Boëtius von Orlamünde

Boëtius von Orlamünde

Boëtius von Orlamünde ist ein Internats- und Entwicklungsroman von Ernst Weiß, der, Mitte der zwanziger Jahre geschrieben,[1] bei S. Fischer 1928 in Berlin[2] erschien. Ab 1930 erschien der Roman meist – so auch in der maßgeblichen Ernst-Weiß-Werkausgabe des Suhrkamp Verlages (1982) – unter dem Titel Der Aristokrat.

Nach dem Kriege geht der junge Fürstensohn Boëtius von Orlamünde seinen Weg vom Aristokraten zum Proletarier.

Inhaltsverzeichnis

Zeit und Ort

Der Roman handelt vom 19. Juni[3] bis zum 29. August 1913[4] – erst im ostbelgischen adeligen Knabenstift Onderkuhle[5] und darauf in Brüssel.[6]

Handlung

Onderkuhle

Boëtius Maria Dagobert von Orlamünde, „glaubensschwacher“, fast mittelloser Sohn eines „verarmten, stellungslosen Fürsten“ aus Brüssel, nennt sich einfach Orlamünde. Der 18-Jährige hält sich für eine „armselige Person“, hat sechs Jahre Onderkuhle absolviert und sitzt in dem Stift gleichsam zwischen den Stühlen. Orlamünde weiß nicht, wie es mit ihm weitergeht, denn der Vater, der ihm „sehr fehlt“, hat seit fünf Wochen nicht mehr geschrieben. So wird er vom Meister, dessen väterliches Wohlwollen er genießt, gelegentlich mit einer diffizilen Aufgabe betraut und auch zur Beaufsichtigung vornehmlich jüngerer Zöglinge beim Reiten und Schwimmen eingesetzt. Während einer solchen Unternehmung rettet Orlamünde seinen „einzigen Freund“ Titurel vor dem Ertrinken. Zum Dank wendet sich der Gerettete vom Retter ab. Als Orlamünde dem kleinen Knaben Alma Venus, genannt Alma, Schwimmunterricht geben muss und der kleine Kerl versagt, hat der „Schwimmlehrer“ zwar Mitleid, muss den Versager aber auf dem Fechtboden einsperren, weil diese Strafe im „spartanischen“ Reglement von Onderkuhle für Wasserscheu so vorgeschrieben ist. Als der Rendant im Stift Feuer legt, ist Orlamünde so sehr mit Rettungsarbeit beschäftigt, dass er Alma vergisst und der Kleine nur mit Mühe und in letzter Minute gerettet werden kann. Das Stift brennt nieder. Orlamünde flieht nach Hause.

Brüssel

Der Flüchtling sucht in Brüssel nicht die Eltern auf, sondern bezieht auf eigene Kosten eine schäbige Unterkunft. Der Fürstensohn nimmt „Proletarierarbeit“ in einer Turbinenfabrik an. Orlamünde, Spross eines „niedergleitenden Geschlechtes“, will „auf jedes Erbe verzichten“, will sein „eigener Diener“ sein und sein „eigener Herr“. Davon macht er den Eltern briefliche Mitteilung. Später sucht Orlamünde die Eltern auf und kümmert sich um den sterbenden Vater. Der Hinscheidende hat im Leben bewusst allen Gütern entsagt[7] und kann folglich dem Sohn weiter nichts vererben. Orlamünde, neuerdings „Werkzeugmaschine aus Fleisch und Blut“, ist es zufrieden. Der junge Orlamünde hat viel vor. Er möchte „so viel Kinder zeugen, als“ er Brot für sie schaffen kann. Doch zunächst ist weit und breit keine passende Frau in Sicht. In diesem Männer-Roman tritt eine einzige auf – Orlamündes Mama.

Zitate

  • Adel vereinsamt. Arbeit verbindet.[8]
  • Orlamünde erschreckt die ungeheure Entfernung von unserer armen Erde bis zu den Lichtseen der Sonne.[9]
  • Wer ist Aristokrat der Sonne gegenüber?[10]
  • Bei Selbstbeherrschung fängt jede Herrschaft an.[11]

Wörter und Wendungen

  • Ein Pferd, dass partout nicht gehorchen will, bekommt schließlich ein Krepierhalfterwerk umgetan[12] und wird erschossen.
  • Während eines Begräbnisses dritter Klasse wird feierliches Gerümpel - wie eiserne Kandelaber - herumgetragen.[13]

Form

  • Zu den o.g. komplizierten Aufgaben, die Orlamünde lösen muss, gehören die Bändigung des wilden Hengstes Cyrus[14] und die Arbeit als stellvertretender Rittmeister bei der Beaufsichtigung einer Kolonne von Zöglingen, die Pferde in die Schwemme reiten.[15] Der „reine klassizistische Ton, mit niedergehaltener Leidenschaft und verborgener Traurigkeit erzählt“[16], besticht. Diese beiden Passagen im Romantext können den Meisterwerken deutschsprachiger Prosakunst aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugerechnet werden.
  • Orlamünde fürchtet „T., den richtigen Tod“.[17] Ihm schaudert vor der „Welt in ihrer Unendlichkeit bis an die wandlosen Räume von Ewigkeit.“[18] Ständige Todesfurcht und ständiges Alleinsein Orlamündes konstituieren beklemmend das „unnatürliche Lebensgefühl Onderkuhles“.

