Essentielle Thrombozythämie

Essentielle Thrombozythämie
Klassifikation nach ICD-10
D47.3 Essentielle (hämorrhagische) Thrombozythämie
ICD-O 9962/3
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Die essentielle Thrombozythämie (oft abgekürzt ET) ist eine myeloproliferative Erkrankung, bei der es zu einer Thrombozytose, d. h. einer starken Vermehrung der Thrombozyten (Blutplättchen) im Blut kommt.[1]

Inhaltsverzeichnis

Epidemiologie

Die Inzidenz beträgt nach neueren Studien in den USA und Schweden etwa 2,5 Personen auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Aufgrund der relativ normalen Lebenserwartung ist die Prävalenz deutlich höher. Zweigipflige Altersverteilung, zw. 20 und 40 bzw. 60 und 70 Jahren. 10–25 % der Patienten sind unter 40 Jahren. Die Erkrankung ist bei Frauen häufiger, das Verhältnis weiblich/männlich beträgt etwa 2:1.

Pathogenese

Bis 2005 waren die molekularen Ursachen der 3 klassischen Philadelphia- negativen MPS (PV, ET, IMF) noch unbekannt. Fünf Forschungsgruppen haben 2005 innerhalb von 6 Wochen Arbeiten veröffentlicht, in denen unabhängig voneinander eine Mutation in der Tyrosinkinase JAK2 (JAK2-Mutation-V617F) beschrieben wurde. Bei dieser Mutation kommt es an der Position 617 des Proteins zu einem Austausch von Phenylalanin durch Valin. JAK2 beeinflusst die Signalübermittlung für verschiedene hämatopoetische Zytokine, wie Erythropoietin, Thrombopoetin und G-CSF. Es wurde gezeigt, dass das mutante JAK2 V617F in Zellen zu vermindertem aktivem Zelltod durch Apoptose und zu einem Wachstumsvorteil führt. Dieser Vorteil ist jedoch nur gering, was zu dem in der Regel langsamen klinischen Verlauf der Ph-negativen MPS passt. Die Mutation kommt innerhalb der MPS mit unterschiedlicher Häufigkeit vor. Die 5 Studien zeigen eine mittlere Frequenz bei der PV von 74 %, bei der ET von 29 % und bei der IMF von 43 %. Bei gesunden Probanden und reaktiven Erythrozytosen und Neutrophilien konnte sie nicht nachgewiesen werden. Patienten mit der Mutation hatten eine längere Krankheitsdauer als solche ohne und hatten signifikant mehr Thrombosen, Blutungen und sekundäre Fibrosen. In einem erheblichen Prozentsatz von PV, ET und IMF konnte aber keine JAK V617F nachgewiesen werden. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass noch eine andere somatische Mutation vorliegt, die bisher nicht identifiziert wurde. Diese ginge der JAK2 V617F voraus und würde den Beginn des MPS bedeuten. Die erst danach erworbene Mutation JAK2 V617F könnte die Krankheit aggressiver machen, und somit auch die höhere Komplikationsrate bei den Trägern der Mutation erklären.

Es bedarf jedoch weiterer Studien, um dieses Zweischrittmodell zu beweisen und die andere Mutation zu finden. [1]

Symptome

Mikrozirkulationsstörungen oder funktionelle Beschwerden sind die häufigsten Symptome. Thromboembolische Komplikationen sind die Hauptursache der Morbidität und Mortalität der Erkrankung. Ein erhöhtes Risiko besteht für Schlaganfall und Herzinfarkt. Wurden Blutungsereignisse früher als häufige Symptome der ET betrachtet, zeigen neuere Untersuchungen, dass größere oder lebensbedrohliche Blutungen bei der ET eher selten auftreten und meist nur bei sehr hohen Plättchenzahlen beobachtet werden.

Andere Symptome können durch die mangelnde Durchblutung von Körperteilen hervorgerufen werden:

  • Schmerzen beim Gehen (mangelnde Beindurchblutung)
  • Leere im Kopf
  • Sehstörungen

und im fortgeschrittenem Stadium kommen hinzu:

  • Schmerzen im Oberbauch durch Vergrößerung der Leber und der Milz

Ca. ein Drittel aller ET-Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ohne Symptome und bleiben häufig über viele Jahre beschwerdefrei.

