Fußgängerdiplom

Fußgängerdiplom

Das Fußgängerdiplom ist ein Befähigungsnachweis für den jungen Fußgänger im Straßenverkehr. Die Urkunde bescheinigt Kindern nach einer etwa dreiwöchigen intensiven praktischen und theoretischen Ausbildung mit anschließender Prüfung, dass sie sich als fähig erwiesen haben, sich sicher, selbstständig und partnerbezogen zu Fuß im Straßenverkehr zu bewegen. Das von der Schulleitung ausgestellte Leistungszeugnis soll den Kindern das Selbstbewusstsein vermitteln, eigenverantwortlich den Schulweg gestalten zu können. Gleichzeitig soll es den Eltern die Entscheidung erleichtern, ihren Kindern dies zuzutrauen. Das für die Schulwegsicherheit richtungweisende Projekt wurde vom Land Baden-Württemberg finanziell und personell gefördert.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte

Das Fußgängerdiplom wurde 1976 von Siegbert A. Warwitz in Analogie zum Führerschein und zur Radfahrprüfung ins Leben gerufen.[1] Die hohe (und stetig steigende) Quote der Schulwegunfälle[2][3] legte es nahe, nach neuen, kindgemäßeren Formen der Verkehrserziehung zu suchen. Außerdem sollte die von besorgten Eltern verursachte, besonders unfallträchtige Schul-Rushhour vermieden werden. So entstanden in Karlsruhe nach dem Vorbild der Montessori-Pädagogik[4][5] das Didaktikmodell einer „Verkehrserziehung vom Kinde aus“ und in ihrem Gefolge praktisch-methodische Realisierungsformen wie das Karlsruher 12-Schritte-Programm und das Fußgängerdiplom. Dieses folgt dem Gedanken, den bis dahin gängigen „belehrenden Verkehrsunterricht“ durch ein Lehr- und Lernkonzept zu ergänzen, das die Interessen, die Eigentätigkeit und die Kreativität der Kinder stärker berücksichtigt und damit lebensnäher erzieht. Das Lernmodell verdankt nicht zuletzt dem Fußgängerdiplom seine internationale Verbreitung.

Zielsetzung und Aufbau

Das Fußgängerdiplom ist vorrangig auf den Schulanfänger und ältere behinderte Kinder ausgerichtet. Es soll zum geübten, kritischen, selbstsicheren, autonomen Fußgänger führen. Die Kinder sollen dabei in weitestgehender Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit „Verkehrsgefühl“, „Verkehrsintelligenz“ und angemessenes „Verkehrsverhalten“ entwickeln.[6]

Im Gesamtkonzept der schulischen Verkehrserziehung knüpft das Fußgängerdiplom an das Karlsruher 12-Schritte-Programm an. Während dieses eine schnelle Erstsicherung des Kindes im hausnahen Verkehrsbereich intendiert und entsprechend für den Einsatz im Kindergarten und für die elterliche Verkehrserziehung konzipiert wurde, strebt das Fußgängerdiplom eine intensivere komplexe Auseinandersetzung mit dem Problem Verkehren an. Es soll zum mündigen Verkehrsteilnehmer führen. Seinen Platz hat es am Schulbeginn, wo es im Rahmen der lehrplanmäßigen Verkehrserziehung das volle Stundenvolumen des ersten Schuljahrs nutzt.

Der angestrebte Weg zum mündigen Verkehrsteilnehmer leitet die Kinder in drei Lernphasen vom Spielen in Schonräumen über das Experimentieren in entschärften Verkehrssituationen zum Training in der Ernstsituation des realen Straßenverkehrs.[7]

Methode und Inhalte

Die Ausbildung zum Fußgängerdiplom ist als fächerübergreifender Projektunterricht[8][9] angelegt, der in einer Zeitspanne von drei Wochen etwa 20 Stunden beansprucht. Im Mittelpunkt des Projekts stehen die Handlungsfächer Sport, Gemeinschaftskunde, Bildnerisches Gestalten und Musik, die im Verbund arbeiten. Aber auch Theoriefächer wie Deutsch- und Rechenunterricht werden themengerecht eingezogen. Es geht um Erfahrungen mit Eigen- und Fremdbewegungen, um optische und akustische Wahrnehmung, um die Gestaltung von verkehrsdienlichen Hilfsmitteln wie Verkehrszeichen und Verkehrsarrangements, um sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation, um die Verbalisierung von Ängsten und um Lösungen für Probleme beim Verkehren. Die Kinder lernen, sich im Verkehr zu verständigen, auch unter Ablenkung richtig zu reagieren, Hinweis-, Gebots- und Verbotsschilder zu unterscheiden und selbst zu entwerfen. Sie planen und realisieren miteinander Bahnen- und Kreuzungsverkehr und kooperieren dabei mit radfahrenden Viertklässlern. Funktionen wie die des Verkehrspolizisten oder von Ampeln werden von den Kindern selbst wahrgenommen.