Ehrungen

Literatur

Quelle

  • Ernst Weiß: Boëtius von Orlamünde. Roman. 197 Seiten. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1982 (Lizenz: Claassen Verlag GmbH, Hamburg 1966)

Ausgaben

  • Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin 1930 (Titel: Der Aristokrat Boëtius von Orlamünde); Claassen, Hamburg 1966; Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1980.[2]

Sekundärliteratur

  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Ernst Weiß. Heft 76 der Zeitschrift Text + Kritik. München im Oktober 1982. 88 Seiten, ISBN 3-88377-117-1
  • Klaus Johann: Grenze und Halt: Der Einzelne im „Haus der Regeln“. Zur deutschsprachigen Internatsliteratur. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2003, (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 201.), ISBN 3-8253-1599-1. Vor allem S. 565-567.
  • Margarita Pazi: Ernst Weiß. Schicksal und Werk eines jüdischen mitteleuropäischen Autors in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bd. 14 der Reihe Würzburger Hochschulschriften zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Hrsg. Anneliese Kuchinke-Bach. Frankfurt am Main 1993, 143 Seiten, ISBN 3-631-45475-9
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A – Z. S. 658. Stuttgart 2004. 698 Seiten, ISBN 3-520-83704-8

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Alfred Klein, Nachwort in der Quelle S. 199
  2. a b Pazi, S. 140
  3. Weiß, S. 43, 4.Z.v.u.
  4. Weiß, S. 195, 19.Z.v.o. und S.197, 15.Z.v.o.
  5. Weiß, S. 6
  6. Weiß, ab S. 136 und S. 124, 16.Z.v.o.
  7. Weiß, S. 179, 10. bis 14. Z.v.o.
  8. Weiß, S. 38
  9. Weiß, S. 41,42
  10. Weiß, S. 42
  11. Weiß, S. 44
  12. Weiß, S. 50
  13. Weiß, S. 143
  14. Weiß, S. 44-59
  15. Weiß, S. 60-77
  16. Aus dem Klappentext der Quelle
  17. Weiß, S. 35,85
  18. Weiß, S. 183
  19. Klaus-Peter Hinze:… und das mir, dem Anti-Kommunisten. in: Arnold S. 50
  20. Arnold S. 81

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Orlamünde (Begriffsklärung) — Orlamünde ist der Name folgender Orte: Orlamünde eine Stadt in Thüringen Grafschaft Orlamünde eine Grafschaft auf dem Gebiet des heutigen Thüringen Grafschaft Weimar Orlamünde eine Grafschaft auf dem Gebiet des heutigen Thüringen Kemenate… …   Deutsch Wikipedia

  • Der Aristokrat — Boëtius von Orlamünde ist ein Internats und Entwicklungsroman von Ernst Weiß, der, Mitte der zwanziger Jahre geschrieben[1], bei S. Fischer 1928 in Berlin[2] erschien. Ab 1930 erschien der Roman meist so auch in der maßgeblichen Ernst Weiß… …   Deutsch Wikipedia

  • Вайс, Эрнст — У этого термина существуют и другие значения, см. Вайс. Эрнст Вайс Ernst Weiß …   Википедия

  • Вайс Эрнст — Эрнст Вайс Ernst Weiß Имя при рождении: Ernst Weiß Дата рождения: 28 августа 1882 Место рождения: Брно, Австро Венгрия Дата смерти: 15 июня 1940 …   Википедия

  • Эрнст Вайс — Ernst Weiß Имя при рождении: Ernst Weiß Дата рождения: 28 августа 1882 Место рождения: Брно, Австро Венгрия Дата смерти: 15 июня 1940 …   Википедия

  • weiß — kaukasisch; europid; farbneutral; lichtvoll * * * weiß [vai̮s] <Adj.>: von der Farbe des Schnees /Ggs. schwarz/: weiße Haare; ein weißer Hai; weiße Wäsche; die Blüten des Kirschbaumes sind weiß; weiß (in Weiß) gekleidet sein; vor Angst war… …   Universal-Lexikon

  • Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen — ist ein Roman in vier Teilen von Ernst Weiß, der 1934 bei Julius Kittels Nachf. in Mährisch Ostrau erschien. Nach dem Kriege wurde das Werk 1969 bei Claassen in Hamburg verlegt[1]. Vaterlos sind nicht nur die Brüder Konrad und Rudolf D. durch den …   Deutsch Wikipedia

  • Ernst Weiß (Schriftsteller) — Ernst Weiß (* 28. August 1882 in Brünn; † 15. Juni 1940 in Paris) war ein österreichischer Arzt und Schriftsteller. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Werke 3 Literatur …   Deutsch Wikipedia

  • Entwicklungsroman — Der Ausdruck Entwicklungsroman bezeichnet einen Romantypus, in dem die geistig seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Der Entwicklungsroman schildert den… …   Deutsch Wikipedia

  • Olympische Sommerspiele 1928/Kunstwettbewerbe — Bei den IX. Olympischen Sommerspielen 1928 in Amsterdam wurden 13 Kunstwettbewerbe in den Bereichen Baukunst, Literatur, Musik, Malerei und Grafik sowie Bildhauerkunst ausgetragen. Inhaltsverzeichnis 1 Baukunst 1.1 Städtebauliche Entwürfe …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”