Julian Haynes Steward

Julian Haynes Steward
Julian Steward (rechts).

Julian Haynes Steward (* 31. Januar 1902 in Washington, D.C., † 6. Februar 1972) war ein US-amerikanischer Anthropologe, der durch seine Beteiligung an der Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie der kulturellen Evolution in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurde.

Biographie

Steward war der Sohn des Vorsitzenden des Board of Examiners des US-Patentbüros. Sein Onkel war der führende Vorhersager beim US Weather Bureau. Während sein Vater ein überzeugter Atheist war, verehrte seine Mutter die Christian Science. Steward zeigte als Kind kein großes Interesse an der Anthropologie, meldete sich aber im Alter von 16 Jahren am Deep Springs College in der Sierra Nevada, in dem zukünftige politische Führer entstehen sollten. Seine Erfahrung mit dem Hochgebirge und den örtlichen Stämmen der Shoshone und Paiute erweckten sein Interesse am Leben in dieser Region. Nach einem Jahr in Berkeley wechselte er zur Cornell University. Da letztere keine anthropologische Abteilung besaß, studierte er Zoologie und Biologie, während der Präsident des Colleges, Livingston Farrand, sein Interesse an der Anthropologie weiter nährte. Steward kehrte nach seinem BA-Abschluss 1925 nach Berkeley zurück, um dort seinen Ph.D. in Anthropologie zu erwerben.

Berkeley war in den 20er Jahren das Zentrum der anthropologischen Forschung. Die Disziplin gründete auf der Arbeit von Franz Boas an der Columbia University und zwei seiner Studenten, Alfred Kroeber und Robert Lowie errichteten die Abteilung in Berkeley. Zusammen mit Edward Gifford machten sie Berkeley zum Brückenkopf der Anthropologie an der Westküste. Steward erwies sich als herausragender Student und erlangte schnell Ansehen als Gelehrter mit großem Potential. Er graduierte mit der Bibliotheksarbeit unter dem Titel The Ceremonial Buffoon of the American Indian, a Study of Ritualized Clowning and Role Reversals und ging als Dozent zur University of Michigan, wo er eine anthropologische Abteilung aufbaute, die später unter der Leitung des Evolutionisten Leslie White berühmt werden sollte. 1930 zog Steward an die University of Utah, die näher an der Sierra Nevada lag und führte umfangreiche Feldforschung in Kalifornien, Nevada, Idaho und Oregon durch.

1935 begann Steward eine lange Zusammenarbeit mit dem Bureau of Indian Affairs. Er spielte die entscheidende Rolle bei der Reform der Organisation, die als New Deal for the American Indian bekannt wurde, eine Neustrukturierung, die Steward in diverse politische und finanzielle Angelegenheiten verwickelte. Für die nächsten elf Jahre wurde er zu einem Verwalter mit beachtlicher Macht und gab das Handbook of South American Indians heraus. Er nahm auch eine Stelle am Smithsonian Institute an, wo er 1943 das Institute for Social Anthropology gründete. Er arbeitete außerdem in einem Komitee zur Neuorganisation der American Anthropological Association und war an der Schaffung der National Science Foundation beteiligt. Er war bei archäologischen Tätigkeiten aktiv, wobei er den Kongress zur Einrichtung des Committee for the Recovery of Archaeological Remains (der Beginn dessen, was man heute „bergende Archäologie“ nennt) veranlasste. Zusammen mit Wendell Bennett errichtete er das Viru Valley Project, ein ambitioniertes Forschungsprogramm in Peru.

Stewards Karriere erreichte ihren Höhepunkt, als er 1946 den Vorsitz der anthropologischen Abteilung an der Columbia University übernahm, dem Zentrum der Anthropologie in den USA. Zu dieser Zeit gab es in Columbia einen Zustrom von Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, die dank des G. I. Bill of Rights hier studierten. Steward bildete schnell eine geschlossene Gesellschaft von Studenten, die einen enormen Einfluss in der Geschichte der Anthropologie haben sollten. Dazu gehörten Sidney Mintz, Eric Wolf, Stanley Diamond, Robert Manners, Morton Fried und Robert F. Murphy sowie andere beeinflusste Gelehrte wie Marvin Harris. Viele dieser Studenten nahmen an einer groß angelegten Forschungsstudie über die Modernisierung in Puerto Rico teil.

Steward ging schließlich von Columbia zur University of Illinois in Urbana-Champaign, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrte. Dort führte er eine weitere Studie - eine vergleichende Analyse der Modernisierung in elf Gesellschaften der Dritten Welt - durch. Die Ergebnisse dieser Forschung veröffentlichte er in dem dreibändigen Werk Contemporary Change in Traditional Societies.

Beiträge zur Anthropologie

Neben seiner Rolle als Dozent und Verwalter ist Steward vor allem durch seine Beiträge zum Studium der kulturellen Evolution, insbesondere des Neoevolutionismus, mit seinem Modell der kulturellen Ökologie bekannt. Während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kritisierte man die amerikanische Anthropologie wegen ihrer Generalisationen und ihrer Weigerung, weitreichendere Schlüsse aus den akribisch genauen Monographien zu ziehen. Steward brachte die Anthropologie weg von diesem partikularistischen Ansatz und entwickelte eine sozial-wissenschaftliche Richtung. Seine Theorie der multilinearen Evolution untersuchte die Art, in der sich Gesellschaften an ihre Umgebung anpassen. Dieser Ansatz war nuancierter als Leslie Whites Theorie der unilinearen Evolution, die von Denkern wie Herbert Spencer beeinflusst war. Stewards Interesse an der Evolution der Gesellschaft veranlasste ihn auch, Prozesse der Modernisierung zu untersuchen. Als einer der ersten Anthropologen erforschte er, wie die nationalen und lokalen Ebenen der Gesellschaft verbunden sind. Er bezweifelte die Möglichkeit, eine soziale Theorie der gesamten Evolution der Menschheit zu erstellen, aber er sagte, dass Anthropologen nicht auf die Beschreibung spezifischer, existierender Kulturen beschränkt seien. Er hielt es für möglich, eine Theorie aufzustellen, mit der man eine typische, gemeinsame Kultur, die spezielle Zeitalter oder Regionen repräsentiert, analysieren kann. Als entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer Kultur nannte er Technologie und Ökonomie und sekundäre Faktoren wie das politische System, Ideologien und Religion. All diese Faktoren führen die Evolution einer bestimmten Gesellschaft in mehrere Richtungen gleichzeitig, weshalb man hier von der multilinearen Evolution spricht.

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