Mythus

Mythus

Ein Mythos (mask., von altgr. μῦθος = Laut, Wort, Rede, Erzählung, sagenhafte Geschichte, Mär, lat. mythus, Pl.: Mythen) ist eine erzählerische Verknüpfung von Ereignissen. In der Neuzeit hat der Begriff einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Er wird in der Gegenwart zumeist für eine Erzählung verwendet, die Anspruch auf Geltung erhebt (Ideologie). Je nach Standpunkt ist diese Geltung berechtigt (auf Tradition oder Konsens gestützt) oder unberechtigt (als Gerücht oder Lügengeschichte). – Eine bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchliche, heute seltene Verdeutschung ist „die Mythe“ als weiblicher Singular.

In der Antike (vor allem bei Aristoteles) hat „Mythos“ eine erzähltechnische Bedeutung, die von konkreten Inhalten unabhängig ist. Im Humanismus der frühen Neuzeit und im Neuhumanismus des 18./19. Jahrhunderts hat sich dagegen eine Vorstellung von Mythos als eines Grundlegenden und Urtümlichen herausgebildet, das mit antiken, seit etwa 1800 auch mit mittelalterlichen (und später auch mit außereuropäischen oder subkulturellen) Stoffen verbunden ist und die schwindende Autorität des Biblischen ersetzen konnte. Polemik gegen den Wahrheitsanspruch von Mythen gibt es seit Platon. Sie hat im 20. Jahrhundert zum Beispiel durch Roland Barthes eine Neufassung erfahren.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Antike

Die Vorstellung von Autorität, höherer Wahrheit und allgemeiner Relevanz (mitsamt dem Verdacht der Verblendung) ist nicht ursprünglich mit dem Begriff Mythos verbunden. Sie hängt mit der neuzeitlichen Aufwertung der Antike gegenüber dem christlichen Weltbild zusammen. Für Platon ist ein Mythos das Werk eines Dichters, das immer Falsches, aber auch Wahres enthält (Politeia 377a). Er wandte sich gegen die Verblendung der athenischen Bürger durch die Dichter. Die literarische Gattung des so genannten Platonischen Mythos hingegen kann ganz Unterschiedliches umfassen: Ein Gleichnis, eine Metapher oder auch ein Gedankenexperiment. Platon verfasste mit Timaios auch einen Mythos von der Entstehung der Welt (Kosmogonie), von dem wesentliche Aspekte bis ins Christentum überlebt haben (etwa die Unsterblichkeit der Seele). Die Erzählung hat sich durch stete Wiederholung gewissermaßen bewährt.

Aristoteles billigt einem Mythos nur die Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit zu. Er verstand unter Mythos die Nachahmung von Handlung, also von etwas Bewegtem, im Unterschied zu den statischen Charakteren, die seiner Auffassung nach noch keine Dichtung ausmachen (Poetik). Mythos wäre also, vom Gehen eines Menschen zu sprechen, statt bloß seinen Gang zu charakterisieren. Aristoteles sah seinen Text als eine Art Gebrauchsanleitung für Dichter. Mythos war für ihn ein Merkmal einer gelungenen Tragödie.

Renaissance und Aufklärung

Die Gegenüberstellung von Mythos und Religion stammt aus der Zeit des Renaissance-Humanismus, in der das Christentum stets noch vorherrschte, aber von der klassischen Mythologie mehr und mehr die Rede war, ohne dass sie im religiösen Sinne ernst genommen wurde. Die antiken Epen wurden mit der Zeit zur Konkurrenz der biblischen Erzählungen. Die französische Klassik im 17. Jahrhundert kleidete moderne politische Themen ins Gewand antiker Mythen. Das Drama wurde als höchste Gattung der Dichtung betrachtet.

Johann Christoph Gottsched übersetzte Mythos mit „Fabel“ (Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, 1730). Mythos konnte in dieser Bedeutung sowohl das Grundgerüst einer erzählten Handlung sein, als auch die Sittenlehre bezeichnen, die einer Erzählung zugrundeliegt. Die Vorstellung vom Mythos als Sittenlehre hat in der Folge die ältere erzähltechnische Bedeutung verdrängt. Kritik am antiken Mythos konnte damals von seiten der konkurrierenden christlichen Sittenlehre stammen.

