Neutralisierung (Kriminologie)

Neutralisierung (Kriminologie)

Neutralisierung bezeichnet in der Kriminologie die kognitiven Strategien zur Überwindung innerer Hemmungen gegenüber der Begehung von Straftaten.

Inhaltsverzeichnis

Bedeutung

Der Begriff Neutralisierung geht auf das lateinische Wort neutral zurück und bedeutet so viel wie Ausgleich von entgegengesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb neutralisieren steht für unwirksam machen, ausgleichen und für neutral erklären. Die kriminologische Verwendung des Begriffs stammt von den US-amerikanischen Kriminologen Gresham M. Sykes und David Matza (1957).

Sykes und Matza wandten sich damit gegen die Annahme der Subkulturtheorie, nach der jugendliche Delinquente abweichenden Gruppennormen folgen. Sie unterstellten allgemein akzeptierte Normen und erklärten mit ihrer Neutralisierungs-Theorie das Paradox, nach dem Jugendliche die geltenden Normen zwar für gültig halten, sie aber dennoch brechen. Um eine Straftat trotz ihres Widerspruchs zu akzeptierten Normen zu ermöglichen (Neutralisation) und sie im Nachhinein zu rechtfertigen (Rationalisierung), müssen die Täter unterschiedliche Neutralisierungstechniken ausbilden bzw. erlernen.

Neutralisierungstechniken

Sykes und Matza fanden fünf Neutralisierungstechniken, die jeweils einzeln oder in Kombination angewendet werden.

Leugnung der Verantwortung (Denial of Responsibility)

Das delinquente Handeln wird auf Ursachen zurückgeführt, die vom Straftäter nicht beeinflusst werden können. Folglich ist er für sein Tun nicht verantwortlich und begründet es mit beispielsweise dem Einfluss falscher Freunde oder dem einer ungünstigen Wohngegend.

Leugnung des Unrechts (Denial of Injury)

Das delinquente Verhalten wird zwar als normverletzend erkannt aber nicht als unmoralisch gewertet. Der Täter beruft sich darauf, dass er weder einen großen Schaden angerichtet habe noch jemanden konkret geschädigt (etwa bei Verkehrsdelikten, Sachbeschädigung oder Versicherungsbetrug).

Abwertung des Opfers (Denial of Victim)

Der Täter macht sich zum moralisch überlegenen Bestrafer. Er übernimmt zwar die Verantwortung für sein Delikt, würdigt aber das Tatopfer herab (s. Opfer-Abwertung). Das Opfer wird zum Übeltäter ernannt, zu einer Person, die genau diese Behandlung verdient hatte (geschieht häufig gegenüber Sexualstraftätern im Strafvollzug).

Verdammung der Verdammenden (Condemnation of the Condemners)

Der Delinquent verschiebt die Aufmerksamkeit von sich und seiner Straftat auf diejenigen, die seine Tat verurteilen und unterstellt ihnen verwerfliche Motive (wie etwa persönliche Abneigung gegen den Täter oder die Bevölkerungsgruppe aus der dieser stammt).

Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to Higher Loyalties)

Der Straftäter beruft sich darauf, nicht aus Eigeninteresse gehandelt zu haben sondern für die bedeutenden Belange einer wichtigen Gruppe (gilt auch für politisch motivierte Straftaten).

Anwendungsbereiche

Sykes und Matza wollten mit ihrer Theorie ausschließlich Jugendkriminalität erklären, doch sie greift auch bei anderen Bereichen abweichenden Verhaltens. Karl-Dieter Opp generalisierte 1974 die Neutralisierungstheorie generell auf Handlungen, die von sozialen Normen abweichen. Einen hohen Erklärungswert hat die Neutralisierungsthese im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Beispielhaft dafür ist Hefendehls Studie über Josef Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank). Auch auf die Analyse des Verhaltens von Politikern wurde die Neutralisierungstheorie angewandt.

Literatur

  • Roland Hefendehl: Neutralisationstechniken bis in die Unternehmensspitze. Eine Fallstudie am Beispiel Ackermann. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim) 88, 2005, S. 444–458.
  • Karl-Dieter Opp(1974): Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur. Luchterhand, Darmstadt 1974, ISBN 3-472-72601-6, (Soziologische Texte 101).
  • G. M. Sykes, D. Matza (1968). Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Fritz Sack, René König: Kriminalsoziologie. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 1968, (Akademische Reihe), S. 360–371.

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