Scham- und Schuldkultur

Scham- und Schuldkultur

Die Gegenüberstellung der Begriffe Schamkultur, die vornehmlich dem nahen und fernen Osten zugeschrieben wird, und Schuldkultur, die Teilen der westlichen Welt zugeschrieben wird, wurde durch die US-amerikanische Kulturanthropologin und Vertreterin des Kulturrelativismus Ruth Benedict etabliert. In ihrer während des Pazifikkriegs geschriebenen, 1946 erschienenen Studie über die Kultur Japans, Chrysantheme und Schwert, ordnet sie die japanische Kultur den Schamkulturen zu. Benedict zufolge beruhen „Schamkulturen“ auf einer äußeren Instanz, welche Fehlverhalten sanktioniere. Schamgefühle würden als Reaktion auf Kritik oder Bloßstellung von außen entstehen. In einer „Schuldkultur“ sei dagegen diese Autorität verinnerlicht. Schuldgefühle entstehen im Selbst, welches sich in eine schuldige und eine beschuldigende Instanz aufspalte.[1]

Teils werden auch in neueren Studien versucht, Gegenwartskulturen in Scham- und Schuldkulturen einzuteilen. So gelten heutige Kulturen der östlichen Mittelmeerländer sowie Japan und China häufig als Schamkulturen, während die Vereinigten Staaten, England und andere protestantische Länder zu den Schuldkulturen gezählt werden. Diese Kategorisierung sind in der Forschung jedoch umstritten, etwa da ihnen unterschwellig Wertungen zugrunde liegen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Kulturelle Schuld- und Schamorientierungen

Seit dem Standardwerk von Ruth Benedicts Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur wurde häufig die These vertreten, dass das „östliche“ Denken, insbesondere die ostasiatische Kultur, aber auch die nicht-westliche Kultur insgesamt, im Unterschied zur westlichen „Schuld-Kultur“ wesentlich durch eine „Scham-Kultur“ geprägt sei. Dem westlichen „Pattern“ (Muster) des Schuldbewusstseins stehe das östliche „Schamgefühl“ als kulturkonstitutives „Pattern“ der Konfliktverarbeitung gegenüber. Im „westlichen“ Denken schließe im Falle des Verstoßes gegen ein gültiges moralisches Gebot ein Schuld-Diskurs an. Im Falle des Verstoßes gegen ein gültiges moralisches Gebot oder gegen geltendes Recht würde von Schuld der handelnden Person ausgegangen, wenn diese das Gebot oder Gesetz kannte oder hätte kennen müssen und es in ihrer Macht lag, das Gebot oder Gesetz zu befolgen. Der Schuldvorwurf gelte in moralischen und rechtlichen Kontexten als eine wesentliche Voraussetzung für die Zuschreibung von Verantwortung sowie für die Bewertung des Handelns wie Lob, Tadel und Strafe.[2]

Der Jurist und Philosoph Paul Tiedemann wies darauf hin, dass die Unterscheidung in Scham- und Schuldkulturen „hochgradig projektiv“ sei. Sie beruhe auf der „irrigen“ Annahme, dass Angehörige asiatischer und afrikanischer Kulturen ausschließlich außengeleitet und diese keine Verinnerlichung von Werten oder Gewissen kenne. Selbst Benedict hatte eine strikte Trennung von Scham- und Schuldkulturen als „Übertreibung“ klassifiziert. Richtig sei zwar, dass Werte wie individuelle Selbstbestimmheit in der westlichen Kultur eine große Bedeutung haben und in den östlichen Kulturen „der Wert der Anpassung und Harmonie mit den Zielen und Werten der Gemeinschaft betont wird“, beide Wertesysteme werden jedoch gleichermaßen internalisiert.[3]

Nach der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien bestehe die Unterscheidung zwischen Schuld- und Schamkulturen in der Frage, ob der Affekt durch Konfession, Buße oder auferlegte Sanktionen verarbeitet werden kann. So sei dies in Schuldkulturen möglich, in Schamkulturen jedoch nicht. Ein Gesichtsverlust sei daher im alten Japan irreversibel gewesen. Ebenso war die archaische Zeit Homers eine Schamkultur, „die sich bis zum Jahrhundert der antiken Tragiker in eine Schuldkultur wandelt.“ Nach dem Altphilologen Eric R. Dodds lebten die Figuren in den Epen Homers in konstanter Furcht vor öffentlicher Missbilligung, gefürchtet wurde weniger die Bestrafung durch die Götter als durch die soziale Umwelt. Das gesellschaftliche Ansehen stelle – so Benthien – „den größten Wert und die üble Nachrede eine existenzielle, oft irreversible Schädigung dar“. Das Christentum ließe sich nicht eindeutig zuordnen: „Während das Alte Testament grundsätzlich schamkulturell ist, beruhen das Neue Testament und die neuzeitliche, insbesondere lutherische Theologie eher auf einem schuldkulturellem Denken.“[1]

