Reaktanz (Psychologie)

Reaktanz (Psychologie)

Unter psychologischer Reaktanz versteht man eine recht komplexe Abwehrreaktion, die als Widerstand gegen äußere oder innere Einschränkungen aufgefasst werden kann. Reaktanz wird in der Regel durch psychischen Druck (z. B. Nötigung, Drohungen, emotionale Argumentführung) oder die Einschränkung von Freiheitsspielräumen (z. B. Verbote, Zensur) ausgelöst. Als Reaktanz im eigentlichen Sinne bezeichnet man dabei nicht das ausgelöste Verhalten, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung.

Inhaltsverzeichnis

Reaktantes Verhalten

Das reaktante Verhalten, das aus dieser Haltung erwächst, besteht darin, die nunmehr verbotenen Handlungen – insgeheim oder offensichtlich – weiterhin auszuführen. Auf diese Weise möchte sich die betroffene Person diese Freiheiten gleichsam zurückerobern (auch wenn dies ggf. gar nicht mehr möglich ist). Typisch für die Reaktanz ist eine Aufwertung der eliminierten Alternative, d. h. gerade diejenigen Freiheitsgrade, die der Person genommen wurden, werden nun von dieser als besonders wichtig erlebt. Insbesondere kann die nun verbotene Handlungsmöglichkeit der Person zuvor völlig unwichtig gewesen sein. Im Extremfall hat die Person von dieser Handlungsmöglichkeit vor dem Eintreten der Beschränkung nie Gebrauch gemacht, übt die Handlung aber seit dem Eintreten der Einschränkung aus.

Theorie der Reaktanz

Der Problemkreis wurde von Jack W. Brehm 1966 in seiner Theorie der Reaktanz ausgiebig untersucht. Brehms Forschungsergebnisse haben insbesondere Eingang in die Arbeitspsychologie und in die Verkaufspsychologie gefunden. Reaktanz gilt hier gemeinsam mit Passivität (nach der Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Martin Seligman, 1986) und Überkonformität als eines der drei wichtigsten Reaktionsmuster auf äußeren Druck oder Einschränkungen.

Auftreten von Reaktanz

Nach Wicklund (1974) tritt Reaktanzverhalten insbesondere dann auf, wenn

  • äußere Einflussversuche zur Änderung oder Kontrolle von Einstellungen erfolgen [aktiver sozialer Einfluss von außen] oder
  • Barrieren errichtet werden [passiver sozialer Einfluss von außen] oder
  • ein Zwang zur Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen besteht [aktive/passive Behinderung von innen].

Stärke der Reaktanz

Die Stärke der Reaktanz hängt von folgenden Faktoren ab:

  • Umfang des subjektiven Freiheitsverlusts: Je größer die Anzahl der bedrohten oder eliminierten Entscheidungsalternativen, desto stärker die Reaktanz
  • Stärke der Freiheitseinengung: Je größer die Bedrohung der Freiheit (eventuell bedroht, stark bedroht, für immer verloren etc.), desto stärker die Reaktanz.
  • Wichtigkeit der eingeengten Freiheit: Die Reaktanz ist umso größer:
    • je größer der instrumentelle Wert der bedrohten Verhaltensweise, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen
    • je größer die Stärke des entsprechenden Bedürfnisses
  • Die Erwartung, ein bestimmtes Ziel erreichen zu können.

Spezifische Effekte der Reaktanz

Allgemein differenziert Brehm zwischen subjektiven Effekten, die sich nicht direkt im beobachtbaren Verhalten äußern und daher nicht durch die Umwelt kontrollierbar sind, und Verhaltenseffekten. Diese enthalten jedoch häufig antisoziale Reaktionen, die negativ sanktioniert sind. Deshalb treten unter bestimmten Umständen lediglich subjektive, jedoch keine Verhaltenseffekte auf.

Im Einzelnen sind die Hauptklassen an Reaktionen:

  • Direkte Wiederherstellung der Freiheit durch entsprechende Verhaltensaktionen:
    • effektivste Art der Reaktanzreduktion
    • häufig nicht möglich, wegen negativer Sanktionen oder irreversibler Elimination der Freiheit
  • Indirekte Wiederherstellung der Freiheit durch Ausführung einer Verhaltensweise, die der verlorenen möglichst ähnlich ist.
  • Aggression, die differenziert werden kann in:
    • instrumentelle Aggression
    • unspezifische Aggressivität
  • Attraktivitätsveränderungen: Als kognitive Strategie zur Dissonanzreduktion wird die verlorene Freiheit in ihrer Attraktivität abgewertet.

