Konzept der reflexiven Anthropologie

Konzept der reflexiven Anthropologie

Das Konzept der reflexiven Anthropologie wurde von der Soziologin Gesa Lindemann als Erweiterung zu Helmuth Plessners „Theorie der exzentrischen Positionalität“ entwickelt, welches die Stellung des Menschen und seine wechselseitige Beziehung zu seiner belebten und unbelebten Umwelt bezeichnet. Das Leben in der Gesellschaft verlangt dem Menschen danach eine Reziprozität der Perspektiven ab bzw. zwischen dem Selbst und der ihn prägenden Außenwelt.

Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden anthropologische Vorannahmen der soziologischen Forschung, die sich als Antworten auf die zwei Fragen „Was ist der Mensch?“ und „Wer ist ein Mensch?“ formulieren lassen. Anthropologie und Soziologie stehen bei der ersten Frage in einer reflexiven Beziehung; bei der zweiten Frage ist dies nicht der Fall. Hier folgt die Soziologie der anthropologischen Vorannahme, die auf der Unterscheidung zwischen Mensch und Nichtmensch aufbaut.

Unter Bezugnahme von Plessners Theorie der exzentrischen Positionalität macht Lindemann die anthropologische Unterscheidung der beiden Fragestellungen zum Mittelpunkt ihrer Ausarbeitung. Sie stellt die These auf, dass es „in sich widersprüchlich“ sei, „wenn exzentrische Positionalität die humanspezifische Komplexität der Umweltbeziehungen bezeichnet“, da „für Wesen, deren Umweltbeziehung exzentrisch ist“, es „keine Gewissheit mehr darüber“ gibt, „wessen Umweltbeziehung auf eine vergleichbare Weise komplex ist“. Daher sei es ihrer Ansicht nach unmöglich das Wissen über die Frage nach „Wer ist ein Mensch?“ als eine selbstverständliche Annahme zu betrachten. Bei Plessner endeten die beiden anthropologischen Fragestellungen in einer soziologischen Reformulierung. Anstelle der was-Frage wird danach gefragt, wie die Umweltbeziehung exzentrischer Selbste sozial geregelt wird. Anstelle der wer-Frage wird nach Prozessen gefragt, bei denen beurteilt wird, bei wem es sich um eine soziale Person handelt und bei wem nicht.

Weiterhin wurde ermittelt, dass das „Theorem der doppelten Kontingenz“ eine definierende „und empirische Forschung ermöglichende Weiterentwicklung der sozialtheoretischen Annahmen darstellt, die in der Theorie der exzentrischen Positionalität angelegt sind. Sozialität im Sinne doppelter Kontingenz setzt auf seiten der Entitäten, die zueinander in ein entsprechendes Verhältnis geraten können, eine Umweltbeziehung voraus, die derjenigen der exzentrischen Positionalität entspricht.“ Eine Zusammenführung dieser verschiedenen theoretischen Konzepte verschafft nachstehende Vorteile:

  • a. Die Annahme der doppelten Kontingenz kann schon als Basis vergegenständlicht werden.
  • b. Anhand einer Auffassung muss entschieden werden, ob das Verhältnis zwischen beobachteten Entitäten als Lösung des Problems doppelter Kontingenz gesehen werden kann oder nicht.
  • c. Ein zweistufiges Deutungsverfahren wird erforderlich. Kommunikative Deutung setzt praktische Deutung bereits voraus, da diese wiederum entscheidet, ob eine Entität, der Ego gegenüber tritt, als ein Alter angesehen wird oder als etwas anderes.

Lindemann selbst bezeichnet ihr Konzept als „ein theoretisches Paradox“, das überführt wird in eine irrationale Konstruktion, die es zulässt den Kreis der sozialen Personen geschlossen zu betrachten.

Quelle

  • Gesa Lindemann: Doppelte Kontingenz und reflexive Anthropologie. In: Zeitschrift für Soziologie. Jg. 28, Heft 3, Juni 1999, S. 165-181

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