verbrechen begangen. Er hat ein Buch geschrieben. Seine Hinrichtung ist für mich bis heute abstoßend.“

3 Religion, Staat und Gesellschaft „Es ist ein Unterschied, ob man einen Text als religiöse Autorität anerkennt und seine zivilisationsstiftende Funktion hervorhebt oder ihn als die Autorität schlechthin für alle Fragen des Lebens behandelt. Bedauerlicherweise müssen wir erleben, daß ein Dogma entstanden ist, wonach die Autorität des Korans über den Glauben hinausgeht und alle Bereiche der Gesellschaft und des Wissens erfaßt.“ (S. 49)
4 Der Tod der Mutter 1982 Die Rolle der Frau im Islam „Es ist unmöglich, dem Koran eine Bevorzugung des absolut Männlichen vor dem absolut Weiblichen zuzuschreiben.“ (S. 86)
5 Studienzeit in Kairo Traditionen der Koran-Exegese (100-110) „Wenn ich den Koran als literarisches Werk bezeichne, reduziere ich ihn nicht auf seine poetischen Elemente“ (S. 100)
6 Auslandsaufenthalte (USA, Sudan, Japan), Erfahrung mit anderen Kulturen Die Hermeneutik

Hermeneutische Interpretation des Koran nach Ibn Arabi

7 Tätigkeit als Professor Niedergang der Universitäten in Ägypten
8 Die zweite Ehe Kulturelle Unterschiede zwischen Landbevölkerung (Fellachen) und Aristokratie
9 Der Prozess der Zwangsscheidung (14. Juni 1995), die Emigration „Ich habe immer wieder erklärt, daß ich ein gläubiger Muslim bin. Kein Mensch hat das Recht, das Gegenteil zu behaupten.“ (S. 174)

„Der Koran verbietet es nicht, den Islam aufzugeben.“ (S. 175)

10 Das Leben im niederländischen Exil Islamische Mystik (Sufismus) „Wenn ich unter anderen Bedingungen nach Leiden gekommen wäre, um hier für einige Jahre zu arbeiten, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.“ (S. 195)

„Der Islam ist ein einfacher Glaube, ohne Komplikationen.“ (S. 206)

Werke

Literatur

  • Jörn Thielmann: Nasr Hâmid Abû Zaid und die wiedererfundene hisba. Scharî'a und Qânûn im heutigen Ägypten. Ergon, Würzburg 2003, ISBN 3-89913-290-4 (Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften; 3).
  • Wolfgang Günter Lerch: Der fromme Kritiker. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. August 2008, S. 51.

Weblinks


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