Giljakisch

Giljakisch

Das Niwchische (oder veraltet Giljakische) wird von etwa 700 Niwchen gesprochen, die in Russland an der Mündung des Amur und auf der Insel Sachalin leben. Niwchisch ist eine isolierte Sprache, also mit keiner anderen bekannten Sprache genetisch verwandt.

Es wird jedoch mit anderen sibirischen Sprachen zur Gruppe der paläosibirischen Sprachen zusammengefasst. Die paläosibirischen Sprachen bilden keine genetische Einheit, sondern eine Gruppe altsibirischer Restsprachen, die schon vor dem Eindringen uralischer, turkischer und tungusischer Ethnien dort gesprochen wurden.

Inhaltsverzeichnis

Ethnolinguistischer Hintergrund

Das Niwchische oder Giljakische ist eine isolierte Sprache mit noch etwa 700 Sprechern (Zählung 2002) aus einer ethnischen Gruppe von rund 5.000 Personen (2002: 5.162), die in kleinen Einheiten als Fischer und Jäger auf Sachalin (in den Dörfern Nekrassowka u. Nogliki, Rajon Poronaisk in Südsachalin) und im Mündungsgebiet des Amur (Chabarowsk, Komsomolsk am Amur, Ocha, Nikolajewsk am Amur) – oft in der Gemeinschaft mit den tungusischen Negidalen und Russen – leben.

Die Selbstbezeichnung von Volk und Sprache ist ńivx, was „Mensch“ bedeutet (genauere Sprachbezeichnung: mer ńivx dif, von mer „wir“, ńivx „Mensch“ u. tif „Sprache“). Der Name giljak stammt von der Mandschu-Bezeichnung giljami, die mit der russischen Endung /-jak/ erweitert wurde.

Anteil der Sprecher an der ethnischen Gruppe

Der Anteil der ethnischen Niwchen, die ihre Sprache noch beherrschen, nahm in den letzten Jahrzehnten stark ab, wie die folgende Übersicht der Volkszählungsdaten zeigt. Die meisten kompetenten Sprecher des Niwchischen sind älter als 55 Jahre, Kinder sprechen kein Niwchisch mehr, praktisch alle Niwchen sprechen heute auch Russisch.

Ethnische Niwchen und Anteil der Niwchisch-Sprecher

Jahr Ethnische
Niwchen
Niwchisch-
Sprecher
Prozent
1926 4.100 4.100 100%
1959 3.700 2.800 76%
1970 4.400 2.200 50%
1979 4.400 2.100 48%
1989 4.700 1.100 23%
2002 5.162 688 13%

Es ist von einem weiteren Rückgang der Sprecherzahlen in den letzten Jahren auszugehen. Das Niwchische ist also eine vom baldigen Aussterben bedrohte Sprache.

Dialekte

Niwchisch gliedert sich in drei Dialekte: Amur, Nordsachalin und Ostsachalin, wobei Amur und Ostsachalin wegen deutlicher Unterschiede in Phonetik, Grammatik und Lexikon nicht wechselseitig verständlich sind. Der Nordsachalin-Dialekt nimmt eine Zwischenposition ein. (Manche Forscher sehen die Dialekte als separate Sprachen an; dann wäre das Niwchische eine kleine Sprachfamilie und keine isolierte Sprache.) Das Ostsachalin-Niwchische hat einige Lehnwörter aus dem Ainu und Japanischen aufgenommen, während sonst der Einfluss der tungusischen Sprachen größer war. In den letzten Jahrzehnten hat der russische Lehn- und Fremdwortbestand stetig zugenommen, allerdings werden für die Begriffe des traditionellen täglichen Lebens nach wie vor durchgehend niwchische Bezeichnungen verwendet.

Beziehungen zu anderen Sprachen

Vom Standpunkt der Morphologie und der Syntax könnte man das Niwchische als eine typische altaische Sprache ansehen, was allerdings nichts über seine genetischen Beziehungen aussagt. Es gibt zahlreiche Versuche, die Verwandtschaft des Niwchischen mit anderen Sprachen nachzuweisen. Insbesondere wurden dazu Tungusisch, Tschuktschisch, Eskimo-Aleutisch und Japanisch herangezogen.

Joseph Greenberg fasst das Niwchische als eine Untereinheit seiner eurasiatischen Makrofamilie auf (Greenberg 2000). Darin folgt ihm im Wesentlichen Kortlandt (2004). Auch frühere Vertreter einer Verwandtschaft des Indogermanischen und Uralisch-Jukagirischen sprachen sich für einen genetischen Zusammenhang des Niwchischen mit verschiedenen eurasiatischen Sprachen aus. Die Argumente für solche genetischen Beziehungen sind für viele Forscher allerdings bisher nicht überzeugend gewesen, so dass das Niwchische weiterhin mehrheitlich als isolierte Sprache angesehen wird. Die Einordnung in die allein areal definierte Restgruppe der paläosibirischen Sprachen ist genetisch nicht relevant.

