Reifenfüllgas

Reifenfüllgas

Statt Druckluft zur Füllung von Autoreifen wird Stickstoff als Reifengas oder Reifenfüllgas unter verschiedenen Handelsbezeichnungen von Reifenhändlern propagiert.

Reifengasgefüllter 155/80R13 aus dem Hause Michelin auf Opel Corsa

Übliche Warenzeichen für Reifengas sind „Nitralife Plus“,[1] „PneuLife“,[2] „SECURPNEUS“[3] und „Power Air“.[4] Entsprechend befüllte Reifen werden in der Regel mit grünen, gelben oder roten Ventilkappen gekennzeichnet.

Reifengas wird in Reifen von Verkehrsflugzeugen, Gefahrgut-Lkws, Fahrzeugen für Einsätze in Tunneln und Bergwerken und Formel 1-Fahrzeugen eingesetzt, um z. B. eine Gefahr der Brandentwicklung und -förderung bei einem platzenden Reifen zu minimieren bzw. eine Selbstentzündung durch einen defekten oder durch einen mit erheblich zu geringem Luftdruck betriebenen Reifen oder eine überhitzte Bremsanlage zu verhindern. Dieser Vorteil ist auf normale Pkw-Reifen nicht übertragbar. Nutzfahrzeugreifen an Lastkraftwagen sind erheblich höheren Belastungen ausgesetzt (bei normalen Lkw bis zu 13.000 kg zulässiges Gesamtgewicht je Reifen) und die Reibung ist höher. Ein defekter Reifen oder eine festsitzende Bremse an einem einzelnen Rad (insbesondere am Auflieger oder Anhänger) ist durch die größere Anzahl an Achsen und Reifen auch während der Fahrt für den Fahrer weniger auffällig. Der Reifeninnendruck (üblicherweise zwischen 7 und 10 bar) und die Luftfüllmenge ist im Vergleich zu Pkw-Reifen wesentlich höher, es sind mehr stark brandgefährdeten Materialien in großer Menge am Lkw vorhanden (Bordwände aus Holz, Plane u. ä.) und bei Gefahrguttransporten sind besonders strenge Sicherheitsvorschriften zur Risikenminimierung einzuhalten. Bei Verkehrsflugzeugen entstehen durch die Landung sehr starke Belastungen an den Rädern, da diese beim Aufsetzen auf der Landebahn in sehr kurzer Zeit sehr stark beschleunigt werden.

Inhaltsverzeichnis

Zusammensetzung

Das „Reifengas“ besitzt einen erhöhten Stickstoff-Anteil zwischen 85 bis 99 %, der in normaler Druckluft bei 78 % liegt. Alternativ wird Industriegas aus großtechnischer Produktion verwendet.

Bis etwa zum Jahr 2000 wurde zudem eine Befüllung der Reifen mit SF6 (Schwefelhexafluorid) angeboten. Diese Befüllungen waren jedoch mit rund 100 DM (umgerechnet 51 ) pro Reifensatz vergleichsweise teuer. Zudem ist SF6 als stärkstes bekanntes Treibhausgas in erheblichem Umfang umweltschädlich und auch aus technischer Sicht umstritten.[5] Seit dem 4. Juli 2007 darf SF6 in der Europäischen Union gemäß der „Verordnung (EG) Nr. 842/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über bestimmte fluorierte Treibhausgase“ nicht mehr zum Befüllen von Fahrzeugreifen verwendet werden. In der Schweiz ist diese Anwendung seit 2004 verboten (StoV).

Argumente für Reifengas

Geworben wird unter anderem mit

  • Verringerung der Osmose des Sauerstoffs durch den Reifen
  • Beständigkeit des Reifendrucks bei unterschiedlichen Temperaturen
  • Verbesserung des Fahrkomforts hinsichtlich Federung und Abrollgeräusch
  • Verbrauchsreduzierung durch geringeren Abrollwiderstand des Reifens
  • keine Öldämpfe im Reifengas, dadurch verbesserte Haltbarkeit des Reifens
  • keine Feuchtigkeit im Reifengas, dadurch Verringerung von Rost an Felge und Ventil
  • geringeres Brandrisiko bei Überhitzung, da sich mangels Sauerstoffs innerhalb des Reifens kein zündfähiges Gemisch bilden kann.
  • Händler und Tankstellen versprechen sich von dem Produkt eine Steigerung der Erträge im Reifenhandel sowie eine bessere Kundenbindung. Indirekt ergeben sich daraus potentielle Wettbewerbsvorteile.

Durch diese „spezielle“ Befüllung wird der Kunde motiviert, zur Reifendruck-Prüfung und Nachfüllung seinen Fachhändler aufzusuchen, da „Reifengas“ nur an wenigen Tankstellen verfügbar ist. Reifengas ist daher nicht nur eine Möglichkeit für den Fachhandel, durch den Verkauf des Gases selbst Umsätze zu generieren, es ist vielmehr ein effektives Mittel zur Kundenbindung und Verkaufsförderung.