Prüfung

Das Abschlussexamen besteht in einem Prüfgang durch den Realverkehr in Begleitung eines speziell geschulten Mentors („Schutzengels“). Dabei wird jedes einzelne Kind mehrfach an kritische Verkehrsstellen geführt und mit Gefahren konfrontiert, bei denen es richtig entscheiden und handeln muss. Die Prüfung kann beliebig oft wiederholt werden. Sie gilt als bestanden, wenn das Kind mindestens zwölf Aufgaben hintereinander sicher bewältigt hat. Die erfolgreiche Teilnahme an Projekt und Prüfung wird von Schulleiter und Klassenlehrer mit Unterschrift und Schulsiegel beurkundet. Sie berechtigt, ein entsprechendes Abzeichen zu tragen. Mit dem Fußgängerdiplom erwirbt das Kind in der Regel das erste offizielle Leistungszeugnis seines Lebens. Es motiviert die Kinder, sich als nächstes der Radfahrprüfung zu stellen.[10]

Erfolgsbilanz

Der didaktische Wert des Fußgängerdiploms lässt sich nicht auf den Aspekt Unfallreduzierung verengen. Es trägt zur Verkehrserziehung mehr bei als Unfallverhütung.[11] Dennoch sind auch die Erfolge auf dem die Öffentlichkeit stark interessierenden Gebiet der Unfallentwicklung, die in den letzten Jahrzehnten im Verbund mit anderen sichernden Maßnahmen erreicht wurden, augenscheinlich und statistisch nachweisbar[12]:

Die schulzeitbegleitenden empirischen Erhebungen zum Fußgängerdiplom verzeichneten weder während der Projektphasen noch in der verbleibenden Schulzeit nennenswerte Verkehrsunfälle bei den beteiligten Kindern.[13] Großräumig ergibt sich nach den offiziellen Statistiken der folgende Befund:

Im Jahr 1972 verunglückten nach den Angaben des ADAC [14] (in der kleineren BRD bei einem deutlich geringeren Verkehrsaufkommen) 71278 Kinder auf den deutschen Straßen, 35038 davon als Fußgänger, die meisten auf dem Schulweg. Für das Jahr 2007 verzeichnet das Statistische Bundesamt[15] (für die inzwischen erweiterte BRD mit einem erheblich angewachsenen Straßenverkehr) nur noch 33804 Unfälle mit Kindern, 8417 davon unter Beteiligung als Fußgänger. Gegenläufig haben vor allem die tödlichen Unfälle von Kindern als Mitfahrer in Kraftfahrzeugen mit einem Gesamtanteil von 43 % einen Höchststand erreicht. [16] Ein wesentliches Ziel des Fußgängerdiploms bleibt es daher, die Eltern über die sichtbare Qualifikation ihrer Kinder zur Vermeidung der besonders gefahrenträchtigen Schul-Rushhour zu veranlassen.[17]

Mit der Auszeichnung des Autors durch die Gattin des Bundespräsidenten 1995 in Karlsruhe erhielten auch die wissenschaftliche Konzeption der "Verkehrserziehung vom Kinde aus" und ihr didaktisches Erfolgsmodell "Fußgängerdiplom" eine offizielle Anerkennung.