Schriftsprache

Nach frühen Versuchen im Jahre 1880, die wieder in Vergessenheit gerieten, wurde 1931 für das Niwchische eine auf der lateinischen Schrift und dem Amur-Dialekt basierende Schriftsprache eingeführt (es erschienen einige Nummern einer niwchischen Zeitung). 1953 fand der Übergang zur kyrillischen Schrift mit einigen Sonderzeichen statt, die der niwchische Ethnologe Taksami 1980 besser an die niwchische Phonetik anpasste. Wurde die niwchische Schriftsprache zunächst noch in der Primarausbildung benutzt, so findet sie seit den 1960er Jahren auch dafür keine Verwendung mehr. Auch als (mündliche) Unterrichtssprache im Primarbereich ist das Niwchische ganz dem Russischen gewichen. Der niwchische Dichter Wladimir Sangi publizierte neben russischen Werken auch einige auf Sachalin-Niwchisch.

Seit 1990 erscheint in der Oblast Sachalin die Monatszeitung Нивх диф/Niwch dif („Niwchische Sprache“) auf Niwchisch und Russisch.

Sprachcharakteristik

Phonetik und Phonologie

Das Niwchische weist ein reiches Konsonanteninventar auf:

stimmlose Plosive stimmlose aspirierte Plosive stimmhafte Plosive stimmlose Frikative stimmhafte Frikative Nasale
Labiale p p‘ b f v m
Dentale t t‘ d ř r n
Palatale t' t'‘ d' s z ɲ
Velare k k‘ g x ɣ ŋ
Uvulare q q‘ ɢ χ ʁ

Außerdem gibt es noch die Konsonanten j, l und h.

Das Vokalsystem ist relativ einfach: a, e, i, ə, o, u.

Lange Vokale erscheinen oft als Ergebnis der Elision eines stimmhaften velaren oder uvularen Frikativs, z. B.:

  • o:la < oγla „Junge“

Sie haben Phonemcharakter, wie folgendes Beispiel zeigt:

  • t‘u:r „Feuer“ – t‘ur „Erbsen“

Morphonologie

Die Konsonanten sind in Abstufungs- oder Alternationsserien eingeteilt, z. B. /p-v-b/, /t-r-d/, /t'-z-d'/, /k-γ-r/ (insgesamt gibt es 20 solcher Serien). In Abhängigkeit vom Auslaut des vorausgehenden Wortes durchlaufen die worteinleitenden Konsonanten die Allophone einer Serie (siehe auch Anlautmutation):

Beispiel (1):

  • təf „Haus“ (lexikalische Form mit anlautendem /t-/))
  • ətək rəf „Vaters Haus“ (/r-/ nach k-Laut)
  • oγlagu dəf „Haus der Kinder“ (/d-/ nach Vokal)

Beispiel (2):

  • vəkz-d' „verlieren“
  • nux pəkz-d' „eine Nadel verlieren“

Nominalflexion

Die Nominalflexion ist agglutinierend, sie unterscheidet durch Suffixe Numerus (Singular und Plural) sowie 8 Kasus (Fälle). Der Pluralmarker ist /-ku/ (Allophone: /-xu/, /-gu/ usw.):

  • ətək „Vater“ → ətək-xu „Väter“
  • oγla „Junge“ → oγla-gu „Jungen“

Neben dem unmarkierten Nominativ-Absolutiv gibt es u. a. einen Dativ-Akkusativ (Suffix /-ax/), Dativ-Aditiv (/-rox/), Lokativ (/-uin/) und Instrumentalis (/-γir/). (Das Niwchische ist keine Ergativsprache.)

Außerdem gibt es im Niwchischen pronominale Possessivpräfixe, im Singular sind dies /ńi-/, /t'‘i-/ und /p‘i-/:

  • ń-rəf „mein Haus“
  • t'‘-rəf „dein Haus“
  • p‘-rəf „sein/ihr Haus“

Personalpronomen

Im System der niwchischen Personalpronomen fällt in der 1. Person eine Dualform und im Plural die Unterscheidung „exklusiv“ (die angesprochene Person ist ausgeschlossen) gegenüber „inklusiv“ (die angesprochene Person ist eingeschlossen) auf:

Person Singular Dual Plural
1. ńi megi ńəŋ exklusiv, mer inklusiv
2. t'‘i t'‘əŋ
3. if ivŋ

Zahlwörter

Eine interessante Eigentümlichkeit des Niwchischen ist die Existenz verschiedener Serien von Zahlwörtern, die in Abhängigkeit von der Nominalklasse des Gezählten benutzt werden (ähnlich wie z. B. die Numeralklassifikatoren in einer Reihe von ost- u. südostasiatischen Sprachen).

Zum Beispiel heißt das Zahlwort „drei“:

  • t'aqr bei Menschen
  • t'or bei Tieren
  • t'em bei Booten
  • t'for bei Netzen usw.

Insgesamt gibt es 26 solcher Klassen. Stabil bleibt bei allen 26 Zahlwörtern für „drei“ der einleitende Konsonant /t'-/, der offensichtlich die eigentliche Zahlinformation enthält.