Die Aufklärung verstand „den“ Mythos als kindliche Vorstufe zum begrifflichen Denken und hielt ihn durch dieses für überwunden. Der Machtverlust der Kirchen in jener Zeit forderte in vielen Augen einen Ersatz für biblische Stoffe, die ihrer Autorität beraubt waren. Traditionell übernahmen die antiken Epen und Dramen diese Aufgabe. Die Welt der antiken Mythen schuf nach wie vor einen Freiraum gegenüber konservativen religiösen Vorstellungen (so noch in der Weimarer Klassik).

Romantik und 19. Jahrhundert

In der Romantik konnte der Mythos nun, statt eine Gegenwelt zum Religiösen zu sein, als Erneuerung des Religiösen verstanden werden. Die Dichter der Romantik griffen neben den griechischen Mythen zunehmend auf mittelalterliche „nordische“, später auch auf indische Mythologie zurück. In Schellings Philosophie ist der Mythos nicht mehr vom Menschen erdacht, sondern der Mensch scheint umgekehrt ein Instrument des Mythos zu sein. Die verlorene und zugleich beschworene Autorität dieses Mythos wird zu einem wesentlichen Thema der Zeit. Auch nach Friedrich Nietzsche ist das Unbehagen in der Kultur der Moderne Ausdruck des Mythosverlusts. Der Mythos sei eine „Abbreviatur der Erscheinung“ (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872). Diese Rhetorik hat bis heute Tradition: „Dem mythenlosen Menschen der Moderne fehlt die Kraft der Abbreviatur, der Horizontbegrenzung, die der Mythos leistet. Der Mythos ist die Matrix des Weltbildes – er stellt ein Bild von der Welt und umstellt die Welt mit Bildern“ (Norbert Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 1991).

Der Mythos schafft Wissen durch Erzählung im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erklärung. Diese von Aristoteles eher zur Einteilung der Wissenschaften gebrauchte Unterscheidung wird im 19. Jahrhundert durch den Vormarsch der Naturwissenschaften zu einer Rechtfertigung des Erzählens gegenüber dem Erklären, oft verbunden mit einem romantischen Glauben an die Existenz und Relevanz von Volksmärchen oder Volksliedern. So wurde der Mythos oft mit mündlicher Überlieferung zusammengebracht, die als Beleg für gemeinsame Autorschaft und uraltes Einvernehmen eines „Volks“ gesehen wurde.

Im selben historischen Zusammenhang steht die Rechtfertigung des Irrationalen gegenüber dem Rationalen. Als Gegensatz zum Mythos wird oft der Logos begriffen, der dem rationalen Diskurs zugänglich ist. Im Unterschied zur Historie lassen sich die Gegenstände des Mythos nicht nachprüfen und hängen eher mit einem kollektiven Glauben an seine Wirklichkeit oder Wahrheit zusammen. Dem Logos ist heute die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zuzuordnen, während sich mit dem Mythos die Glaubenslehre, die Literaturwissenschaft und die Soziologie befassen.

Mit dem Begriff Mythos wird seit dem 19. Jahrhundert oft die Vorstellung einer wiederholten Bestätigung im Erleben und Erzählen verbunden, die sich einem linearen Zeitbegriff und einem Fortschrittsdenken entgegenstellt. Abgesehen von Schöpfungsmythen behandelt der Mythos nach dieser Auffassung regelhaft wiederkehrende Konstellationen und Konflikte. Goethe verstand den Mythos als „Menschenkunde in höherem Sinne“. Hinsichtlich seiner Wiederholungsstruktur nannte er ihn „die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart“ (1814). Nietzsche prägte das Wort von der „ewigen Wiederkunft“ (1888). Thomas Mann definierte das Wesen des Mythos als „zeitlose Immer-Gegenwart“ (1928).

20. Jahrhundert

Um 1900 verbanden sich romantische und neuhumanistische Vorstellungen mit einer beginnenden wissenschaftlichen Ethnologie und Psychologie. Von Sigmund Freud ging die Vorstellung aus, dass Mythen als Projektionen menschlicher Probleme und Erfahrungen auf übermenschliche Wesen deutbar seien. Oft wird im Mythos das Handeln und Wirken von Göttern in Anlehnung an menschliche Verhältnisse (anthropomorph) dargestellt (Götterfamilien, Göttergeschlechter). Dass mit diesem Begriff des Mythos Eigenschaften der griechischen Mythologie auf Außereuropäisches ausgeweitet werden, trug ihm den Vorwurf des Eurozentrismus ein. Freuds Interesse am Mythos wurde, mit abweichenden Lehrmeinungen, von C. G. Jung geteilt.

