Ruhrpole

Ruhrpole
Inschrift der Polnischen Arbeiterbank, Klosterstr. 2, Bochum
Bank Robotników e.G.m.b.H.

Mit Ruhrpolen sind die Menschen gemeint, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts teils mit ihren Familien aus Polen ins Ruhrgebiet eingewandert sind und dort meist als Bergleute gearbeitet haben, sowie ihre Nachfahren.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Voraussetzungen

Im 19. Jahrhundert existierte kein souveräner polnischer Staat. Bereits im 18. Jahrhundert war Polen in drei Schritten ("Drei Teilungen Polens") geteilt worden. Seit der 3. Polnischen Teilung 1795 war Polen komplett zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt, d. h. es gab drei Bereiche, die dem österreichischen, russischen und preußischen Herrschaftsbereich zugeordnet wurden. Seitdem gab es in den Ostprovinzen Preußens Regionen mit überwiegend polnisch-sprachiger Bevölkerung und Regionen mit starken polnischen Minderheiten (auch wenn das Zeitalter Napoleons und der Wiener Kongress noch einige Veränderungen mit sich brachten). Seit 1871 waren diese Provinzen Teile der Ostgebiete des damaligen Deutschen Reiches.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die Industrialisierung auch in Deutschland zu tiefgreifenden Veränderungen. In den Schwerpunktsgebieten der Industrialisierung wuchs der Bedarf an Arbeitskräften stark an. Das trifft insbesondere auf das Ruhrgebiet zu.

Entwicklung

Durch den stark steigenden Bedarf an Arbeitskräften wanderten viele Menschen ins Ruhrgebiet. Neben Menschen aus dem unmittelbaren ländlichen Umfeld zogen auch Menschen aus ferner gelegenen Regionen zu, um in der Industrie zu arbeiten. Darunter waren viele aus den Ostprovinzen Preußens, so dass auch unter den inländischen Zuwanderern in die industriellen Ballungszentren viele Menschen waren, die polnisch sprachen und sich als Polen fühlten. Gleichzeitig fand auch eine Zuwanderung aus dem vor allem östlichen Ausland statt. Darunter waren wiederum viele Polen.

Ab 1880 verstärkte sich die Ost-West-Wanderung aus dem preußischen Osten ins Ruhrgebiet. Die Arbeiter aus dem deutschen, österreich-ungarischen und russischen Polen gewannen immer mehr an Attraktivität für Industrie und Landwirtschaft. Polnische Saisonarbeiter arbeiteten in der Industrie, vor allem in Bergbau, Hüttenwesen, Baugewerbe und Ziegelherstellung, sowie im Osten in der Landwirtschaft. Insbesondere die ostelbischen Güter verlegten sich immer mehr auf die ca. 400.000 Billiglohnkräfte. Die Pendler waren ungelernt, saisonal, leisteten längere Arbeitszeiten und erhielten niedrigere Löhne als die deutschen Arbeitskräfte. Funktional dienten die polnischen Saisonarbeiter oft als Lohndrücker und Streikbrecher. 1890 führte die preußische Verwaltung das Regelwerk "Karenzzeit" ein, welches die Zuwanderer verbindlich zwang, nach Ablauf der Saison das Land zu verlassen. (Mark Terkessidis, 2000)

Während gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Auswanderung Deutscher rückläufig war, zogen Menschen nicht-deutscher Herkunft nach Deutschland zu. Die Arbeitsmigration entstand aus der Nachfrage nach Arbeitskräften während der Industrialisierung. 1871 zogen nach dem deutsch-französischen Krieg Bergarbeiter aus Oberschlesien, polnische Landarbeiter aus Ost- und Westpreußen sowie aus Posen ins Ruhrgebiet und verwandelten es in eine "polnische Kolonie". Die Zechenunternehmer konnten damit den sprunghaft gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften im Ruhrbergbau decken. Die deutsche Arbeiterschaft nahm die "Ruhrpolen" als fremd wahr, wegen ihrer zum Teil streng katholischen Konfession und ihrer ungewohnten Sprache. Folglich bildeten die Polen ein eigenständiges Arbeitermilieu in den Städten des Ruhrgebiets, hauptsächlich in Essen, Dortmund und Gelsenkirchen. So wurden z. B. in Bochum komplett eigenständige Strukturen geschaffen wie die einflussreiche polnische Gewerkschaft Federacja ZZP, die Arbeiterzeitung Wiarus Polski und die Polnische Arbeiterbank.

Vor der polnischen Einwanderungswelle waren nur wenige deutsche Arbeitslose dazu bereit, im ehemals kaum besiedelten Ruhrgebiet zu arbeiten. Die meisten sich dort ansiedelnden Deutschen kamen aus Oberschlesien. Das Zusammenspiel der verschiedenartigen Traditionen brachte die industrielle Kultur hervor, für die das Ruhrgebiet noch heute bekannt ist. Die Assimilation gelang komplett; die staatliche Politik wies stark antipolnische Züge auf. Da die polnische Sprache nicht gepflegt wurde, sind die Nachkommen der Einwanderer heute außer an den vielen polnischen Nachnamen im Ruhrgebiet und einigen letzten kulturellen Resten kaum noch von der angestammten Bevölkerung zu unterscheiden.