Argumente gegen Reifengas

Die technische Argumentation „pro Reifengas“ wird mit folgenden Argumenten kritisiert:

  • Der „Reifengas-Effekt“ wird auch ohne die teure Sonderbefüllung erreicht.
    Die „normale Druckluft“ besteht zu 78 % aus Stickstoff. Wenn diese Luft schneller durch die Reifendecke diffundiert, dann handelt es sich bei den leicht flüchtigen Anteilen um die 21 % Sauerstoffmoleküle. Dieser Anteil sollte dann nach kurzer Zeit bereits herausdiffundiert sein, der Stickstoff bleibt zurück. Durch das dann immer nur geringfügige Nachfüllen wird der Stickstoffanteil innerhalb kurzer Zeit stark ansteigen. (Diese Argumentation setzt voraus, dass der „Reifengaseffekt“ überhaupt existiert)
Reifendruck in Abhängigkeit von der Temperatur
  • Reifendruck bei unterschiedlichen Temperaturen nicht konstanter.
    Bei Drücken im Bereich weniger bar (d. h. auch bei 10 bar im LKW-Reifen) und realen Temperaturen (-50 °C bis +150 °C) verhalten sich alle Gase als nahezu Ideale Gase, ganz gleich, ob es sich nun um 100 % Stickstoff oder lediglich um 78-prozentigen Stickstoff (= Luft) handelt.
  • Nach der Befüllung mit Reifengas steigt der Stickstoff-Anteil nur von 78 % auf 93 %.
    Ein PKW-Reifen wird mit rund 2 bar Überdruck befüllt. Der Umgebungsdruck (vor der Befüllung) beträgt 1 bar, der Druck wird also verdreifacht. Es wird bildlich gesprochen die doppelte Menge Gas in den Reifen gepumpt, die nach dem Aufziehen auf die Felge schon im drucklosen Reifen vorhanden war. Da der Reifen bei der Befüllung mit Reifengas weder evakuiert, noch unter Schutzatmosphäre gespült wird, enthält der Reifen nach der Befüllung 66 % Reifengas und 33 % Luft, der Stickstoff-Anteil steigt also lediglich um etwa 15 % an.
  • Druckverlust bei Sauerstoff sei geringer als bei Stickstoff.
    In der Verwendung als Füllgas unterscheiden sich Sauerstoff und Stickstoff nur geringfügig. Stickstoff ist mit 28 g/mol etwas leichter als Sauerstoff mit 32 g/mol; die Bindungslänge von Stickstoff beträgt 109,8 pm, die von Sauerstoff ist mit 121 pm länger. Daraus leitet sich ab, dass der Stoßquerschnitt von Stickstoff sogar kleiner ist als der von Sauerstoff. Dieser ist relevant für die Diffusionsgeschwindigkeit nach Knudsen. Stickstoff diffundiert somit um ein paar Prozente schneller durch kleinste Kapillaren des Gummis als Sauerstoff. Allerdings verbindet sich Sauerstoff schneller mit Gummi als Stickstoff. Eine Befüllung mit reinem Sauerstoff wäre für Reifengummi (Alterung) und Felge (Oxidation, Korrosion) schädlich.
  • Roll- bzw. Federungseigenschaften sind nicht zu unterscheiden.
    Bei den vergleichsweise niedrigen Drücken in Kfz-Reifen verhalten sich sowohl Sauerstoff- wie Stickstoffmoleküle als nahezu ideale Gase und damit im Bereich weniger Promille identisch.
  • Bezug auf Luftfahrt und Formel 1 nicht praxisrelevant.
    Die im Formel 1-Sport und landenden Flugzeugen auftretenden Temperaturbelastungen der Reifen werden im Straßenverkehr nicht erreicht. Im Straßenverkehr ergibt sich für die Reifen ein Brandrisiko allenfalls durch Reifenüberhitzung in Folge zu geringen Druckes und der daraus resultierenden Walkarbeit, bei LKWs zudem an gezogenen Achsen bei fortgesetzt blockierenden Bremsen. Diese Risiken vermag die Reifengasbefüllung jedoch nicht zu verhindern.
  • Öl und Wasser haben auch in normaler Druckluft nichts zu suchen.
    Das Argument des Fachhändlers "Reifengas ist frei von Öldampf und Feuchtigkeit" bedeutet im Umkehrschluss "Unsere normale Druckluftanlage ist mangelhaft. Wasser- und Ölabscheider sind defekt" und erklärt, warum in Diskussionsforen auf die Frage "Mein Reifenhändler bietet mir Reifengas an, was soll ich tun?" eine der Standardantworten lautet: "Einen anderen Reifenhändler aufsuchen".
  • Der Druckverlust durch Diffusion durch das Gummi hat keine Praxisrelevanz.
    Für den Druckverlust durch Diffusion sind die Inspektions-Intervalle des Fahrzeugs ausreichend. Relevanter Druckverlust rührt in der Praxis von defekten Ventilen oder Defekten am Felgenhorn. Zudem schützt das Reifengas nicht vor mechanischen Verletzungen der Reifen wie Schnitten oder eingefahrenen Nägeln.
  • Reifengas schadet zwar nicht, nutzt aber lediglich dem Gewinn des Reifenhändlers.
  • Reifengas entbindet nicht von der regelmäßigen Reifendruck-Kontrolle.

Darüber hinaus sind bisher keine nachprüfbaren Vorteile bekannt, die reinen Stickstoff gegenüber der üblichen Füllung mit normaler Luft in Fahrzeugreifen für den Straßenverkehr rechtfertigen.

Quellen

  1. airliquide.at NITRALiFE™ PLUS Reifenfüllgas von Air Liquide
  2. dwt-gmbh.de - PneuLife von DWT
  3. securpneus.de SECUR PNEUS von rymgas
  4. vergoelst.de Power Air von Vergölst
  5. volkswagen-umwelt.de Volkswagen rät von der Verwendung von SF6 ab

Weblinks


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