Experiment: Der Saure-Trauben-Effekt

Das ursprünglich von Brehm beschriebene Experiment lief folgendermaßen ab: Zwei Versuchsgruppen sollten im Laufe von zwei Tagen verschiedene Schallplatten bewerten. Den Personen der einen Gruppe wurde mitgeteilt, dass sie sich als Belohnung für die Teilnahme am Ende eine Schallplatte aussuchen könnten. Die Personen der anderen Gruppe erhielten die Information, dass sie als Belohnung eine der Platten zugeteilt bekämen. Am zweiten Versuchstag erhielten beide Gruppen die Information, dass zwei der vier Schallplatten nicht mehr verfügbar seien.

In der Gruppe, die sich eine Schallplatte aussuchen durfte, stieg daraufhin die Bewertung der eliminierten Alternative deutlich an. In der anderen Gruppe sank sie dagegen (Saure-Trauben-Effekt). Die Entstehung des Effektes wird so gedeutet: Die Platte, welche nun unerreichbar ist, hätte den Teilnehmern der zweiten Gruppe prinzipiell zugeteilt werden können. Durch den Wegfall dieser unkontrollierbaren Alternative entsteht kognitive Dissonanz. Diese kann leicht abgebaut werden, indem die eliminierte Alternative als weniger präferabel bewertet wird. Es findet hier sozusagen eine Minimierung eines virtuellen Verlustgefühls statt.

Beispiele für Reaktanzverhalten im Alltag

  • Ausverkauf ⇒ die Ware erscheint begehrenswerter als vorher limitierte Auflagen.
  • Kindererziehung ⇒ „das Essen/Trinken (Cola trinken, etc.) ist nichts für dich, du bist noch zu klein“ führt in vielen Fällen zu einem „jetzt will ich es aber trotzdem essen/trinken“.

Anwendungsbereiche

Oben wurde bereits der Eingang der Reaktanztheorie in die Arbeitspsychologie erwähnt. So kann es im Zusammenhang mit Umstrukturierungen in Unternehmen zu Reaktanzverhalten ganzer Abteilungen kommen, wenn diese etwa bei der Einführung neuer Techniken nicht genügend berücksichtigt oder befragt wurden. Um derartige Effekte zu vermeiden, ist eine geeignete Informationspolitik, eine Partizipation der betroffenen Abteilungen und ggf. eine Schulung der Mitarbeiter notwendig. Durch diese Maßnahmen - eine gute Durchführung vorausgesetzt - lässt sich Reaktanz ebenso wie erlernte Hilflosigkeit oder Überkonformität nachweislich vermindern. Als besonders wichtig hat sich dabei die Möglichkeit zur Partizipation erwiesen.

Auch in einer Mediation, in der von den Medianten u. a. eine bestimmte Einschränkung des Verhaltens gefordert wird, kann reaktantes Verhalten eine erfolgreiche Lösung des mediierten Konfliktes beeinträchtigen. Auch hier ist die Möglichkeit der Partizipation sowie das Verständnis der Legitimität der Verhaltenseinschränkung eine Möglichkeit, Reaktanz zu verringern.

Da das Alltagsverhalten der Kunden von Handelsbetrieben oft durch Reaktanz beeinflusst, wenn nicht bestimmt wird, widmet sich vor allem die Handelsbetriebslehre, insbesondere ihre Zweiglehre Handelspsychologie, diesem Phänomen. Empfindet ein Kunde seine Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Artikeln bedroht ("Solange der Vorrat reicht", "Verkauft"-Hinweis an einer Schaufensterauslage usw.), wird er versuchen, den Spannungszustand, in den er dadurch geraten ist, abzubauen und den Freiheitszustand wieder herzustellen sowie die bedrohte oder verlorene Alternative aufzuwerten. "Bei diesem Versuch kann allerhand passieren: Aktives Bemühen um den unzugänglichen Artikel, 'Jetzt erst recht', Aggression, Trotz, Ärger, Abwertung oder Meidung des Geschäfts." (Schenk, S. 34)

Berücksichtigung der Reaktanz in der Psychotherapie

Die Reaktanz ist in vielen Therapierichtungen kein explizites Thema, obwohl sie in allen Fällen, in denen Fremdmotivation eine Rolle spielt – Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und alle durch (gerichtliche oder sonstige) Auflagen herbeigeführte Therapien, wie z. B. Drogentherapie oder Forensische Psychiatrie – berücksichtigt werden muss. Die beiden Richtungen, welche implizit die Reaktanz benutzen, um Veränderungen zu erleichtern, sind Folgende:

Ähnliche Begriffe und Abgrenzung

Reaktanz ähnelt dem Trotz. Trotz kann jedoch auch aus anderen Gründen als der Beschneidung von Freiheiten auftreten. Eine weitere Analogie ist in der umgangssprachlichen Wendung vom „Reiz des Verbotenen“ zu erkennen.

