Spätexpressionismus

Spätexpressionismus

Der musikalische Expressionismus entstand um 1910. Im Gegensatz zum musikalischen Impressionismus, der naturalistisch die äußere Erscheinung der Dinge abbildet, beschäftigt sich die expressionistische Kunstrichtung mit der Innerlichkeit des Menschen.

Stilistisch ist insbesondere die vermehrte Verwendung von Dissonanzen auffällig. Ebenso wurden neue Tonsysteme eingeführt und auch Atonalität verbreitete sich. Auch viele andere Gesetze verlieren an Geltung und es entstehen neue Klangfarben. Zu diesen gehören: extreme Tonlagen, extreme Lautstärkeunterschiede, dynamische Gegensätze, unruhige Melodielinien, freie Rhythmik und ungewohnte Instrumentationen.

Phasen des Expressionismus

Der Expressionismus wird in drei Phasen gegliedert:

Phase Zeitliche Einordnung Komponisten
Frühexpressionismus Frühes 20. Jahrhundert Schönberg, Skrjabin, Ives, Strawinsky, Hindemith, Prokofjew, Krenek, Honegger und Bartók
Hochexpressionismus 1907 – ca. 1912 Webern, Berg, Schönberg (Neue Wiener Schule) und Busoni
Spätexpressionismus Ab 1914 und mündet in den Serialismus (ca. 1950)

Der musikalische Expressionismus ist geographisch in Deutschland und Österreich angesiedelt. Er begreift sich als Gegenthese zum Impressionismus in Frankreich. Während viele Komponisten des Frühexpressionismus später den expressionistischen Stil verließen, blieben Schönberg und seine Schüler dieser Kompositionsweise treu.
Die Gruppe um Schönberg, wird als Neue/Zweite Wiener Schule bezeichnet:
Sie verwirklichte am radikalsten die Emanzipation der Dissonanz, welche zum wichtigsten Ausdrucksmittel des Expressionismus wurde.

Stilistische Eingrenzung

Die musikalische Stilbestimmung hat die Aufgabe, die Hauptmomente des expressionistischen Stils darzustellen. Folgende Hauptmomente (Stilkriterien) lassen sich nachweisen:

  • Irritation (Erregung):

Irritation bedeutet: den schnellen Wechsel melodischer Richtungen, das Nebeneinander von dissonanten Harmonien, Unruhe der Motive, Abwechslung von Homophonie (Musik) und linearen Teilen (Polyphonie), Bevorzugung von scharfen Intervallen, großer Tonumfang (Ambitus) und Befreiung des Rhythmus (Polyrhythmik).

  • Expression:

Expression bedeutet die Auffächerung des Tonraumes durch Erweiterung der Akkordbildung (Expansion des Tonraumes). Jede Stimme ist gleichberechtigt, unterschiedliches musikalisches Material wird gleichzeitig entwickelt und übereinander gelagert. Durch die Gleichberechtigung der Stimmen wird der Gesamtklang gegenüber der Linearität fokussiert.

  • Reduktion (reduzieren – wegnehmen, vermindern):

Reduktion bedeutet die Beschränkung auf das Wesentliche. Jeder Ton ist wichtig, dadurch wird eine wirkungsvolle Dichte in der Musik erreicht. Ein häufig auftretendes Mittel der Reduktion ist die Komprimierung des Orchesterapparates. Neue Orchesterfarben und Instrumentationen werden gesucht. Wenn die größt mögliche Reduktion (Dichte) erreicht ist, erfolgt eine Aufspaltung des Klanges, die durch Polyrhythmik und Verteilung eines Motivs auf mehrere sich abwechselnde Instrumente zum Ausdruck kommt.

Die Abstraktion bedeutet eine Rationalisierung der harmonischen Entwicklung, die wie folgt dargestellt werden kann:
1. Die Musik hat keinen Bezug zur Tonika, d.h. das Stück unterliegt keiner Tonart mehr (Impressionismus und früher Expressionismus)
2. Die Akkorde haben keine harmonische Verwandtschaft
3. Die Akkordverbindungen werden durch Alteration aufgelöst(Spätromantik: Tristan-Akkord)
4. Die Leittöne werden in der atonalen Musik nicht mehr aufgelöst, sie erstarren
5. In der Zwölftonmusik wird eine neue Gesetzmäßigkeit geschaffen, die zur Grundlage der atonalen Kompositionsweise wird

Traditionelle Formen im musikalischen Expressionismus

Durch die Atonalität geht der harmonische Zusammenhang der Kompositionen verloren, deshalb versuchen die expressionistischen Komponisten, ihren Kompositionen auf formaler Ebene Ausgewogenheit zu verleihen. Aus diesem Grund verwenden die Expressionisten traditionelle Formen, wie: Kanon, Invention, Fuge, Suite, Menuett, Marsch, Serenade, Walzer, klassischer Sonatenhauptsatz und speziell auch die Grundlage der Liedform. Durch die traditionellen Formen schlagen sie die Brücke zwischen dem Rationalen und dem Emotionalen.

Anton Webern äußerte dazu in seinen „Vorträgen“ bezogen auf die Situation um 1910:

„Alle Werke, die seit dem Verschwinden der Tonalität bis zur Aufstellung des neuen Zwölftongesetzes geschaffen wurden, waren kurz, auffallend kurz. – Was damals Längeres geschrieben wurde, hängt mit einem tragenden Text zusammen... – Mit der Aufgabe der Tonalität war das wichtigste Mittel zum Aufbau längerer Stücke verloren gegangen. Denn zur Herbeiführung formaler Geschlossenheit war die Tonalität höchst wichtig. Als ob das Licht erloschen wäre! – so schien es.“


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