Der moderne Begriff des Mythos dient oft dazu, trotz zunehmendem Pluralismus etwas Allgemeinmenschliches und Allgemeingültiges zu suchen und zu behaupten (was stets noch das Erkenntnisinteresse von Claude Lévi-Strauss war). Mythen als tradierte Erzählungen berichten darüber, wie die Gegenwart in der Vergangenheit begründet ist, schildern etwa die Entstehung der Götter, der Menschen, des Kosmos oder endzeitliches und jenseitiges Geschehen.

Hans Blumenberg rehabilitierte den Mythos im 20. Jahrhundert. Für ihn sprechen sich im Mythos existenzielle Grunderfahrungen aus, die den Menschen überlasten. Das „Narrativ“ des Mythos lehre einen Umgang mit diesen Situationen und stelle somit eine „Entlastungsfunktion“ (Arnold Gehlen) für den Menschen dar. Dabei lasse sich der Mythos nicht in klare, nicht-bildhafte Sprache überführen. Gerade seine Polyvalenz gebe ihm seinen Reichtum und mache seine Interpretierbarkeit und Anwendbarkeit (im Sinne eines Nachvollzugs) in unterschiedlichsten Krisen möglich.

Mythos und Schicksal

Mit der Emanzipation der antiken Mythen gegenüber den biblischen Erzählungen hat auch die geläufige Verbindung von Mythos und unabwendbarem Schicksal zu tun. Sie geht auf die Theorie der antiken Tragödie und ihre christliche Rezeption zurück: Das tragische Schicksal eines Helden wie Ödipus ist vorbestimmt und unausweichlich. Die christlichen Vorstellungen der Prädestination gehen dagegen von den fortbestehenden Möglichkeiten der Reue und verzeihenden Gnade aus, also von einer grundsätzlichen Freiwilligkeit, bei der Gut und Böse freilich genau definiert sind.

In der Betonung der Unausweichlichkeit mythischer Vorgaben, auch in modernen Varianten eines wissenschaftlichen Determinismus (zum Beispiel Archetypus, Ödipuskonflikt, Elektra-Komplex, Schicksalsanalyse), liegt daher eine zur Tradition gewordene Auflehnung gegen christliche Moralvorstellungen. – Sisyphos als potenziell selbstbestimmten und daher glücklichen Menschen stellte Albert Camus in Der Mythos von Sisyphos (1942) dar.

Missbrauch und Kritik

Die Oper nahm sich seit ihrer Entstehung um 1600 mythische Stoffe zur Grundlage. Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen (1851–1874) war ein Versuch, den „Mythos“ zu modernisieren, was von Nietzsche zunächst enthusiastisch begrüßt, dann schroff abgelehnt wurde. Die Neukonstruktion autoritärer Mythen seit dem 19. Jahrhundert zog zahlreiche Möglichkeiten des Missbrauchs nach sich.

Es gab eine ausgeprägte Vorliebe für germanische Mythologie im Nationalsozialismus. Der Ideologe Alfred Rosenberg schrieb 1930 Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Werk, mit dem er sich gegen das Christentum richtete und das weite Verbreitung fand. Die Blut-und-Boden-Ideologie, nach Michel Foucault,

[...] Verband sich mit einem träumerischen Schwärmen von einem höheren Blut, das sowohl den systematischen Völkermord an anderen wie auch die Bereitschaft zur totalen Selbstaufopferung einschloß. Und die Geschichte hat es gewollt, daß die hitlerische Sexualpolitik eine lächerliche Episode geblieben ist, während sich der Mythos vom Blut in das größte Massaker verwandelte, dessen sich die Menschen bis heute erinnern können[1]

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno behandelten in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) das „Scheitern der Aufklärung“ im Nationalsozialismus. Mit dem Versuch, die Natur zu beherrschen, wird ihrer Auffassung nach der einst mythische Zugang zur Welt seit der Aufklärung rational gemacht, als „Herrschaft“ aber schlage Aufklärung selbst in Mythos zurück, in den „Positivismus“ einer Affirmation des Bestehenden. Seit diesem Scheitern stehen die Mythen der Moderne wie Fortschritt und Nationalismus verstärkt in der Kritik. Ernst Cassirer, Georges Sorel oder Elias Canetti brachten kritische Begriffe wie „Mythos des Staates“, Geschichtsmythos, politischer Mythos ins Gespräch.

