Nedelin-Desaster

Nedelin-Desaster

Als Nedelin-Katastrophe oder Nedelin-Desaster wird der größte, offiziell bekannte Raketenunfall bezeichnet. Bei ihr starben am 24. Oktober 1960 durch die Explosion einer militärischen Interkontinentalrakete auf dem sowjetischen Weltraumbahnhof Baikonur 126 Menschen, nach manchen Quellen auch mehr. Das Nedelin-Desaster wurde benannt nach dem Chef der strategischen Raketentruppen Mitrofan Nedelin, der bei der Katastrophe ums Leben kam.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Die Rakete war eine Konstruktion von Michail Jangel und trug die Typbezeichnung R-16. Ihre Entwicklung und Erprobung stand unter erheblichem Zeitdruck, denn der Start sollte aus Prestigegründen möglichst zum Jahrestag der Oktoberrevolution erfolgen.

Am 24. Oktober 1960 wollte Nedelin den ersten erfolgreichen Start der R-16 in Baikonur beobachten. Er trieb deshalb an den vorhergehenden Tagen die Arbeiten voran und ließ zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen umgehen, obwohl die Rakete noch in der Testphase und die Arbeiten noch lange nicht abgeschlossen waren. Die R-16 wurde am 22. Oktober 1960 mit 124 Tonnen Treibstoff aus den hypergolischen Komponenten UDMH und Salpetersäure betankt. Salpetersäure ist ein äußerst aggressiver Stoff, so dass Raketen, die nach dem Betanken wieder enttankt worden sind, anschließend zur Inspektion ins Herstellerwerk gebracht werden müssen.

Ablauf der Katastrophe

Die Startvorbereitungen wurden am 23. Oktober wegen Problemen mit der Elektronik zunächst abgebrochen, mussten aber auf Befehl Nedelins wieder aufgenommen werden. Am 24. Oktober um 19:30 Uhr sollte der Start erfolgen. Vermutlich um die berechtigten Sicherheitsbedenken seiner Untergebenen wegen eines Treibstofflecks zu zerstreuen und Druck auf sie auszuüben, platzierte sich Nedelin am 24.10. gegen 18:40 Uhr demonstrativ acht Meter von der Rakete entfernt auf einen Stuhl.[1] Andere Militärangehörige und Techniker sahen sich dadurch gezwungen, den sicheren Bunker zu verlassen und sich neben ihn zu stellen.

Die autonome, bordeigene Energieversorgung war bereits aktiviert und ein Teil der Pyromembranen im Treibstoffsystem geöffnet, da sich der vorhergehende Abbruch innerhalb der Ein-Stunden-Bereitschaft ereignet hatte. Zum Zünden der Rakete war nur noch ein Drehschalter zu betätigen, der sich zu diesem Zeitpunkt wegen eines vorhergegangenen Tests in der Position Nach-Start befand. Ein Mitarbeiter versuchte, den Schalter auf die Position Vor-Start zu bringen und passierte dabei die Schalterstellung Manuelles Zünden der zweiten Stufe. Während einer normalen Startvorbereitung wäre die Stromversorgung der Rakete abgeschaltet und der Schaltvorgang ohne Wirkung gewesen. Verhängnisvollerweise führte dies aber nun zur unbeabsichtigten Aktivierung eines elektro-pneumatischen Ventils (WO-7), das zur Regulierung des Drucks der Startbehälter diente.[2]

Jetzt zündete das Marschtriebwerk der zweiten Stufe. Es zerriss die Tanks der darunterliegenden ersten Stufe. Das UDMH und die Salpetersäure vermischten sich und es kam zu einer Explosion, in deren Folge innerhalb von 90 Sekunden 124 Tonnen Treibstoff verbrannten.[1] Insgesamt starben 126 Personen bei dem Unglück oder erlagen später ihren schweren Verletzungen. Von Nedelin, der sich unmittelbar neben der Rakete befunden hatte, wurden nur die Überreste seines Ordens Held der Sowjetunion und Uniformteile gefunden.

Als Ursache des Unglücks wird unsachgemäße Handhabung der defekten und bereits betankten Rakete unter Zeitdruck und wesentlich beschleunigten Zeitplänen angenommen. Entgegen dem vorliegenden technischen Plan waren die Reparaturarbeiten auf ausdrücklichen Befehl Nedelins hin bei aktiviertem Bordenergiesystem erfolgt. Die Untersuchungskommission verzichtete jedoch auf eine offizielle, persönliche Schuldzuweisung.

Der Tod zahlreicher Spezialisten und der Verlust des Startplatzes verzögerten den geplanten Fortgang des sowjetischen Raketenprogramms.

Konsequenzen

Über die Ereignisse verhängte der Ministerpräsident der Sowjetunion Nikita Chruschtschow absolute Geheimhaltung. Es wurde außerdem eine Untersuchungskommission unter der Leitung von Leonid Breschnew eingesetzt, um die Ereignisse vor Ort zu untersuchen und die Gründe für das Unglück zu recherchieren. Die Kommission fand unter anderem heraus, dass sich über 250 Personen in der Nähe der Startrampe aufgehalten hatten – also viel mehr, als notwendig gewesen wären. Die meisten von ihnen hätten sich zu diesem Zeitpunkt in Sicherheitsbunkern befinden sollen. Da aber die Moral der Raketenspezialisten nach dem Unglück durch den Tod der vielen Kameraden stark belastet war und die gesteckten Ziele mit den Verbliebenen möglichst schnell erreicht werden sollten, wurde in der Folge niemand direkt zur Verantwortung gezogen.

Der Konstrukteur der Rakete M. Jangel überlebte das Unglück unverletzt. Er hatte sich zum Zeitpunkt der Explosion gemeinsam mit Kollegen außerhalb des Gefahrenbereichs in einer Raucherzone befunden. Eine der wenigen noch beachteten Sicherheitsmaßnahmen (nämlich, dass man in der Nähe der Rakete nicht rauchen durfte) rettete ihm das Leben. Chruschtschow empfing ihn in seinem Büro im Kreml mit den Worten: „Wie kommt es, dass Sie überlebt haben?“

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b http://www.bernd-leitenberger.de/schlamperei.shtml
  2. http://www.peterhall.de/rvsn/disaster/disaster2.html

Fachpresse und Bücher

  • Nikita Khrushchev: And the Creation of a Superpower, Pennsylvania State University Press, 2000, ISBN 0271019271
  • Harford, James: Korolev – How One Man Masterminded the Soviet Drive to Beat America to the Moon. John Wiley & Sons, Inc., New York 1997, pp 119-120, ISBN 0471327212
  • Matthias Gründer: SOS im All. Pannen, Probleme und Katastrophen der bemannten Raumfahrt. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2001, ISBN 389602339X

Weblinks


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