Der evangelikale Theologe Thomas Schirrmacher vertritt die These, das die „westliche[n] Welt derzeit das Ende der bisher umfassendsten Schuldkultur der Geschichte und einen Rückfall in eine auf reine Außenwahrnehmung des Menschen orientierte Schamkultur“ erlebe. In der Schuldkultur sei „das Gewissen und ein vorgegebener Maßstab entscheidend, in der Schamkultur ist der Maßstab die Gesellschaft“. Jede Schuldkultur würde jedoch Elemente der Schamkultur enthalten und umgekehrt, eine „strikte Trennung der beiden“ sei unmöglich. Nach Schirrmacher gelten folgende Grundprinzipien:[4]

  • In der Schamkultur gelte die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut
  • In der Schuldkultur gelte die Sorge des Menschen der Sühnung seiner Schuld

Nach dem evangelikalen Missionsforscher und Theologen Klaus W. Müller läge folgende Schuld- und Schamorientierung vor: [5]

schuldorientiert schamorientiert
Ausgangspunkt der Prägung
Kleine Zahl von prägenden Personen, genau definiert: Eltern (Basisfamilie) Große Zahl von prägenden Personen (Großfamilie), ungenau definiert: Eltern, Verwandte, Fremde; Geistwesen
Strukturbildung der Verhaltensmaßstäbe
Verhaltensmaßstäbe werden von den prägenden Personen übernommen, das Gewissen bildet sich heraus Verhaltensmaßstäbe werden von den prägenden Personen übernommen, das Gewissen bildet sich heraus
Manifestierung der Normenvorstellungen
In sich selbst, das eigene Gewissen ist (intrinsische) Normüberwachung Andere Personen oder Geister/Götter sind Autoritäten zur (Fremd-) Überwachung der Normen
Reaktion bei geplanter Normverletzung
Signal des Gewissens, dass die geplante Tat eine Normverletzung darstellen wird, worauf ein Abwehrmechanismus aktiviert wird Signal des Gewissens, dass die geplante Tat eine Normverletzung darstellen wird, worauf ein Abwehrmechanismus aktiviert wird
Reaktion bei tatsächlicher Normverletzung
Störung des inneren Gleichgewichtes von innen heraus, es wird sofort ein Schuldgefühl erlebt, das zugleich als Bestrafung empfunden wird. Im Bewusstsein dessen wird ein Entlastungsmechanismus gestartet. Störung des inneren Gleichgewichtes von außen im Falle, dass die Tat anderen als nicht normativ richtig bewusst wird, es wird sofort nach Bewusstwerden dieses externen Bewusstwerdens der Normverletzung ein Schamgefühl erlebt, das als Bestrafung empfunden wird. Das wiederum aktiviert einen Abwehrmechanismus, der sich hauptsächlich gegen die externe Wertung richtet, worauf ein Entlastungsmechanismus folgt.
Ergebnis der Schuld- und Schamerlebnisse
Ein funktionsfähiges Gewissen (Superego) führt zum inneren Gleichgewicht zurück. Ein funktionsfähiges Gewissen (Superego) führt zum inneren Gleichgewicht zurück.

Beispiele

Nach den Mechanismen von Schamkulturen würden viele Gruppierungen funktionieren. So auch im Nationalsozialismus, wie im Forschungsprojekt „Geschichte und Erinnerung“ durch die Analyse von Interviews mit NS-Anhängern deutlich wurde.[6] Katherine Mangu-Ward sieht eine "Lob-/Scham-Ökonomie" als grundlegend für die soziale Funktionsweise der Wikipedia an.[7]

Einzelnachweise

  1. a b c Die Macht archaischer Gefühle Claudia Benthien in Wiener Zeitung vom 15. April 2006
  2. vgl. Georg Mohr: Schuld und Scham aus interkultureller Perspektive, Universität Bremen 2007
  3. Paul Tiedemann: Menschenwürde als Rechtsbegriff, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2007 S.309 hier online
  4. Thomas Schirrmacher: Kolumne: Scham- und Schuldkultur, Professorenforum – Journal 2002, Vol. 3, No. 3. 2002, abgerufen am 22. Januar 2011 (deutsch).
  5. „Elenktik: Die Lehre vom scham- und schuldorientierten Gewissen“, evangelikale missiologie 12 (1996), S. 98-110
  6. Stephan Marks: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf.
  7. Katherine Mangu-Ward: Wikipedia and Beyond. Jimmy Wales´ sprawling vision. Juni 2007, abgerufen am 22. Mai 2008 (englisch).

Literatur

  • Ruth Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3518120149.
  • T. P. Schirrmacher, Kolumne: Scham- und Schuldkultur, Professorenforum – Journal 2002, Vol. 3, No. 3
  • Stephan Marks (2006). Zur Funktion von Scham und Schamabwehr im Nationalsozialismus. In: Georg Schönbächler (Hg.): Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse. Zürich: Collegium Helveticum Heft 2, S. 51-56.
  • Stephan Marks (2007). Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf.

Weblinks


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