Schamschwelle

Schamschwelle

Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das sowohl durch Verletzung der Intimsphäre auftreten als auch auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben. Das Schamgefühl ist häufig von vegetativen Erscheinungen wie Erröten oder Herzklopfen (Palpitation) begleitet und kann durch typische Reaktionen wie das Senken des Blickes ausgedrückt werden. Die Intensität der Empfindung reicht von der flüchtigen Anwandlung bis zur tiefsten Beklommenheit und geradezu tödlichen Scham.

Scham tritt zum Beispiel bei empfundener Entblößung oder einem Achtungsverlust im sozialen Umfeld auf. Sie kann auch durch Verfehlungen oder empfundene Unzulänglichkeit (Peinlichkeit) Anderer ausgelöst werden, die einem gemeinschaftlich verbunden sind; ein klassisches Beispiel ist hier, dass sich Kinder beim Schulfest wegen ihrer Eltern genieren.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Das deutsche Wort Scham leitet sich gleichbedeutend von althochdeutsch scama bzw. altsächsisch skama ab und geht zurück auf germanisch *skamo (vgl. auch engl. shame).[1] Die weitere Abstammung des germanischen Wortes ist nicht abschließend bekannt, eine indogermanische Wurzel nicht gesichert.

Soziologie

Soziologisch kennen alle Gesellschaften – zum Teil höchst unterschiedliche – Gegenstände der Scham, sind also „Schamgesellschaften“, während nur einige „Schuldgesellschaften“ sind. Ein typisches Beispiel für ein Schamgefühl ist die empfundene Nacktheit, also die Unterschreitung einer Mindestgrenze an körperlicher Bedeckung; dies kann von einer Schnur zur Bedeckung der Geschlechtsorgane bis zur völligen Bedeckung des Körpers im Falle einer Burka reichen.

Das schlimmste Vergehen in einer Schamkultur besteht darin, sich nicht zu schämen, wenn man sich schämen sollte. Die Übertretung der gesellschaftlich sanktionierten Schamgrenze wird mit Gesichtsverlust bestraft. Um ihn zu vermeiden, muss man „Haltung“ bewahren.

Das gezielte Auslösung von Schamgefühlen anderer in erzieherischer oder feindseliger Absicht, die Demütigung, ist in allen Gemeinschaften eine scharfe negative soziale Sanktion.

Norbert Elias hat 1939 in Über den Prozess der Zivilisation das „Vorrücken der Schamschwelle“ als wesentliches Element der „Zivilisation“ seit dem Mittelalter erfolgreich zu einem soziologischen Schlüsselbegriff gemacht, indem er in der Scham ein wesentliches Kriterium für die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge sah.

Hans Peter Duerr hat in einem sich prononciert gegen Elias wendenden Werk Der Mythos vom Zivilisationsprozess vor allem im ersten Band Nacktheit und Scham nachzuweisen versucht, dass eine niedrige Schamschwelle gerade eine sehr hohe Zivilisierung voraussetze und nur in einem streng konventionalisierten Rahmen möglich werde. Er sieht gegenwärtig einen Bedeutungsverlust der Scham.[2]

Philosophie

In der existentialistischen Philosophie des frühen Sartre (L'être et le néant, 1943, dt. Das Sein und das Nichts) offenbart sich in der Scham das grundlegende Faktum des „Für-Andere-Seins“ als der Selbstentfremdung bzw. Verdinglichung, die das „Für-sich“ in der konfliktuösen Begegnung mit dem Anderen erleidet; Scham ist insbesondere Anerkennung der Tatsache, dass ich so bin, wie der Andere mich sieht.

Tiefenpsychologie

Sigmund Freud scheint dem Phänomen der Scham nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben; sie gilt ihm im Wesentlichen neben dem Ekel als Reaktionsbildung gegen die anarchische Äußerung infantiler Sexualität, speziell exhibitionistischer bzw. voyeuristischer Triebimpulse.[3]

Der Freud-Schüler Erik H. Erikson situiert in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung Scham und Zweifel als Effekte einer misslingenden Lernerfahrung „Autonomie“ des zwei- bis dreijährigen Kindes in der „analen Phase“ (Stufe II seines Modells).[4] Scham tritt hier in Gegensatz zum Stolz über gemeisterte Entwicklungsschritte. Erikson deutet Scham als sekundär gegen das Ich gerichteten Zorn: „Der Schamerfüllte möchte (...) die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen (...) Er würde am liebsten die Augen aller Anderen zerstören. Statt dessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.[5]

Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die Psychoanalyse verstärkt dem Thema zugewandt, um nicht zuletzt die Bedeutsamkeit von Schamkonflikten und traumatischen Schamerfahrungen für schwerste Pathologien (Dissoziale Persönlichkeit, Sucht, sog. Borderline-Störungen, Schizophrenie) nachzuweisen. Wegweisend sind hier insbesondere die Arbeiten von Léon Wurmser.[6]

Religion

Für Abrahamitische Religionen (Judentum, Christentum, Islam) ist die Scham ein Ergebnis des Sündenfalls (vgl. Adam und Eva) und wird daher als Teil der Menschwerdung angesehen.

Kunst

Lucretia, den Dolch in der Rechten
Kupferstich von Marcantonio Raimondi, ~1511

Das Schamgefühl wird in Literatur und Bildender Kunst vielfach behandelt.

Klassisches und häufig aufgenommenes Motiv vor allem der Malerei ist der Selbstmord aus Scham der Lucretia.

Bekannt dürfte das Beispiel des Kunstmärchens Des Kaisers neue Kleider aus dem 19. Jh. sein: Hans Christian Andersen erzählt darin von der Macht der Scham im Verbund mit der Eitelkeit.

Schamkonflikte sind auch ein regelmäßiges Motiv etwa des Erzählwerks Arthur Schnitzlers; in Leutnant Gustl oder Fräulein Else wird ein Scham- bzw. Ehrkonflikt der Hauptperson in inneren Monologen ausgestaltet.

Siehe auch

Literatur

  • Ruth Benedict, Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3518120149
  • Eva-Maria Engelen: Eine kurze Geschichte von 'Zorn' und 'Scham', in: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008).
  • Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus: Drei Aufsätze, Frankfurt am Main 2008 (Neuauflage)
  • Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2000
  • Friedrich Kirchner: „Scham“, in: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 5. Auflage. Dürr, Leipzig 1907
  • Rolf Kühn u. a. (Hgg.), Scham - ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997
  • Michael Lewis, Scham. Annäherung an ein Tabu; aus d. Amerikanischen v. R. Höner. Knaur, München 1995
  • Stephan Marks, Scham, die tabuisierte Emotion, Patmos Verlag, 2007
  • Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York 1991
  • Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1993
  • Max Scheler, Über Scham und Schamgefühl (1913). In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Francke, Bern 1957, S. 67-154
  • Ariane Schorn, Scham und Öffentlichkeit. Genese und Dynamik von Scham- und Identitätskonflikten in der Kulturarbeit. Roderer, Regensburg 1996, ISBN 3-89073-951-2
  • Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1993

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 24. Auflage 2002
  2. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, 5 Bde., 1988-2002
  3. vgl. S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie Frankfurt am Main 1989, S.53. Zum Thema „Scham“ in der Psychoanalyse vgl. : D. Strassberg: Scham als Problem der psychoanalytischen Theorie und Praxis[1]
  4. vgl. Erik H. Erikson, Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, in: Ders., Identität und Lebenszyklus, Ffm. 2008
  5. Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1999, S. 243 ff.
  6. Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer. Berlin/Heidelberg/New York 1993.

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