Bäckerbreitergang

Bäckerbreitergang
Gängeviertel 1893
Brauerknechtgraben um 1900
Bäckerbreitergang

Als Gängeviertel wurden die Wohnquartiere in der Altstadt, der Neustadt und auf dem Großen Grasbrook in Hamburg bezeichnet.

Da die Häuser sehr eng beieinander standen, war hier ein Verkehr mit Fuhrwerken oder Karren nur in eingeschränkter Weise möglich, und die Bewohner wurden entweder von Wasserträgern mit Trinkwasser versorgt, oder schöpften ihren täglichen Bedarf direkt aus den Fleeten. Diese innerstädtischen Kanäle nahmen aber auch Kot und Unrat in jeder Form auf.

Bereits 1797 hatte der französische Arzt Jean-Joseph Menuret ein Buch veröffentlicht, das in der deutschen Übersetzung den Titel „Versuch über die Stadt Hamburg in Hinsicht auf die Gesundheit betrachtet oder Briefe über die medicinisch-topographische Geschichte dieser Stadt“ trug. Der Arzt Robert Koch schrieb anlässlich der Choleraepidemie von 1892 an den Kaiser: „Eure Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.“

Nicht zuletzt wegen der unhaltbaren hygienischen Zustände beabsichtigte die Stadt nach der Choleraepidemie des Jahres 1892 eine planmäßige Sanierung der Gängeviertel durchzuführen. Bereits 1883-1888 war das zur Altstadt gehörende Quartier auf dem Großem Grasbrook für den Bau der Speicherstadt abgerissen worden. 24 000 Menschen verloren dabei ersatzlos ihre Wohnungen und mussten sich eine neue Bleibe in dem ohnehin überbelegten Gängeviertel der Alt- oder der Neustadt suchen oder ihr hafen- und damit arbeitsnahes Wohnen aufgeben. Mit dem Bau der Kaiser-Wilhelm-Straße wurde 1893 eine breite Trasse durch das Elendsquartier der nördlichen Neustadt gezogen. Diese Maßnahme zählte zwar nicht zu den unumgänglichen Sanierungsarbeiten, sie trug aber ebenso wie die Wallregulierung dazu bei, dass altersschwache Häuser und enge Gänge entfernt werden konnten. Die Choleraepidemie von 1892 und der Streik der Hafenarbeiter von 1896/97 machten die unhaltbaren Zustände besonders deutlich und veranlassten Senat und Bürgerschaft, neue Sanierungsgebiete auszuweisen, die alten Häuser abzureißen und zeitgemässe Gebäude sowie breite Straßen zu errichten. Nach dem Gängeviertel der südlichen Neustadt (1903–14) begann man in der Altstadt mit dem Bau der Mönckebergstraße(1908-14). Beabsichtigt war dabei, den Hauptbahnhof mit dem Rathaus und der Börse zu verbinden. Die Stadt erwarb die notwendigen Grundstücke, führte alle Infrastrukturmaßnahmen (dazu gehörte auch der Bau der U-Bahn) zügig durch und versteigerte die freigewordenen Grundstücke an die Meistbietenden. Das weitere Geschehen überließ man dem Markt und hoffte dabei, dass sich die ehemaligen Bewohner entweder in den restlichen Gängevierteln oder aber in den gerade entstehenden neuen Arbeitersiedlungen in Barmbek oder auf der Veddel niederlassen würden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieses Vorhaben im südlich angrenzenden Bereich fortgesetzt, in dem zwischen 1921 und 1930 das heute so bezeichnete Kontorhausviertel entstand.

In der Neustadt, vom Hafenrand aus, über den Großneumarkt bis zum Gänsemarkt hin, entwickelte sich ein geschlossenes Milieu der Hamburger Arbeiterschaft. Von vielen Hansestädtern wurde es als "Brutstätte der Kriminalität" bezeichnet und deshalb auch "Verbrecherquartier" genannt. Erst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung begann die Sanierung in diesem dritten ausgewiesenen Sanierungsgebiet. Das Viertel war nicht nur die Hochburg der damaligen KPD - man sprach sogar von "Klein-Moskau" -, hier befand sich einst auch das eigentliche Zentrum des jüdischen Lebens in Hamburg. Und eine der ersten Maßnahmen der braunen Herren bestand darin, die ehemalige Synagoge "Kohlhöfen" 1934 abzureißen. Vergessen werden darf auch nicht, dass nach 1942 in der Neustadt weder Menschen jüdischen Glaubens noch Roma und Sinti mehr lebten.

Unter gewandelten architektonischen und städtebaulichen Maßgaben entstand dennoch ein ansprechendes Wohngebiet, das, im Gegensatz zu den vorausgegangenen Sanierungsmaßnahmen, mit Straßennamen und Raumbildungen einen Bezug zu den abgerissenen Stadtbildern suchte.

Letzte verbliebene Reste des Quartiers gingen im Zweiten Weltkrieg verloren oder wurden 1958-64 zugunsten des Baus des Unilever-Hochhauses und der Errichtung der Ost-West-Straße beseitigt. Minimale Reste des einst ausgedehnten Viertels sind auf der Südseite des Valentinskamps und entlang des Bäckerbreitergangs sowie am Krayenkamp noch erhalten geblieben.