Roland Barthes untersuchte 1957 die Mythen in der Moderne. Anlass für seine Untersuchungen war

[...] Meistens ein Gefühl der Ungeduld angesichts der ‚Natürlichkeit‘, die der Wirklichkeit von der Presse oder der Kunst unaufhörlich verliehen wurde, einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch die von uns gelebte ist, doch nicht minder geschichtlich ist. Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie ‚Natur‘ und ‚Geschichte‘ ständig miteinander verwechselt werden.[2]

Nach Barthes ist es eine wesentliche Funktion des Mythos – wie beispielsweise die conditio humana des klassischen Humanismus –, an Stelle der Geschichte der Dinge, eine sich vorgestellte „Natur“ zu stellen. Es verberge sich dahinter ein „ideologischer Missbrauch“[3], dem er in seinen Mythen des Alltags nachging.

Zeitgenössische Mythen

Heutige Mythen, die im Sinne von Roland Barthes Natur und Geschichte verwechseln oder Alltägliches vergöttern, sind in der Regel nicht mehr religiös legitimiert. Sie beruhen im Wesentlichen auf nicht (mehr) verifizierbaren kollektiven Erinnerungen: auf einem Cocktail aus Erzählungen von Bekannten, Darstellungen im Film und in anderen Medien, Überlieferungen und/oder kollektiven Erlebnissen, an die man sich verklärend erinnert. In Form von kollektiven Irrtümern können Mythen sozialen Zusammenhalt erzeugen und Herrschaft sichern, aber auch Subkulturen und Untergrundbewegungen legitimieren.

Im allgemeinsten Sinn kann ein Mythos nach dieser Vorstellung ein Begriff, ein Erklärungsmuster oder ein Produkt mit großer öffentlicher Ausstrahlung sein. Entsprechende Personen werden auch als Stars bezeichnet, entsprechende Gegenstände auch als Kultobjekte oder Ikonen, entsprechende Ereignisse auch als „Ereignisse von Kultstatus“. Diese Auffassung ist nicht unumstritten; sie ist vor allem im angelsächsischen Raum zu beobachten, wenn dort etwa vom Mythos Rhein oder vom Mythos Marilyn Monroe die Rede ist.

Die moderne Werbewirtschaft macht sich die Mythologisierung von Produkten zunutze. Damit wird ein Effekt verstärkt, der unter marxistischen Kritikern als elementarer Bestandteil des Kapitalismus gesehen wird: das Phänomen des Warenfetischismus.

Verwandtes

Eng verwandt mit Mythen sind moderne Sagen (Urban Legends), Hoax sowie auch Verschwörungstheorien. Sie werden meist zu einem bestimmten politischen, psychologischen oder sozialen Zweck konzipiert und tradiert. Während Legenden ursprünglich den (im Lauf der Erzähltradition modifizierten) Lebenslauf eines/einer Heiligen zum Kern haben, ist eine Sage „eine volksläufige, zunächst auf mündlicher Überlieferung beruhende kurze Erzählung objektiv unwahrer, oft ins Übersinnlich-Wunderbare greifender, phantastischer Ereignisse, die jedoch als Wahrheitsbericht gemeint sind und den Glauben der Zuhörer ernsthaft voraus setzen.“ (Gero von Wilpert)

Beispiele in der Literaturgeschichte

Bedeutend für die europäische Kultur sind die griechisch-römischen Mythen, die seit Homer (Ilias, Odyssee) und Hesiod (Theogonie) zum Stoff der Dichtung wurden, in der römischen Zeit etwa von Ovid (Metamorphosen) behandelt wurden und vom Humanismus an bis ins 18. Jahrhundert hinein literarische Motive lieferten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde die klassische Mythologie als Zeichen einer Überwindung der aristokratischen Französischen Klassik (siehe Tragödie) von mittelalterlichen und exotischen Stoffen abgelöst, die ihrerseits mythischen Stellenwert bekamen. Die Weimarer Klassik versuchte dagegen, die antiken Stoffe zu verbürgerlichen und auf diese Weise am Leben zu halten. Antike Mythen kommen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wieder auf.

Mythen werden in Mythologien zusammengefasst, überliefert und gedeutet. Ob außereuropäische Erzählungen mit dem europäischen Begriff des Mythos bezeichnet werden können, bleibt ein Gegenstand der Diskussion. Auch die Bibel, die traditionelle Gegenwelt zum „Mythos“, wurde schon selbst als Mythos betrachtet. Die Genesis des Pentateuch enthält in diesem Sinne mythische Erzählungen wie zum Beispiel über die Erschaffung der Welt in sieben Tagen, über den Garten Eden oder Tod und Wiedergeburt eines Gottes.

