Empiriokritizismus

Empiriokritizismus

Der Empiriokritizismus ist eine vornehmlich erkenntnistheoretisch orientierte philosophische Strömung innerhalb der Bewegung des Positivismus in der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg.

Der Begründer des Empiriokritizismus war Richard Avenarius, der auch den Namen prägte. Als sein einflussreichster Vertreter ist Ernst Mach anzusehen.

Gegenstand

Im Rückgriff auf die Lehren von David Hume und George Berkeley sieht der Empiriokritizismus seine erste Aufgabe darin, durch Analyse der Empfindungen den Begriff der Erfahrung so rein wie möglich herauszuarbeiten und ihn von allem metaphysischen Beiwerk (die Tatsache der objektiven Existenz der objektiven Realität außerhalb des Bewusstseins und der Abbildcharakter der Erkenntnis) zu reinigen. Im Ergebnis kommt der Empiriokritizismus zu der These, dass die objektive Realität aus Empfindungen als „Elementen“ alles Wirklichen und Empfindungskomplexen bestehe. Die materialistische These, dass durch die Empfindungen ein von ihr unabhängiger (objektiver) Inhalt gegeben ist, wird als metaphysische Annahme abgelehnt. „Die Empfindungen sind … keine Symbole (d.h. Abbilder) der Dinge. Vielmehr ist das Ding ein Gedankensymbol für einen Empfindungskomplex von relativer Stabilität. Nicht die Dinge (Körper), sondern Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten sind eigentliche Elemente der Welt.“ (Mach).

Von einer solchen Position aus muss natürlich die Grundfrage der Philosophie dem Empiriokritizismus als Verkehrtheit erscheinen. „Die Materie ist für uns nicht das erste Gegebene. Dies sind vielmehr die Elemente (die in gewisser bekannter Beziehung als Empfindung bezeichnet werden) …“ (Mach). Die Möglichkeit der Existenz einer vom Bewusstsein, also auch von Empfindung und Wahrnehmung unabhängigen objektiven Realität ist für den Empiriokritizismus nichts weiter als eine metaphysische Erfindung. Nicht viel anders betrachtet der Empiriokritizismus die Kategorien. Kausalität, Notwendigkeit usw. existieren nicht objektiv, sondern sind bloße Gedankensymbole, die sich aus Gewohnheit herleiten.

Ausgehend von diesen philosophischen Grundlagen formuliert Mach dann als Aufgabe der Wissenschaft:

  1. Die Gesetze des Zusammenhangs der Vorstellungen zu ermitteln (Psychologie).
  2. Die Gesetze der Empfindungen (Wahrnehmungen) aufzufinden (Physik).
  3. Die Gesetze des Zusammenhangs der Empfindungen und Vorstellungen klarzustellen (Psychophysik).

Durch die Annahme, dass die objektive Realität nur aus Empfindungen und nicht aus materiellen Dingen besteht, fällt der Gegenstand der Psychologie und Physik zusammen. Der Unterschied zwischen beiden Wissenschaften ist kein Unterschied des Gegenstandes, sondern lediglich der Betrachtungsweise.

Da die Existenz der materiellen Welt geleugnet wird, geht es nicht um ihre Erkennbarkeit. Sofern Empiriokritiker von Erkenntnisfähigkeit sprechen, meinen sie die Analyse der Empfindungen und Empfindungskomplexe. Die Wissenschaft untersuche weder objektive Gesetze noch kausale Beziehungen.

Die Wissenschaft wird auf die Analyse von Empfindungen reduziert. So untersucht nach Mach die Physik nicht vom Bewusstsein unabhängige Wechselwirkungen, sondern jene Beziehungen zwischen Empfindungen, die wir als Außenwelt bezeichnen. Psychologie und Physik haben de facto den gleichen Gegenstand, da ja die objektive Realität aus Empfindungen besteht. Weder durch die Praxis noch durch das Experiment können wir die Aussagen und Aussagensysteme überprüfen. An ihre Stelle tritt das Prinzip der Denkökonomie: „Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung oder Vorbildung von Tatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst“ (Mach). Kriterien wie Einfachheit des mathematischen Ausdrucks treten an die Stelle der Überprüfung unserer Aussagen durch die Praxis.

Spielarten

Empiriomonismus

Der Empiriomonismus wurde von A. Malinowski (Pseudonym A. A. Bogdanow) begründet.

Mit der Niederlage der russischen Revolution von 1905 gewann der Empiriomonismus Einfluss auf Angehörige der russischen Intelligenz. Die weltanschauliche Grundkonzeption des Empiriomonismus entspricht der des Empiriokritizismus. Bogdanow versuchte, eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die auf den Anschauungen von Avenarius und Mach beruht, und versuchte dabei den Eindruck zu erwecken, dass er dabei die Erkenntnisse von Marx weiterentwickelte.

Die daraus entwickelte Revision des historischen Materialismus basiert auf einer Identifizierung von Materie und Bewusstsein: „Die Sozialität ist vom Bewusstsein untrennbar. Das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche Bewusstsein im genauen Sinn dieser Worte sind identisch.“ (Aus der Psychologie der Gesellschaft)

Durch die damit verbundene Verneinung der Existenz der objektiven Realität und ihrer Gesetze verbindet der Empiriomonismus die Ablehnung materieller Gesetze der Gesellschaft mit der Energetik. Soziale Auslese als Steigen oder Sinken der Energie wird als Grundgesetz der Gesellschaft bestimmt.

Empiriosymbolismus

Empiriosymbolismus ist ebenfalls eine besondere Form des Empiriokritizismus und wurde von P.S. Juschkewitsch entwickelt.

Der Empiriosymbolismus vertrat in den wesentlichen Fragen die Auffassungen von Avenarius und Mach wie auch den Agnostizismus von I. Kant. Gemäß dem Prinzip der Denkökonomie seien Aussagen über Naturobjekte und Theorien „Empiriosymbole“, die in keiner Beziehung zur materiellen Welt stehen. Deshalb sei auch die von Marx und Engels begründete Theorie von der materiellen Einheit der qualitativ unendlichen Welt nicht wissenschaftlich beweisbar.

Literatur

  • R. Avenarius „Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung“, 1876; „Kritik der reinen Erfahrung“, 1888-1890
  • E. Mach „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“, 1900; „Erkenntnis und Irrtum“, 1905
  • A. A. Bogdanow „Die Grundelemente der historischen Naturauffassung“, 1899; „Aus der Psychologie der Gesellschaft“, 1903; „Empiriomonismus“, 1905 bis 1907
  • P. S. Juschkewitsch „Materialismus und kritischer Realismus“, 1908
  • W. I. Lenin „Materialismus und Empiriokritizismus“ (Originaltitel: Matepiaлизmъ и Эmпиpioкpитицизmъ), Erstauflage Mai 1909; Band 14 der Lenin-Werke, 1962

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