Derin devlet

Derin devlet

Der Begriff Tiefer Staat (derin devlet) wird in der Türkei in der Bedeutung von Staat im Staate verwendet. Er deutet auf die Verflechtung von Sicherheitskräften, Politik, Justiz, Verwaltung und organisiertem Verbrechen (insbesondere Killerkommandos) hin. Die Diskussion entfachte sich besonders um den so genannten Susurluk-Skandal im Jahre 1996, wurde aber schon in den 70er Jahren mit Begriffen wie Kontra-Guerilla oder das Özel Harp Dairesi geführt. In den letzten Jahren wurde in diesem Zusammenhang auch der (offiziell inexistente) Geheimdienst der Gendarmerie mit seiner Abkürzung JITEM genannt. In jüngster Zeit wurde durch ein Gerichtsverfahren besonders die Untergrundorganisation Ergenekon bekannt, die ebenfalls im Verdacht steht, zum Komplex des tiefen Staats zu gehören.

Inhaltsverzeichnis

Ungeklärte Ereignisse

Eine Reihe von – zum großen Teil – unaufgeklärten Ereignissen hat die Diskussion um den tiefen Staat geprägt. Einige davon sind:

Die Villa Ziverbey

Ziverbey köşkü (eine Villa im Stadtteil Erenköy von Istanbul) wurde der Name für Folter nach dem Militärputsch vom 12. März 1971. Intellektuelle wie İlhan Selçuk und Uğur Mumcu wurden hier gefoltert und bestätigten, was Oberstleutnant Talat Turhan in seinem Buch über den Tiefen Staat[1] schrieb. Demnach stellten sich die Folterer bei ihm als Mitglieder der Kontra-Guerilla vor, die ihn nach eigenem Ermessen töten dürften.[2]

Das Massaker auf dem Taksim-Platz (Istanbul)

Am 1. Mai 1977 hielt die „Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften der Türkei“ (DİSK) eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul ab, an der sich eine viertel Million Menschen beteiligten. Unerkannte Personen schossen in die Menge und töteten 35 Personen. Die Täter wurden nie gefasst.

Der Susurluk-Skandal

Der Susurluk-Skandal offenbarte sich bei einem Autounfall am 3. November 1996 in der Nähe der der Kreisstadt Susurluk in der Provinz Balıkesir. Bei diesem Unfall kamen der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, ein bekannter Aktivist der Grauen Wölfe, Abdullah Çatlı, und dessen Frau Gonca Us ums Leben. Der Abgeordnete der Partei des Rechten Weges (DYP) für die Provinz Urfa, Sedat Bucak, der eine eigene Armee von Dorfschützern gegen die PKK befehligte, wurde verletzt.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss veröffentlichte im April 1997 einen 350seitigen Bericht zu dem Vorfall. Laut dem Bericht hatten Staatsorgane die Grauen Wölfe instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang hätten Staatsorgane in den 1970er Jahren gewaltsame Konflikte zwischen politisch links und rechts stehenden Gruppen initiiert, um die Vorbedingungen für den Militärputsch von 1980 zu schaffen.[3]

Das Ereignis in Şemdinli

Am 9. November 2005 explodierte in einem Buchladen in der Kreisstadt Şemdinli in der Provinz Hakkari eine Handgranate. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Passanten stellten drei Verdächtige. Zwei von ihnen gehörten der Gendarmerie an und einer war ein Überläufer der PKK. Der Staatsanwalt Ferhat Sarıkaya, der Verbindungen der Gefreiten Ali Kaya und Özcan İldeniz sowie des Überläufers Veysel Ateş zu hochrangigen Militärs aufzudecken versuchte, wurde seines Amtes enthoben.[4][5]

Die Täter wurden an der 3. Großen Strafkammer in Van angeklagt und am 19. Juni 2006 zu 30 Jahre 10 Monate und 27 Tage Haft verurteilt.[6] Im Mai 2007 hob die 9. Strafkammer des Kassationshofes das Urteil auf.[7] Die Richter der 3. Strafkammer in Van weigerten sich, das Verfahren an ein Militärgericht abzugeben. Sie wurden danach versetzt.[8] Nachdem das Verfahren an das Militärgericht in Van übergeben worden war, wurde hier die Freilassung der Angeklagten angeordnet.[9]

Die Ermordung von Hrant Dink

Der armenische Journalist Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Büro seiner Zeitschrift Agos in Istanbul ermordet. Als Mörder wurde der minderjährige Ogün Samast in Samsun gefasst. Am 7. Februar 2007 berichtete die Nachrichtenagentur ANKA von Verbindungen des Mörders zu nationalistischen Kreisen und wies darauf hin, dass er als Polizeispitzel und für den Geheimdienst der Gendarmerie (JITEM) gearbeitet hatte.[10]

Offizielle Kommentare

Als Erster wies 1974 der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit auf einen „Staat im Staate“ unter dem Begriff „Kontra-Guerilla“ (kontr-gerilla) hin. Der damalige Kommandant des Amtes für besondere Kriegsführung, General Kemal Yamak, hatte den Chef des Generalstabs, Semih Sancar, gebeten, den Premierminister um die Zahlung von einer Million Dollar für sein Amt zu bitten. Bis zu diesem Zeitpunkt war diese Summe jährlich von den USA gezahlt worden.[11] In den Memoiren des Generals Kenan Evren, der den Militärputsch in der Türkei 1980 angeführt hatte, berichtet er von einem Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel am 5. Mai 1980. Demirel habe ihn gebeten das Amt für besondere Kriegsführung im Einsatz gegen die Terroristen einzusetzen (wie es am 30. März 1972 geschehen sei). Kenan Evren habe abgelehnt, weil er keine Gerüchte über Kontra-Guerilleros hören wollte.[12] Ähnliches sagte Kenan Evren in einem Interview mit der Tageszeitung Hürriyet am 16. November 1990.