Zu den Mythen-Niederschriften, die nicht auf die griechisch-römische Tradition zurückgehen, gehören:

Nördlich der Alpen sind seit der Neuzeit zwei Mythen entstanden:

Weitere Auffassungen

Psychologie

In der Psychologie werden Mythen oft wie Märchen aufgefasst. Der Begriff der Projektion ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Besonders die Tiefenpsychologie beschreibt Mythen seit Carl Gustav Jung mit der Kategorie des Archetypus. Göttermythen spiegeln leicht erkennbar das Handeln und Wirken von Menschen wider; schon ihre – deswegen anthropomorph genannte – Darstellung erfolge meist analog zu menschlichen Gegebenheiten oder Erfahrungen (z. B. Göttergeschlechterfolgen oder Götterfamilien in der Griechischen Mythologie).

Der Antagonismus zwischen Mythos und Aufklärung kann nach wie vor zu Gunsten des Mythos gedeutet werden: Der Mythos wird etwa als rituelle Wiederholung von Urereignissen betrachtet, als erzählerische Aufarbeitung menschlicher Urängste und -hoffnungen. In dieser Funktion habe er einen unaufholbaren Vorsprung gegenüber Begriffssystemen. Mythen können nach dieser Auffassung als bildhafte Weltauslegungen und Lebensdeutungen in Erzählform allgemeine Wahrheiten enthalten.

Deutungen und Darstellungen

Eric Voegelin setzt sich in seinem monumentalen Werk Order and History (5 Bde.) mit dem Zusammenhang zwischen Mythos und Politik von den klassischen Mythen (Mesopotamien, Ägypten, Griechenland) über das Judentum und Christentum bis hin zu den modernen „politischen Mythen“ auseinander.

Kurt Hübner legt in seinem Buch Die Wahrheit des Mythos als analytischer Philosoph eine systematische und inhaltliche (nicht: funktionalistische oder strukturalistische) Deutung des Mythos vor. Weiter setzt er sich kritisch mit den klassischen und aktuellen Mythosdeutungen, sowie mit den Ansprüchen der Naturwissenschaften auseinander. In Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen Ontologie versucht er die Frage nach der Rationalität und Wahrheit des Mythos zu klären.

Der amerikanische Mythologe Joseph Campbell, Schüler des Indologen Heinrich Zimmer, untersucht den Mythos aus tiefenpsychologischer Sicht. Campbell gilt dabei als einer der Begründer der Vergleichenden Mythologie, die Gemeinsamkeiten in Mythen aus aller Welt herauszukristallisieren versucht. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hingegen betont die grundsätzliche Eigenständigkeit mythischer Erfahrungen gegenüber wissenschaftlichen Methoden.

Ständeklausel

Die aristotelische Auffassung, dass die Tragödie von „besseren Menschen“ handeln solle, führte seit dem 17. Jahrhundert zur sogenannten Ständeklausel, die den Mythos einer aristokratischen Welt von Göttern und Adligen vorbehielt und die Bürgerlichen ausschloss. Als Abschwächung dieser einstmals brisanten Abgrenzung erklärt sich die Auffassung, dass der Mythos von Göttern handle und die Sage von Menschen (obwohl Ödipus zum Beispiel ein Adliger und kein Gott ist).

Zitate

„‚Mythen‘ – man erschrecke nicht vor diesem Worte – sind Göttergeschichten, im Unterschiede von den Sagen, deren handelnde Personen Menschen sind.“

Hermann Gunkel

„Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut.“

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, 1944

„Mythos ist immer als das Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als ein freies Produkt der Einbildungskraft bezeichnet worden.“

Ernst Cassirer, 1946

„Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand, sei es nun die totale Realität, der Kosmos oder nur ein Teil davon: Eine Insel, eine Pflanzenart, eine menschliche Einrichtung.“

Mircea Eliade, 1957

„Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zur Schau. Er deformiert. Der Mythos ist weder eine Lüge noch ein Geständnis. Er ist eine Abwandlung.“