Klinik und Verlauf

Heute wird die Diagnose bzw. die Verdachtsdiagnose meist im asymptomatischen Stadium im Rahmen einer Routineuntersuchung des Blutbildes gestellt. Seltener führen die typischen Komplikationen der Erkrankung wie venöse und arterielle Thrombosen, evtl. mit nachfolgenden Embolien, oder auch Blutungen zur Diagnose. Die venösen Thrombosen können an typischer Stelle lokalisiert sein (tiefe Beinvenenthrombose), aber auch an atypischen Lokalisationen auftreten (Lebervenenthrombose, sog. Budd-Chiari-Syndrom, Pfortaderthrombose). Blutungen treten typischerweise bei extrem hohen Thrombozytenzahlen auf (> 2.000.000/µl) und sind auf eine Funktionsstörung der Thrombozyten zurückzuführen. Weitere Komplikationsmöglichkeiten sind Mikrozirkulationsstörungen, die zu einer Reihe von unspezifischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Mißempfindungen in Händen und Füßen, Sehstörungen, brennende Schmerzen mit Rötung in Händen und Füßen (sog. Erythromelagie) führen können.

Diagnostik

Die Verdachtsdiagnose ergibt sich bei wiederholtem Nachweis von Thrombozytenzahlen > 600.000/µl ohne Hinweis auf Ursachen für eine reaktive Thrombozytose. Gelegentlich findet sich zusätzlich eine leichte Leukozytose. Die Diagnostik erfordert u. a. zur Abgrenzung von anderen myeloproliferativen Erkrankungen eine Knochenmarksuntersuchung. Mittels des Nachweises einer JAK2-Mutation ist heute in vielen Fällen eine molekularbiologische Bestätigung der Diagnose und Abgrenzung einer reaktiven Thrombozytose möglich.

WHO-Diagnosekriterien, modifiziert nach DGHO[2]
Kriterium Bedingungen
A1 Plättchenzahl anhaltend > 600.000/µl
A2 ET-typische Knochenmarkhistologie mit vergrößerten, reifen Megakaryozyten
A3 Nachweis der JAK2-Mutation oder der Überexpression des Gens PRV1
B1 Ausschluss einer Polycythaemia vera PV, chronischen myeloischen

Leukämie CML, chronischen idiopathischen Myelofibrose ( cIMF), myelodysplastischen Syndroms MDS, reaktiven Thrombozytose

Die Diagnose ET ist gesichert, wenn

  • A1 plus A2 und B1 oder
  • A2 plus A3 und B1 erfüllt sind.

Allerdings gibt es Übergangsfälle zwischen ET und PV (Polycythaemia vera ), welche sich erst im späteren Verlauf eindeutig zuordnen lassen.

Therapie

Es gibt keine gesicherten randomisierten Studien zum optimalen Zeitpunkt für den Therapiebeginn. Um für jeden Patienten eine optimale Behandlungsstrategie zu finden, wird nach den Leitlinie der DGHO[2] zunächst eine Risikoeinordnung vorgenommen. Diese unterscheidet Hoch-, Intermediär- und Niedrig-Risikopatienten.

Hoch-Risikopatienten

  • Kriterien
    • Alter > 60 Jahre oder
    • thromboembolische bzw. schwere Blutungskomplikationen im Zusammenhang mit der ET oder
    • Plättchenzahl > 1.500.000/µl.
  • Behandlung
immer Chemotherapie mit den Optionen

Intermediär-Risikopatienten

individuelle Abwägung der Vor- und Nachteile einer zytoreduktiven Behandlung,
evtl. nur Einsatz niedrig dosierter Acetylsalicylsäure.

Niedrig-Risikopatienten

  • Kriterien
    • Alter < 60 Jahre und
    • Plättchenzahl < 1.500.000/µl und
    • asymptomatisch oder nur Mikrozirkulationsstörungen.
  • Behandlung
Der Nutzen einer zytoreduktiven oder Acetylsalicylsäure-Therapie ist nicht gesichert, derzeit werden neben der Überwachung der Blutwerte lediglich die folgenden allgemeinen Hinweise für ET-Patienten empfohlen:
    • Gewichtsnormalisierung,
    • regelmäßige Bewegung,
    • Vermeiden von Flüssigkeitsmangel (Exsikkose) und langem Sitzen,
    • Beachten von Frühsymptome einer Thrombose, in diesem Fall sofortigen Arztkontakt

Literatur

  1. Griesshammer, Martin et al.: Essenzielle Thrombozythämie: Klinische Bedeutung, Diagnostik und Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt. Nr. 104, 2007, S. 2341 (Artikel).
  2. a b Griesshammer M, Gisslinger H, Heimpel H, Lengfelder E, Reiter A: Chronische myeloproliferative Erkrankungen. Leitlinien der DGHO

Weblinks

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