Beispiel: Die Geschichte des FC Schalke 04

Der bekannte Gelsenkirchener Fußballverein FC Schalke 04 wäre ohne die Ruhrpolen nicht das geworden, was er heute ist. Wie der Fußball allgemein zu seiner Anfangszeit, so war auch Schalke 04 zunächst ein Verein, der sich mit diesem Sport bürgerlichen Schichten der Bevölkerung zuwandte. Erst in den 1920er Jahren begannen die Jugendtrainer des Klubs, die große Begeisterung für den Fußball und das große Potential in der Arbeiterklasse zu beachten. Sie gingen gezielt in den Gelsenkirchener Zechensiedlungen auf Talentsuche. Diese waren hauptsächlich von den polnischen Einwanderern bzw. ihren Kindern und Enkeln bewohnt. Dort stießen sie schließlich auf die goldene Generation des Vereins, eine Reihe von Jungen, die in den 30er und 40er Jahren den "Schalker Kreisel" (eine Bezeichnung für schnellen, temporeichen Offensivfußball mit vielen Pässen) bilden sollten und 6 deutsche Meisterschaften errangen. Ihre bekanntesten Namen sind Szepan und Kuzorra. Neben den beiden standen weitere Spieler polnischer Abstammung auf dem Platz: Tibulsky, Kalwitzki, Burdenski, Przybylski, Czerwinski, Urban, Zajons und so weiter. Neider und Rivalen gaben Schalke deshalb den Beinamen "Proleten- und Polackenverein". Gerüchte, Legenden und Anekdoten gibt es bis heute über diese Zeit. So titelten polnische Zeitschriften tatsächlich, dass Polen deutsche Fußballmeister wurden, und der polnische Fußballverband soll bei Szepan und Kuzorra angefragt haben, ob diese beiden nicht für die polnische Nationalmannschaft auflaufen wollten. Dem Verein und einigen Spielern war das alles eher unangenehm, speziell aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft. Schalke 04 brachte ein Rundschreiben mit dem Titel "Schluss mit polnischen Gerüchten" heraus. Darin waren Stammbäume der Spieler verzeichnet, welche zeigen sollten, dass alle Spieler und ihre Eltern im damaligen Deutschland oder im Kaiserreich bzw. Preußen geboren wurden. Dabei wurde nicht beachtet, dass es bis 1918 mehr als 100 Jahre lang keinen polnischen Staat gab und die deutschen Ostgebiete ehemals polnisch waren und deswegen dort seit jeher Polen wohnten. Ernst Kuzorras Mutter soll zum Beispiel ihr Leben lang nur wenige Worte deutsch gesprochen haben. Den Nazis war der "polnische" FC Schalke 04 aber scheinbar erstaunlich gleichgültig. Sie erkannten in dem sensationallen Erfolg des Arbeitervereins große Möglichkeiten für ihre Propaganda. Fritz Szepan wurde zu einem Profiteur des Regimes und übernahm ein ehemaliges jüdisches Kaufhaus in der Stadt. Im weiteren Verlauf der Geschichte des Vereins tauchten immer wieder große Spieler mit polnischen Namen auf, ob nun Spieler aus Gelsenkirchen selbst oder dem übrigen Ruhrgebiet, wie die Brüder Abramczik oder "Stan" Libuda.

Zahlen

1871 lebten im Ruhrgebiet 536.000 Menschen, 1910 waren es bereits drei Millionen. Eine halbe Million waren polnischer Herkunft.

Schätzungen gehen davon aus, dass ca. ein Drittel der 5,3 Millionen Menschen des Ruhrgebiets polnische Wurzeln hat. Dazu zählen die Nachkommen der Ruhrpolen ebenso wie die dort lebenden Auslandspolen und Polen, die erst nach dem 2. Weltkrieg emigrierten (große Wellen in den 1980er Jahren und nach der Wende) und die deutsche oder doppelte Staatsbürgerschaft erhielten, da ihre Familie vor dem Krieg in den ehemaligen deutschen Ostgebieten Reichsbürger waren. Diese letzten polnischen Auswanderer suchten sich gezielt das Ruhrgebiet aus, da es eine polnische Tradition aufwies. Mit ihnen kamen nach 1945 auch Deutschstämmige als Spätaussiedler aus den ehemaligen Ostgebieten, die sich dort einer Vertreibung verwehrt hatten. Damit ist das Ruhrgebiet theoretisch die größte polnische Gemeinschaft außerhalb Polens.

Aus heutiger Sicht muss man bei diesen Zahlen beachten, dass einige polnische Einwanderer im Zuge der antipolnischen Politik und "Germanisierung" ihre Nachnamen "eindeutschen" ließen. Dies geschah oft nicht nur in der Schreibweise, wie wenn Szymanski (im Polnischen noch mit Akzent auf dem "n") zu Schimanski wurde, sondern auch durch komplette Namensänderungen ins Deutsche. So wurde aus dem ehemaligen Schalker Fußballspieler Czerwinski (Mitglied des legendären "Schalker Kreisels" um Ernst Kuzorra und Fritz Szepan), im Laufe der 1930er Jahre Rothardt.

Beispiel Bottrop

Bottrops Gemeinde zählte im Jahr 1875 6.600 Einwohner, bis 1900 vervierfachte sich die Zahl, 40 Prozent der Bevölkerung waren polnischer Abstammung. 1915 wiederum zählte Bottrop 69.000 Einwohner, die einheimische westfälische Wohnbevölkerung stellte die Minderheit dar. 1911 stellen die Migranten 36 Prozent der Belegschaften der Zechen. (Heckmann 1992:19).

Siehe auch

Literatur

  • Wilhelm Brepohl: Der Aufbau des Ruhrvolks, 1948
  • Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheit, Volk und Nation, Stuttgart 1993
  • Christoph Kleßmann: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet: 1870–1945, Göttingen 1978, ISBN 3-525-35982-9
  • Bernd Seeberger: Altern in der Migration – Gastarbeiter ohne Rückkehr, Köln 1998
  • Mark Terkessidis: Migranten, EVA, 2000
  • Dahlmann u. a. (Hg.): Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen Reichsgründung und Zweitem Weltkrieg, Essen 2005, ISBN 3-89861-689-4

Weblinks


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