Zitate

  • „Schreiber dieses suchte neulich Arme in Hamburg auf. Sein Weg führe ihn in eine enge Durchpassage mit hohen Häusern zu beiden Seiten, links und rechts Wohnung über Wohnung und wieder Wohnung in der anderen, fast alle eng neben- und ineinander geschachtelt... Die scheußlichste Pestluft aus den Gossen erfüllt zuzeiten die enge Straße, in welcher die Bewohner einander in die Fenster sehen. Unter manchen dieser Häuser sind wieder Eingänge in neue Labyrinthe. Nur gebückt ist das Innere dieser zweiten Höfe zu erreichen. Als ich in einen dieser Gänge eingetreten war, waren links und rechts Fenster und Türen geöffnet, Lärmen, Schelten und Zuschauer und Zuhörer für beides, Alte und Kinder, Dirnen und Jungen bildeten die Bevölkerung zwischen den zusammengehenden Mauern. Wieder links ab war eine noch engere von Wohnungen gebildete Linie; der Atem wurde von der Stickluft, die sich an dieser Stelle entwickelt hatte, gehemmt; hier wohnte rechts die gesuchte Familie in einer förmlichen Höhle; im untern Teile der elenden Baracke war fast im Finstern ein zusammengelaufenes Paar einquartiert, eine Art Hühnertreppe führte nach oben, wo wieder zwei bis drei voneinander unabhängige Partien ihr Obdach hatten; alles strotzte von Schmutz aller Art an Wänden, Fenstern, Fußböden; 5 Kinder und 3 Weiber und ein kaum herangewachsener Bube mit seiner Dirne aßen und tranken hier durcheinander. Frechheit, Verzweiflung und völliger Stumpfsinn warfen dunkle Schatten auf die Gesichtszüge der Versammelten, um das Bild des leiblichen und sittlichen Elends, das hier hauste, zu vollenden.“ (Johann Hinrich Wichern 1847)

Literatur

  • Heinrich Asher, Das Gängeviertel der Altstadt und die Möglichkeit, dasselbe zu durchbrechen, Eine Skizze. Hamburg 1865
  • Waldemar Bartens, Sähle, Buden, Keller. Die Wohnungen der Armen. In : 1789 speichern und spenden. Nachrichten aus dem Hamburger Alltag. Ausstellungskatalog des Museumspädagogischen Dienstes der Kulturbehörde. Hamburg 1989
  • Otto Bender, Die Hamburger Neustadt 1878 - 1986. Stadtansichten einer Photographenfamilie. Mit Erläuterungen von Ulrich Bauche. Hamburg 1986
  • Richard Evans, Die Cholera und die Sozialdemokratie. Arbeiterbewegung, Bürgertum und Staat in Hamburg während der Krise von 1892. In: Arno Herzig u.a., Hrsg.,Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg 1983, S. 303 - 214
  • Richard Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholerajahren 1830 - 1910. Hamburg 1991
  • Richard Evans, Der "rote Mittwoch" in Hamburg. In: Heinrich Erdmann. Hamburg im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts: die Zeit des Politikers Otto Stolten. Hamburg 2000, S. 51 - 96
  • Michael Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886 -1914. Göttingen 1984
  • Michael Grüttner, Die Hütten der Armut und des Lasters. In: Volker Plagemann, Hrsg., Industriekultur in Hamburg. Des Deutschen Reiches Tor zur Welt. München 1984, S. 224 - 243
  • Hans Harbeck. Hamburg - so wie es war. Düsseldorf 1966
  • J. M., Das Gängeviertel ist nicht der Heerd aller Laster und Verbrechen. Hamburg 1865
  • Elke Pahl. Die Zerstörung des Gängeviertel - ein Versuch, Hamburger Hafenarbeiter über ihre Wohnungen zu kontrollieren. Autonomie 3, Hamburg/Tübingen 1980
  • Dirk Schubert, Kleinwohnungsbau als Familienpolitik in Hamburg 1870 - 1910. In : J. Rodriguez-Lores, G. Fehl, Hrsg., Die Kleinwohnungsfrage. Zu den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa. Hamburg 1988
  • Dirk Schubert, "Der Städtebaukunst dienen - und der Finanzdeputation eine Freude bereiten" oder: Die wechselvolle Geschichte der Sanierung der südlichen Altstadt. In: Ulrich Höhns, Hrsg., Das ungebaute Hamburg. Hamburg 1991, S. 46 - 57
  • Dirk Schubert, Stadtsanierung im Nationalsozialismus. Propaganda und Realität am Beispiel Hamburg. In: Die Alte Stadt. Vierteljahrschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Jahrgang 4/ 1993
  • Dirk Schubert, Von der "äußeren" zur "inneren" Stadterweiterung. Zur Sanierung der Altstadt Nord und zu Planung und Bau der Mönckebergstraße in Hamburg. In: G. Fehl, J. Rodriguez-Lores, Hrsg., Stadt-Umbau. Die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongress und Weimarer Republik. Hamburg 1995, S. 191 - 211
  • Dirk Schubert, Gesundung der Städte. Stadtsanierung in Hamburg 1933 - 1945. In: Michael Böse u.a., "... ein neues Hamburg entsteht..." Hamburg^1986, S. 62 - 83
  • F. Winkelmann, Wohnhaus und Bude in Alt Hamburg. Die Entwicklung der Wohnverhältnisse von 1250 - 1830. Berlin 1937
  • Clemens Wischermann, Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg. Münster 1983


Weblinks


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