Der Psychiater Viktor E. Frankl benutzte die paradoxe Intervention seit 1929 und beschrieb sie erstmals als Methode 1939. Dabei sagt sich der Patient, dass er das, was er fürchtet, absichtlich macht, also zum Beispiel die ganze Nacht wachbleiben will, wenn er Schlafstörungen hat, oder möglichst viel schwitzt, wenn er nervös ist.[1]

Die psychologische Reaktanz ist vom Begriff der Reaktanz (auch Blindwiderstand) in der Elektrotechnik zu unterscheiden.

Integrationsmodell von Hilflosigkeit und Reaktanz

Nach Wortmann und Brehm (1975) beziehen sich Reaktanz und Erlernte Hilflosigkeit auf vergleichbare Situationen. Der Freiheitsverlust der Reaktanztheorie kann nach ihnen mit der Unkontrollierbarkeitskomponente der Hilflosigkeitstheorie gleichgesetzt werden. Betreffend der Folgen der Unkontrollierbarkeitserfahrung unterscheiden sich Reaktanz und Hilflosigkeitstheorie aber erheblich: Reaktanztheoretisch antwortet das Individuum auf Kontrollverlust z. B. mit Aufwertung oder Aggression, während nach der Hilflosigkeitstheorie Rückzug und Passivität erwartet werden. Wortmann und Brehm integrierten diese Reaktionsformen in einem gemeinsamen Modell. Demnach führen kurze Unkontrollierbarkeitserfahrungen beim gleichzeitigen Bestehen einer übergeordneten Kontrollerwartung zu Reaktanzverhalten, während andauernde Unkontrollierbarkeitserfahrungen ohne übergeordnete Kontrollerwartungen zu Hilflosigkeitseffekten führen.

Ein ganz ähnlicher Effekt lässt sich vor dem gleichen Hintergrund erklären, ist aber nicht Bestandteil des Integrationsmodells nach Wortmann und Brehm: Erwartet ein Proband aufgrund vergangener Reaktanzerlebnisse, in eine Situation zu geraten, in der seine Freiheiten eingeschränkt sein werden, so kann dies ebenfalls zur Aufwertung der noch vorhandenen Handlungsmöglichkeiten führen. Nach diesem Prinzip kann beispielsweise die Schnäppchenjägerei im Handel, wenn nicht sogar die Kaufsucht schlechthin erklärt werden. Ein tatsächlich eintretender Mangel an Handlungsfreiheiten muss dabei überhaupt nicht eintreten, da allein dessen Vorstellbarkeit handlungsleitend wird.

Eine gewisse Bedeutung in so einem Phänomen haben sicherlich Verbote aus der Vergangenheit des Individuums wie auch übernommene Bewertungen aus der Kommunikation mit anderen Personen. Anders ist kaum zu erklären, warum gruppendynamische Effekte entstehen, wenn sich beispielsweise Menschen an Wühltischen um Ware balgen, an der prinzipiell nie ein mangelndes Angebot herrscht.

Der umgekehrte Effekt im Sinne der erlernten Hilflosigkeit lässt sich beobachten, wenn ein Proband sich nicht nur in einem Überangebot zu keiner Wahl entschließen kann, sondern auch nicht bei einer absehbaren Knappheit, die bis hin zu einer persönlichen Notlage führen kann. So ein Zustand wird juristisch als Desorientierung interpretiert und führt mit Anwendung der Sozialgesetzgebung zur Betreuung, die als tatsächliche, temporäre Beschneidung von Freiheiten zum Wohle des Betreuten wirkt.

Beide o. g. Effekte sind hier an leicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen im Umgang mit materiellen Gütern beschrieben. Nicht weniger wahrscheinlich ist ihr Auftreten jedoch im Umgang mit ideellen Gütern, woraus sich eine politische Relevanz des Denkmodells ergibt.

Ausreichende Zusammenhänge mit dem o. g. Integrationsmodell sind jedoch noch nicht belegt.

Literarische Beispiele für reaktantes Verhalten

Ein berühmtes Beispiel in der Literaturgeschichte stellt eine Episode der Figur des Tom Sawyer dar. Die Figur stellt allerlei Blödsinn an. Der Junge, der bei seiner Tante Polly wohnt, versetzt sie so immer wieder in Angst und Schrecken. Zur Strafe bekommt er immer wieder leidige Arbeiten aufgebrummt, die ihn zu Anstand und Ordnung erziehen sollen. Eines Tages wird er, an einem wunderschönen Sommertag, dazu verdonnert, den hauseigenen Zaun zu tünchen.

