Affektpoetik

Affektpoetik

Der Begriff der Affektpoetik lässt sich in dreierlei Hinsicht konkretisieren: als historische Kategorie innerhalb der Poetik des achtzehnten Jahrhunderts; als systematische Kategorie zur Erforschung literarischer Emotionen; als interdisziplinäre Kategorie zur Analyse der „languages of emotion“.

Inhaltsverzeichnis

Affektpoetik als historische Kategorie

Als historische Kategorie spielt das Wortfeld Affektpoetik in den Theaterreformen des achtzehnten Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Dabei gelten seit Gotthold Ephraim Lessing die Affekte Furcht und Mitleid als zentrale Wirkung der Affektpoetik des Dramas bzw. des bürgerlichen Trauerspiels. Diese Diskussion bezieht sich auf die Poetik des Aristoteles, nach welcher es in der Tragödie um die von der Konstruktion der Handlung ausgelösten Affekte Eleos und Phobos geht, wobei in der Lösung oder Reinigung im Sinne der Katharsis die Freude an der tragischen Mimesis kulminiert. Lessing und vor ihm Moses Mendelssohn bestimmten anhand der Tragödiendefinition im sechsten Buch der Aristotelischen Poetik die Erregung von Phobos und Eleos, von Furcht und Mitleid, und die Reinigung dieser Affekte als das eigentliche Ziel der Tragödie. Lessing bezog die Reinigung von Mitleid, Furcht „und dergleichen Affekten“ auch auf den Zuschauer, deutete sie jedoch als Verwandlung dieser Affekte „in tugendhafte Fertigkeiten“.[1].

Ein anderer historischer Sinn für Affektpoetik ergibt sich aus Friedrich Gottlieb Klopstocks Poetik der Gemütserregung: In den 1759 publizierten Gedanken über die Natur der Poesie heißt es: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.“[2] Ziel der Poetik Klopstocks ist es, eine solche Gemütsbewegung durch ein Zusammenspiel zwischen Leidenschaft und Glauben, Affekt und Konfession, Kunst und Spiritualität zu erwirken. Ähnliche Definitionen von Lyrik als Affektausdruck finden sich Mitte der 1760er Jahre auch bei Gerstenberg, Sulzer und vor allem Herder, der Lyrik als Werk des "Naturdichters" und damit als "unmittelbare Äusserung des Empfindens" definiert und so den Weg von der Nachahmungspoetik Gottscheds hin zur Erlebnis- und Ausdruckspoetik der Genieästhetik ebnete.

Affektpoetik als theoretische Kategorie

Neben den Mitte der 1990er Jahre entstandenen Rezeptionstheorien ästhetischer Affekte - orientiert an den „Gefühlen beim Lesen“ - entwickelte sich im Zuge des emotional turn in den Kulturwissenschaften nach 2000 auch eine Produktionsästhetik literarisch-ästhetischer Affekte. Thomas Anz sprach diesbezüglich von den „Kulturtechniken der Emotionalisierung“; Simone Winko sprach von „Kodierten Gefühlen“ in der Lyrik der literarischen Moderne und analysierte die Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten. Im Unterschied zu den in der ästhetischen Rezeption entstehenden Gefühlen des Lesers/Hörers/Zuschauers bezeichnet der Begriff der Affektpoetik also die Codierung bzw. Modellierung literarischer Affekte in literarischen Texten bzw. Gattungen selbst: Die systematische „Affektpoetik“ Burkhard Meyer-Sickendieks untersucht in diesem poetologischen Sinne die „Trauer in der Elegie“, den „Enthusiasmus in der Hymne“, die „Schuld in der Tragödie“, die „Sehnsucht im Melodrama“, die „Angst im Märchen“, das "Glück in der Idylle", die „Hoffnung in der Utopie“, den „Schmerz im literarischen Tagebuch“ oder die „Aggression in der Satire“. Affektpoetik trägt in diesem Modell ein kulturgeschichtliches Vorzeichen, analysiert also die historischen Transformationen literarisierter Affekte: Etwa der Angst anhand der Gattungsgeschichte des Märchens in dessen Übergang vom Volksmärchen zum Kunstmärchen.

Affektpoetik als Kategorie der interdisziplinären Emotionsforschung

Im Zuge des genannten „emotional turn“ bezeichnet der Begriff der „Affektpoetik“ heute ein eigenes Forschungsfeld innerhalb des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ an der FU Berlin. Die in Module aufgeteilten Forschungsareas dieses Clusters begreifen und untersuchen die Affektpoetik in den Künsten und Kunst-bezogenen Diskursen im doppelten Bezugsrahmen der affekttheoretischen Hypothesenbildung in Rhetorik, Poetik, Ästhetik und fachwissenschaftlicher Theoriebildung einerseits, der Modellbildung und der experimentellen Perspektive in Psychologie und Neurowissenschaft andererseits.

Einzelnachweise

  1. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück, in: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 595.
  2. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 992.

Siehe auch

Literatur

  • Henrike F. Alfes: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens, Opladen 1995, ISBN 3531126458.
  • Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner: Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, ISBN 3897854546, S. 207-239.
  • Mathias Brütsch / Vinzenz Hediger / Ursula von Keitz / Alexandra Schneider / Margrit Tröhler (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg 2005, ISBN 3894725125.
  • Karl S. Guthke: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hrsg. von Wilfried Barner. München 1989 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 15), ISBN 3486547712, S. 93-124.
  • Klaus Herding / Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2004, ISBN 3110177358.
  • Evelyne Keitel: Von den Gefühlen beim Lesen. Zur Lektüre amerikanischer Gegenwartsliteratur, München 1996, ISBN 3770530764.
  • Antje Krause-Wahl / Heike Oehlschlägel / Serjoscha Wiemer (Hg.): Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse, Bielefeld 2006, ISBN 389942459X.
  • Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005, ISBN 3826030656.
  • Hermann Wiegmann (Hrsg.): Die ästhetische Leidenschaft. Texte zur Affektenlehre im 17. u. 18. Jh. Ausgewählt und kommentiert. Hildesheim: G. Olms 1987 (Germanistische Texte und Studien, Band 27), ISBN 3-487-07840-6
  • Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, ISBN 3503061878.

Weblinks


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