Islamischer Sozialismus

Islamischer Sozialismus

Arabischer Sozialismus (arabisch ‏الاشتراكية العربية‎, DMG al-ištirākiyya al-ʿarabiyya) ist eine Variante des sogenannten Dritten Weges zwischen Kommunismus (Sozialismus) und Kapitalismus.

Inhaltsverzeichnis

Merkmale

Der arabische Sozialismus ist seinem Wesen nach anti-imperialistisch, aber auch anti-atheistisch. Seine islamischen Anhänger berufen sich auf die Koran-Suren 9, Verse 34 und 35 (Sozialismus) und Sure 42, Vers 36 (Demokratie).

  • Sure 9, 34-35: Aber wer da Gold und Silber aufspeichert und es nicht spendet in Allahs Weg, ihnen verheiße schmerzliche Strafe.
  • Sure 42, 34-36: Was aber bei Allah ist, ist besser und bleibender für diejenigen, welche ... auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten und ihre Angelegenheiten in Beratung (Schura) unteinander erledigen und von dem, womit wir sie versorgten, spenden.

Demnach sei der Prophet Muhammad der „Vorbeter der Sozialisten“, und der frühe Islam verkörpere den ersten sozialistischen Staat. Nach dem Ende der sozialistischen Ära 1917–1991 begann sich ein islamischer Sozialismus (arabisch ‏الاشتراكية الإسلامية‎, DMG al-ištirākiyya al-islāmiyya) zu formieren. Arabische Sozialisten betonen den staatlichen Zentralbesitz, die privaten Eigentumsanteile, die naturhistorischen Eigenheiten im Orient und den Islam. Nach dem Erscheinen von Ahmad Sa’ids Buch Der arabische Sozialismus (1959) diente der Begriff zur Abgrenzung vom „radikalen, kommunistischen oder Staatssozialismus“ Osteuropas.

Grundlegend für den arabischen Sozialismus waren die Umstürze in Ägypten 1952 und Libyen 1969: In einem zweiten Schub der Entkolonialisierung besetzten nationalistische Militärs die kolonialen Überbauformen. Nach der Niederlage im Sechstagekrieg 1967 verlor der arabische Sozialismus an Boden.

Unterschiede zum Sozialismus europäischer Prägung bestehen

  • im arabischen Nationalismus,
  • in der Instrumentalisierung der Religion, vor allem des Islams,
  • in der stufenweisen, harmonischen Entwicklung anstelle von Klassenkampf, Gewalt und der Diktatur einer Klasse,
  • in der Bevorzugung des privaten und genossenschaftlichen Eigentums vor dem Kollektiveigentum.

Hierbei wirkten folgende Faktoren erschwerend:

Da der arabische Sozialismus theoretisch insgesamt wenig ausgearbeitet ist, wird er mit einer enormen Kluft zwischen Anspruch und Realität pragmatisch gehandhabt.

Geschichte

Das arabische Wort für Sozialismus, ischtirâkîya, stammt von der Konsonantenwurzel sch-r-k, die in vorislamischen Zeiten auf der Arabischen Halbinsel Gemeinbesitz bzw. Polytheismus (Schirk) bezeichnete, später auch in Koran- und Hadith-Texten. Erstmals erklärte ein englisch-türkisches Lexikon 1861 ishtirâk als „Sozialismus“.

Die ersten arabischen Sozialisten spalteten sich in kommunistische, sozialdemokratische, nationalistische und religiöse (etwa islamische) Sozialisten.

Erste anonyme sozialistische Schriften auf Arabisch entstanden bei den Minderheiten: den Griechen Alexandrias, Italienern Kairos, Christen Libanons und Kopten Ägyptens. Auch jüdische Einwanderer und nach 1905 russische Emigranten propagierten ihre sozialistischen Ideen. 1910 erschien in New York das Journal der ersten Arabischen Sozialistischen Gesellschaft. 1915 erschienen erste Werke auf Arabisch, etwa der „Reformkatalog“ des Ägypters al-Mansuri.

1919 entstanden in Palästina die ersten Parteien arabischer Kommunisten. 1921 wurde Ägyptens erste sozialistische Partei gegründet, 1922 gründete Husni al-Urabi die erste kommunistische Partei, ein Mitglied der Komintern. In den 1920er-Jahren grenzten sich „Internationalistische Sozialisten“, in Kairo von Komintern-Gesandten wie Joseph Rosenthal und Constantine Weiss angeführt, von den „Arabischen Sozialisten“ ab. Der arabische Sozialismus teilte sich hierauf in sozialdemokratische, nationale und islamische Strömungen. Zur zentralen Strömung nach 1936 wurden die von Militärs getragenen nationalistischen Arabischen Sozialisten. 1941–1943 gründeten Michel Aflaq und Salah ad-Din al-Bitar die Baath-Partei, die 1953 mit Al-Hauranis Arabischer Sozialistischer Partei fusionierte.