Eine ähnliche Situation liegt bei allen Zahlwortserien vor, z. B. bei „eins“:

  • ńim für Boote
  • ńiř für Hundeschlitten usw.

Bei „zwei“:

  • mim bei Booten
  • miř bei Hundeschlitten usw.

Verbalflexion

Das niwchische Verbalsystem zeichnet sich durch Polysynthese und Inkorporation aus.

Es unterscheidet die Kategorien Genus verbi (Aktiv, Hortativ, Reflexiv; ein eigentliches Passiv gibt es nicht), Aspekt (perfektiv, iterativ, habituell, durativ), Modus und Tempus in affirmativer, negativer, interrogativer und affektiver Version. Auf die äußerst komplexe Formenbildung kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Erwähnt sei hier nur der allgemeine „Finitheits-Marker“ -d'.

Die Sprache verfügt über eine Reihe von speziellen Gerundien bzw. Konverben, mit deren Hilfe die Satzverknüpfung realisiert wird. Dabei kann mit Hilfe dieser Verbformen in den komplexen Sätzen auch Subjektsgleichheit bzw. -ungleichheit zwischen den Teilsätzen zum Ausdruck gebracht werden (s. Switch-Reference).

Syntax

Das Niwchische hat die Grundwortstellung Subjekt-Objekt-Verb.

Textprobe

Originalversion aus Panfilov (1965, S. 222):

П‘ат'икхэ п‘нанакхэ пан'д'. Ат'ик мат'кад'. К‘уγэ пун'д'γэ борор п‘ур т'эврq χад'. Иγрор ршыкҥан нанак т'эврq тупрш фывркт'. Т‘ӯртох ршатот ин'д'γу. Һoҥгут‘умкэ ат'ик ырк пилра палрох мырра чолҥай хура т‘оχ к‘ура q‘отр к‘ура. [...]

Transkription nach Comrie (1981, S. 276):

p‘at'ikxe p‘nanakxe pańd'. at'ik mat'kad'. k‘uɣe puńd'ɣe boror p‘ur t'evrq χad'. iɣror řəkŋan nanak t'evrq tupř fəvrkt'. t‘uurtox řatot ińd'ɣu. hoŋgut‘umke at'ik ərk pilra palrox mərra t'‘olŋaj xura t‘oχ k‘ura q‘otr k‘ura.

Übersetzung:

„Ein jüngerer Bruder und eine ältere Schwester wuchsen zusammen auf. Der Bruder war klein. Er nahm Pfeil und Bogen, ging hinaus und schoss Vögel. Immer wenn er sie getötet hatte, brachte er sie herbei, und die ältere Schwester rupfte die Vogelfedern. Nachdem sie sie auf dem Feuer gekocht hatten, aßen sie sie. Als sie so lebten, war der Bruder schon groß und ging immer hinauf in den Wald und tötete Rentiere, tötete Elche und tötete Bären.“

Siehe auch

Literatur

  • George L. Campbell: Concise Compendium of the World's Languages. Routledge, London u. New York 1995.
  • Bernard Comrie: The Languages of the Soviet Union. Cambridge University Press, Cambridge etc. 1981. S. 266–272.
  • Joseph H. Greenberg: Indo-European and its Closest Relatives. The Eurasiatic Language Family. Bd. 1: Grammar. Stanford University Press 2000.
  • Wilhelm Grube: Giljakisches Wörterbuch. Bd. 3 von L. v. Schrenck: Reisen und Forschungen im Amur-Lande in den Jahren 1854–1856. St. Petersburg 1892.
  • Ekaterina Gruzdeva: Nivchskij jazyk. In: Jazyki mira. Bd. 4. Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau 1997, S. 139–154.
  • Ekaterina Gruzdeva: Nivkh (Languages of the World). LINCOM Europa, München 1998. ISBN 3-89586-039-5.
  • Frederik Kortlandt: Nivkh as a Uralo-Siberian language. In: Per aspera ad asteriscos (Festschrift für Jens Elmegård Rasmussen). Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck 2004.
  • Johanna Mattissen: Dependent Head Synthesis in Nivkh: A Contribution to a Typology of Polysynthesis. John Benjamins, Amsterdam and Philadelphia 2003.
  • Akira Nakanome: Grammatik der Nikbun-Sprache (des Giljakischen). Aus dem Japanischen übersetzt von W. Othmer. Osaka, 1927.
  • Vladimir Z. Panfilov: Grammatika nivchskogo jazyka (2 Bde.). Moskau u. Leningrad 1962–1965.
  • Valentina N. Savel’eva u. Čuner M. Taksami: Russko-nivchskij slovar'. 1965. Sovetskaja Ėnciklopedija, Moskau 1965.
  • Valentina N. Savel’eva u. Čuner M. Taksami: Nivchsko-russkij slovar’. Sovetskaja Ėnciklopedija, Moskau 1970.

Weblinks


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