Premierministerin Tansu Çiller kommentierte zum Unfall in Susurluk, dass „alle, die für den Staat Kugeln abfeuerten oder von Kugel getroffen würden, ehrenwert seien“.[13] In einem Programm des Fernsehsenders Kanal 7 zum Mord an Hrant Dink sagte der Premier Recep Tayyip Erdoğan am 27. Januar 2007, dass der „Staat im Staate“ (tiefe Staat - derin devlet) eine nicht zu leugnende Realität sei. Es habe ihn seit dem Osmanischen Reich gegeben. Es ginge darum, ihn zu minimieren und wenn möglich, auszuschalten.[14]

Hintergrund

Das Phänomen des tiefen Staats ist mit der Entstehungsgeschichte der modernen Türkei verknüpft. Sie entstand aus dem Osmanischen Reich durch eine radikale Transformation des politischen Systems und der Gesellschaft durch den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Wesentliche Elemente des Kemalismus waren und sind Demokratie, ein starker Nationalismus (Begriff des Türkentums) sowie eine strikte Trennung von Religion und Staat. Als Hüter und Bewahrer dieses Staatsmodells sieht sich bis heute das türkische Militär. Jeglichen Bestrebungen oder Bewegungen, die Militär und Geheimdienste als potenzielle Bedrohung des kemalistischen Staats ansahen, wurden in der Vergangenheit mit großer Härte bekämpft. Als Bedrohung wurden dabei vor allem in den 1970er Jahren sozialistische und kommunistische Bewegungen sowie bis in die Gegenwart der kurdische Nationalismus angesehen. Seit geraumer Zeit wird darüber hinaus auch der wieder zunehmende Einfluss des politischen Islam kritisch betrachtet.

Das Wesen des tiefen Staats wird darin gesehen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen als Bedrohung identifizierten Strömungen innerhalb des Staats Strukturen ausbildeten, die keiner demokratischen Kontrolle unterworfen waren, eine Art Staat im Staate. Diese bedienten sich darüber hinaus teilweise krimineller oder radikaler politischer Elemente, wobei die fehlende demokratische Kontrolle letztlich zu einer kaum kontrollierbaren Deformation und Verflechtung staatlicher Strukturen mit Elementen des Rechtsextremismus und der organisierten Kriminalität führte.[3]

Der oben geschilderte Susurluk-Skandal von 1996 erweckte deshalb hohes Aufsehen in der Türkei, weil diese Verflechtung erstmals offenkundig wurde: In dem verunfallten Wagen saßen mit Kocadağ ein hoher Polizeifunktionär, mit Çatlı ein international gesuchter, rechtsextremer Drogenhändler und Mörder[15] mit erwiesenen Geheimdienstverbindungen, sowie mit Bucak ein Parlamentsabgeordneter, der eine wichtige Rolle im Kampf gegen die PKK gespielt hatte. Siehe dazu auch Gladio.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Talat Turhan, „Derin Devlet“ (Tiefer Staat), Verlag Ileri, Istanbul, November 2005, ISBN 9756288671
  2. Eine Quelle in Englisch, S. 6
  3. a b Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV): Jahresbericht 1997, ISBN 975-7217-22-0, in der türkischen Fassung steht die Aussage auf S. 7
  4. Nachricht über die Entlassung des Staatsanwaltes Ferhat Sarikaya, 20. April 2006 (türkisch) türkischer Fernsehsender
  5. Meldung im Wochenbericht 45/2006 des Demokratischen Türkeiforums (aufgerufen am 31.01.2009)
  6. Siehe Wochenbericht 25/2006 des Demokratischen Türkeiforums (aufgerufen am 31.01.2009)
  7. Siehe Wochenbericht 20/2007 des Demokratischen Türkeiforums (aufgerufen am 31.01.2009)
  8. Siehe Wochenbericht 27/2007 des Demokratischen Türkeiforums (aufgerufen am 31.01.2009)
  9. Siehe Wochenbericht 51/2007 des Demokratischen Türkeiforums (aufgerufen am 31.01.2009)
  10. http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news91866.htm
  11. Kemal Yamak: Gölgede Kalan İzler ve Gölgeleşen Bizler (Spuren im Schatten und Wir als Schatten), Dogan Kitap, January 200, ISBN 975-293-415-3
  12. Kenan Evren in Anıları (Memoirs of Kenan Evren). Istanbul 1990, p. 431
  13. vgl. Nachricht von CNN Türk
  14. vgl. Nachricht in Radikal vom 28. Januar 2007
  15. René Althammer, Sabine Küper: Heroinschmuggel aus der Türkei. In: Rundfunk Berlin-Brandenburg. 17. April 1997. Abgerufen am 15. Oktober 2008.

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