Der Höhepunkt des arabischen Sozialismus begann ab Mitte der 1950er-Jahre, als Offiziere um Nasser in Ägypten durch einen Putsch an die Macht kamen. Grundlegend waren hierbei die „Charta der Nationalen Aktion“ Ägyptens (1962) und die ägyptische Verfassung 1964. Infolge von Spannungen zwischen den Blöcken während des Kalten Krieges gewann der arabische Sozialismus in Jemen, dem Sudan, Irak, Syrien, Libyen und Algerien an Boden. Nach 1967 formierten sich unter arabischen Palästinensern gewaltbereite marxistisch-leninistische und maoistische Gruppen. In Libyen begann sich nach Gaddafis Machtergreifung 1969 ein Volkssozialismus zu etablieren, der im Grünen Buch (1975) theoretisch begründet wurde.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa 1991 spalteten sich arabische Sozialisten in nationalistische, säkulare und religiöse Kreise auf. Als nationalistisch-säkulare Variante gelten die Doktrin und die Praktiken Saddam Husseins, der 1979 in Irak an die Macht gelangte. Anfang der 1980er formierte sich in Ägypten um den Kairoer Philosophie-Professor Hasan Hanafi eine „islamische Linke“, die Sozialismus und Religion zu vereinigen sucht.

Erscheinungsformen

  • Der arabische Sozialismus Ahmed Ben Bellas (1963) und Houari Boumediennes in Algerien;
  • der Staatssozialismus Dschafar Muhammad an-Numairis im Sudan (1969);
  • der „arabische Sozialismus“ des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und seiner „Arabischen Sozialistischen Union“ (Einheitspartei, ASU), auch als Nasserismus bezeichnet;
  • die frühere libysche Staatsform, die Dschamahiriyya, basierte laut der Dritten Universaltheorie im Grünen Buch von Muammar al-Gaddafi, der sich als Schüler Nassers betrachtete, auf direkter Demokratie – die repräsentative Demokratie gilt als undemokratisch, da nicht nur Araber und/oder Muslime, sondern auch Nichtmuslime keinen direkten Einfluss auf das Handeln der Regierung haben;
  • der „arabische Sozialismus“ der Baath-Partei (Sozialistische Partei der Arabischen Wiedergeburt), die 1963 in Syrien und Irak (bis 2003) an die Macht kam, deren Flügel aber untereinander verfeindet sind, auch als Baathismus bezeichnet;
  • der linke oder linksliberale Islam des schiitischen Ayatollahs Mahmoud Taleghani im Iran, der zwar zur „Islamischen Revolution“ beitrug, aber nach Taleghanis Tod (1979) den Konservativen und Traditionalisten unter Ayatollah Chomeini im Machtkampf unterlag. Als Nachfolger oder Schüler Taleghanis betrachten sich faktisch alle linken bzw. linksliberalen Politiker und Oppositionsgruppen im Iran, wie Mohammad Chatami, Ebrahim Yazdi, Abdolali Bazargan oder Großajatollah Hussein Ali Montazeri, vor allem aber die Volksmodjahedin im Exil. Aber auch Khomeini übernahm Taleghanis Parole „Weder Ost noch West“;
  • der drusische Sozialismus im Libanon, vertreten durch die eher persönlichen als ideologischen Anschauungen der Drusen-Führer Kamal Dschumblat bzw. seines Sohnes und Nachfolgers Walid Dschumblat. Die Dschumblat-Partei (sozialistische Fortschrittspartei, PSP) ging im Bürgerkrieg daher folgerichtig Allianzen mit linken (al-Murabitun) und kommunistischen Kräften ein, das Verhältnis zum „sozialistischen“ Syrien aber war bzw. ist wechselhaft;
  • der Bhutto-Sozialismus des einstigen pakistanischen Premiers bzw. Präsidenten Zulfikar Ali Bhutto, dessen Volkspartei (PPP) durch seine Tochter und Nachfolgerin Benazir Bhutto zwar einen Rechtsruck erfahren hat, dessen Sohn Murtaza Bhutto aber deutlich linkere Positionen vertrat;
  • Somalia unter Siad Barre. Somalia ist ein islamisches Land und war bis 1991 eine sozialistische Diktatur, die allerdings mit den USA verbündet war und gegen das kommunistische Äthiopien unter dem Derg-Regime kämpfte;
  • die nach der russischen Oktoberrevolution 1917–1922 von dem Tataren Mir Sultan Galijew und dem Aserbaidschaner Nariman Narimanov angestrebte Symbiose von Türkentum, Kommunismus und Islam innerhalb Sowjetrußlands bzw. als dessen Schwesterrepublik;
  • die Republikanischen Brüder und Schwestern unter dem sudanesischen Intellektuellen Mahmoud Mohamed Taha (1909–1985). Er entwickelte einen sozialistischen Ansatz, der seine Wurzeln teilweise in den Werken von Marx und Hegel, primär aber in der Gedankenwelt der islamischen Mystik hat. Taha und seine Anhänger, die „Republikanischen Brüder/Schwestern“, setzten sich für einen föderalistischen, demokratischen, weltlichen und sozialistischen Sudan und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein. Taha wurde mehrfach der Apostasie bezichtigt und 1985 deswegen vom Numeiri-Regime zum Tode verurteilt und hingerichtet;
  • Indonesien unter Sukarno. In Indonesien gab es weitere Beispiele eines islamisch-sozialistischen Sonderwegs (Nasakom) zwischen Nationalismus, Islam und Kommunismus.

Literatur


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