Als der erste Freund bei Tom vorbeischlendert, bleibt der Spott natürlich nicht aus. Doch unser Held lässt sich nicht beeindrucken: Wer will denn schwimmen, wenn er die Chance bekommt, einen Zaun zu streichen! Mit allem nur möglichen Enthusiasmus vertieft sich Tom Sawyer in die Arbeit, trägt hier einen Pinselstrich auf, beäugt dort eine noch nicht perfekt getünchte Stelle. Sein Freund Ben ist ungläubig - und wird neugierig. Ob er vielleicht nicht auch mal ein wenig pinseln dürfe? Tom Sawyer guckt skeptisch: Könne Ben das denn überhaupt gut genug? Seine Tante Polly sei sehr kritisch in solchen Dingen ... Ben wird nervös. Er habe einen Apfel, den er Tom schenken könne! Tom windet sich ein wenig, schließlich willigt er ein. Am Ende des Tages hat er mehrere seiner Freunde davon überzeugt, dass sie nichts lieber wollen, als diesen einen Zaun zu streichen.

Er hat seinem Freund eine Option der Freizeitgestaltung schmackhaft gemacht, auf die er nicht im Traum verfallen wäre - wäre sie nicht so schwer zu erreichen gewesen. Erst dadurch, dass Tom auf seine kritische Tante verwies und damit unterschwellig andeutete, nur die Besten würden eine solche Aufgabe bewerkstelligen, konnte er Ben überzeugen. Mehr noch, der Freund zahlte sogar dafür, die Arbeit zu tun. Den Zaun zu streichen, erscheint nun als etwas ganz Besonderes - und die Tatsache, dass Tante Polly nicht jeden diese Arbeit tun lässt, macht die Möglichkeit nur noch attraktiver. Die Handlung des Zaunstreichens war plötzlich eine exklusive Option.

Die Geschichte von Romeo und Julia kann man ebenso bezogen auf die Reaktanztheorie interpretieren. Das Verbot und die sozialen Einschränkungen, die ihre Wahlfreiheit bezüglich eines Partners determinieren, macht sie füreinander umso attraktiver und motiviert sie, das Verbotene aufzusuchen („Romeo-und-Julia-Effekt“). So haben sie, trotz des tragischen Endes, ihre Freiheit (oder vielleicht auch nur eine Illusion dieser Freiheit) wiederhergestellt.

Siehe auch

Knappheitsprinzip

Literatur

  • Brehm, J.W., Theory of psychological reactance, New York, Academic Press, 1966
  • Brehm, J. W. et al., The attractivness of an eliminated choice alternative, Journal of Experimental Social Psychology, 2, 301-313, 1966.
  • Mazis, M. B. et al., Elimination of phosphate detergents and psychological reactance, Journal of Marketing Research, 10, 390-395, 1973
  • Wicklund, R. A. et al., Effects of implied pressure toward commitment on ratings of choice alternatives, Journal of Experimental Social Psychology, 6, 449-457, 1970.
  • Clee, M. A. & Wicklund, R. A., Consumer behavior and psychological reactance, Journal of Consumer Research, 6, 389-405, 1980.
  • Dickenberger, D., Gniech, G., Grabitz, H.J. (2002) Die Theorie der psychologischen Reaktanz. In Frey, D. & Irle, M. (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie (Band 1). Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber.
  • Brehm & Brehm (1981). Psychological Reactance: A Theory of Freedom and Control. New York: Academic Press
  • Brehm (1993). Control, Its Loss, and Psychological Reactance. In: Weary, Gleicher, Marsh (Hrsg.), Control Motivation and Social Cognition. Heidelberg: Springer Verlag
  • Grabitz-Gniech, Grabitz (1973). Psychologische Reaktanz: Theoretisches Konzept und experimentelle Untersuchungen. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 4, 19-35
  • Crawford, McConnell, Lewis, Sherman (2002). Reactance, Compliance, and Anticipated Regret. Journal of Experimental Social Psychology, Vol. 38, 56-63
  • Miron, Brehm (2006). Reactance Theory - 40 Years Later. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 1, 9-18
  • Schenk, H.-O., Psychologie im Handel, 2. Aufl., München-Wien 2007, ISBN 978-3-486-58379-3
  • Schwarzer (2000). Stress, Angst und Handlungsregulation. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 166-173

Einzelnachweise

  1. Frankl, Viktor E.: Theorie und Therapie der Neurosen, in: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München, 11. Aufl. 1999, S. 118 ff.

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