Roland Barthes, 1957

„Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“

Hans Blumenberg, 1979

Siehe auch

Literatur

Symbolkundliche Forschungen
  • Georg Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1837-1858. DNB
  • Heinrich Robert Zimmer: Indische Mythen und Symbole. Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen. Aus dem Engl. v. E. W. Eschmann, 5. Aufl., München 1993, ISBN 3-424-00693-9.
Sozialpsychologische Ansätze
  • Joseph Campbell: Die Masken Gottes. Aus dem Amerikan. von Hans-Ulrich Möhring. München 1996, ISBN 3-423-59034-3.
  • Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in wir die Welt erschaffen haben. München / Zürich 1998, ISBN 3-492-22655-8.
  • Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerikan. von Karl Koehne. Frankfurt a.M 1999, ISBN 3-458-34256-7.
  • Monika Tworuschka / Udo Tworuschka: Als die Welt entstand.... Schöpfungsmythen der Völker und Kulturen in Wort und Bild, Freiburg i. Br. 2005. ISBN 3-451-28597-5
Linguistische Ansätze
  • Roland Barthes: Mythen des Alltags. Aus d. Franz. von Helmut Scheffel, Frankfurt 1964. DNB (Neuaufl. 2003, ISBN 3-518-12425-0.)
  • Karl-Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff u. Bild e. Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983, ISBN 3-518-11144-2.
Literaturwissenschaftliche Ansätze
  • Dieter Borchmeyer: Mythos. In: Ders. / V. Zmegac (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994, S. 292-308.
Politikwissenschaftliche Ansätze
  • William H. McNeill: Mythistory, or Truth, Myth, History, and Historians. In: The American Historical Review 91, 1986, S. 1–10 (ebenfalls in: ders.: Mythistory and other essays. University of Chicago Press, Chicago 1986, ISBN 0-226-56135-6).
  • Michael Ley: Mythos und Moderne. Über das Verhältnis von Nationalismus und politischen Religionen. Wien / Köln /Weimar 2005, ISBN 3-205-77312-8.
Ethnologische Ansätze
  • Claude Lévi-Strauss / Jean-Pierre Vernant u.a.: Mythos ohne Illusion. Aus d. Franz. von Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M. 1984, ISBN 3-518-11220-1.
  • Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung. 5 Radiovorträge. Frankfurt a.M. 1980, ISBN 3-518-11027-6.
Religionswissenschaftliche Ansätze
  • Hermann Gunkel: Genesis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 9. Aufl. 1999 [Neudr. d. 3. Aufl. 1910]. ISBN 3-525516-51-7
  • Kurt Hübner: Mythos (philosophisch). In: Theologische Realenzyklopädie. Berlin / New York, ISBN 3-11-002218-4.
  • Rudolf Karl Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941). In: H.-W. Bartsch (Hg.): Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Band 1. 1948. 4. Aufl. Reich, Hamburg 1960, 15-48. DNB
  • Bruce Lincoln: Myth, Cosmos, and Society: Indo-European Themes of Creation and Destruction Harvard Univ. Press, Cambridge 1986, ISBN 0674597753.
  • Karl Kerényi: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Darmstadt 1989, ISBN 3-534-13168-1. (5. Aufl., 1996.)
  • Jan Assmann: Revolution und Mythos. Hrsg. von Dietrich Hardt], Frankfurt 1992, ISBN 3-596-10964-7.
  • Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige. Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-458-33887-X.
  • Walter Burkert: Antike Mythen in der europäischen Tradition. Tübingen 1999, ISBN 3-89308-298-0.
  • Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006, ISBN 3-406-54977-2.
Philosophische Ansätze
  • Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, DNB [Neuaufl., 2003, ISBN 3-596-50669-7.)
  • Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979, ISBN 3-518-07515-2. (Neuaufl. 2006, ISBN 3-518-29405-9.)
  • Hans Poser (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Berlin / New York 1979, ISBN 3-11-007601-2.
  • William H. McNeill: Mythistory, or Truth, Myth, History, and Historians. In: The American Historical Review 91, 1986, S. 1–10 (ebenfalls in: ders.: Mythistory and other essays. University of Chicago Press, Chicago 1986, ISBN 0-226-56135-6).
  • Christoph Jamme: "Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1999, ISBN 3-518-29033-9.
  • Markus Höfner: Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Tübingen 2008, ISBN 978-3-16-149754-4.
Bibliografien
  • Thomas Blisniewski: Auswahlbibliographie zur antiken Mythologie und ihrem Fortleben, Köln 1993.
Leseproben
  • Wilfried Barner (Hrsg,): Texte zur modernen Mythentheorie, Reclam Stuttgart 2003, ISBN 3-15-017642-5.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Marc-Christian Jäger, Foucault über Sade, Sadismus und Faschismus, August 2003 [1] [Zugriff: 26, Januar, 2007]
  2. Roland Barthes: Die große Familie der Menschen. In: Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. S. 7; vgl. The Family of Man
  3. Roland Barthes: Die große Familie der Menschen. In: Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. S. 7

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