Literatur

  • ADAC (Hrsg.): Verkehrsunfälle. Kinderunfälle 1972. Mitteilungsblatt o.O. 1973. S. 4 ff
  • Böcher, W./Schlag, B.: Kinderunfälle im Straßenverkehr. Bonn 1978
  • Böhm, W./Fuchs, B.: Erziehung nach Montessori. Verlag Klinkhardt Bad Heilbrunn 2004
  • Helming, H.: Montessori-Pädagogik. Ein moderner Bildungsweg in konkreter Darstellung. Verlag Herder Freiburg 2002. ISBN 3-451-26770-5
  • Montessori, M.: Die Entdeckung des Kindes. 4. Auflage 1976
  • Peter-Habermann, I.: Kinder müssen verunglücken. Reinbek 1979
  • Pfeiffer, R.: Wir GEHEN zur Schule. Wien 2007
  • Statistisches Bundesamt (Hrsg.)(2008): Verkehrsunfälle. Kinderunfälle im Straßenverkehr 2007.
  • Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom als Vorhaben in der Eingangsstufe. In: Rudolf, A./Warwitz, S.A.: Projektunterricht – Didaktische Grundlagen und Modelle. Schorndorf 1977. S. 101-113. ISBN 3-7780-9161-1
  • Warwitz, S.A.: Forschungsvorhaben Fußgängerdiplom. In: Z. f. Verkehrserziehung 3(1984)58 ff
  • Warwitz, S.A.: Die Entwicklung von Verkehrssinn, Verkehrsintelligenz und Verkehrsverhalten beim Schulanfänger. Das Karlsruher Modell. In: Z. f. Verkehrserziehung 4(1986)93-98
  • Warwitz, S.A.: Projektorientierte Verkehrserziehung vom Kinde aus. In: karlsruher pädagogische beiträge 28(1992)59-69
  • Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom –ein Beispiel handlungsorientierter Verkehrserziehung. Heft 2 der Medienpaketreihe „Projektunterricht in Schule und Hochschule“. Karlsruhe 5. Auflage 1996
  • Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom. Anregungen für eine fächerübergreifende Verkehrserziehung in der Grundschule. In: Sache-Wort-Zahl 30(2002)46-49
  • Warwitz, S.A.: Das Projekt ‚Fußgängerdiplom’. In: Ders. Verkehrserziehung vom Kinde aus. Baltmannsweiler 6. Auflage 2009. S. 221-251. ISBN 978-3-8340-0563-2
  • Wegener, P.: Die Methode ‚Fußgängerdiplom’ als didaktisches Konzept zur Verkehrsertüchtigung des Schulanfängers. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS Karlsruhe 2001

Einzelnachweise

  1. Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom als Vorhaben in der Eingangsstufe. In: Rudolf, A./Warwitz, S.A.: Projektunterricht – Didaktische Grundlagen und Modelle. Schorndorf 1977. S. 101-113
  2. Böcher, W./Schlag, B.: Kinderunfälle im Straßenverkehr. Bonn 1978
  3. Peter-Habermann, I.: Kinder müssen verunglücken. Reinbek 1979
  4. Helming, H.: Montessori-Pädagogik. Ein moderner Bildungsweg in konkreter Darstellung. Verlag Herder Freiburg 2002
  5. Böhm, W./Fuchs, B.: Erziehung nach Montessori. Verlag Klinkhardt Bad Heilbrunn 2004
  6. Warwitz, S.A.: Die Entwicklung von Verkehrssinn, Verkehrsintelligenz und Verkehrsverhalten beim Schulanfänger. Das Karlsruher Modell. In: Z. f. Verkehrserziehung 4(1986)93-98
  7. Warwitz, S.A.: Projektorientierte Verkehrserziehung vom Kinde aus. In: karlsruher pädagogische beiträge 28(1992)59-69
  8. Rudolf, A./Warwitz, S.A.: Projektunterricht – Didaktische Grundlagen und Modelle. Schorndorf 1977
  9. Frey, K.: Die Projektmethode. Weinheim 2005
  10. Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom. Anregungen für eine fächerübergreifende Verkehrserziehung in der Grundschule. In: Sache-Wort-Zahl 30(2002)46-49
  11. Warwitz, S.A.: Das Fußgängerdiplom –ein Beispiel handlungsorientierter Verkehrserziehung. Heft 2 der Medienpaketreihe „Projektunterricht in Schule und Hochschule“. Karlsruhe 5. Auflage 1996
  12. Warwitz, S.A.: Das Projekt ‚Fußgängerdiplom’. In: Ders. Verkehrserziehung vom Kinde aus. Baltmannsweiler 6. Auflage 2009. S. 221-251
  13. Wegener, P.: Die Methode ‚Fußgängerdiplom’ als didaktisches Konzept zur Verkehrsertüchtigung des Schulanfängers. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS Karlsruhe 2001
  14. ADAC (Hrsg.): Verkehrsunfälle. Kinderunfälle 1972. Mitteilungsblatt o.O. 1973. S. 4 ff
  15. Statistisches Bundesamt (Hrsg.)(2008): Verkehrsunfälle. Kinderunfälle im Straßenverkehr 2007.S. 20
  16. Statistisches Bundesamt (Hrsg.)(2008): Verkehrsunfälle. Kinderunfälle im Straßenverkehr 2007. S. 4
  17. Warwitz,S.: Kinder im Problemfeld Schul-Rushhour. In: Sache-Wort-Zahl 86(2007)52-60

Siehe auch


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