Nikolai Roslawez

Nikolai Roslawez

Nikolai Andrejewitsch Roslawez (* 24. Dezember 1880jul./ 5. Januar 1881greg. in Duschatino, Gouvernement Tschernigow, Ukraine; † 23. August 1944 in Moskau) war ein russischer Komponist.

Roslawez war einer der ersten Komponisten, die für eine Neue Musik in Russland eintraten. Er fühlte sich zugleich neuen musikalischen Ideen wie der Bewahrung der Tradition verpflichtet und geriet deswegen mit der KP in Konflikt, die ihn schließlich mit Berufsverbot belegte, so dass er als "Volksfeind" bis zu seinem Tode mehrere Jahrzehnte lang zu den verfemten Komponisten Russlands gehörte.

Anfangs von Alexander Skrjabin und den "modernen Franzosen" inspiriert, löste sich Roslawez bald von deren Einflüssen und entwickelte seine eigene Tonsprache, die oft mit Arnold Schönbergs Zwölftontechnik verglichen wird, jedoch von anderen Grundsätzen ausgeht. Im Spätwerk ist ein gewisser Hang zum Monumentalen zu erkennen, wobei die Tonsprache im Sinne des "akademischen Neuerertums" stark vereinfacht wird. Hier ist auch der ideologische Zwang zu erkennen, der Einfluss auf seinen kompositorischen Stil hatte.

Wichtigstes Werk ist wohl die "Symphonie de chambre pour 18 instruments solistes" (1934/35), in der klassische und moderne Prinzipien auf ganz neue Weise miteinander verbunden werden.

Inhaltsverzeichnis

Ausbildung und Werdegang

  • Bis 1912 Studium der Komposition (Sergei Wassilenko) und der Musiktheorie (Alexander Iljinski/ Michail Ippolitow-Iwanow) und Violinstudium (Iwan Grschimali) am Moskauer Konservatorium
  • große Silbermedaille für seine Diplomarbeit
  • Eintritt in den Kreis der "Zeitgenossen" um Wladimir Derschanowski, Leonid Sabanejew, Nikolai Mjaskowski u.a., einen Kern der zukünftigen Assoziation zeitgenössischer Musik (ASM)
  • 1917 Mitglied der nicht-marxistischen Partei der Sozialisten-Revolutionären (SR)
  • 1918 Mitglied der "Volkstümler-Kommunisten"
  • 1921 Austritt aus der Partei, diese wird von der KP zerschlagen, Mitglieder getötet
  • ab 1920 einer der ASM-Führer
  • in den 20er Jahren in der Redaktion des Moskauer Staatlichen Musikverlages
  • 1922 vorübergehende Leitung des Konservatoriums Charkow
  • Zuwendung zum Stil der "monumentalen Propaganda"
  • Berufsverbot wegen angeblich "formalistischer" und "klassenfeindlicher" Betätigung
  • 1931 Umzug von Moskau nach Taschkent, dort Leiter des Musiktheaters
  • 1933 Rückkehr nach Moskau

"Neues System der Tonorganisation" und das Prinzip des "Synthetischen Akkords"

Nikolai Roslawez gehört zu den originellsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er entwarf mit seinem "neuen festen System der Tonorganisation“ eine atonale Kompositionslehre. Diese beruht auf der Verwendung sogenannter "Synthetakkorde", deren planvoller Einsatz schon in Roslawez Kompositionen der 10er und 20er Jahre nachgewiesen werden kann. Zwischen 1913 und 1919 arbeitet Roslawez systematisch an der Vervollkommnung dieser Kompositionsmethode. Eine erste schriftliche Äußerung des Komponisten zu Technik und Entwicklung des "Neuen Systems" erfolgte allerdings erst 1926. Dieser Versuch einer Systematisierung in Form einer atonalen Tonsatzlehre legte Vergleiche mit westlichen Bestrebungen ähnlicher Natur nahe und noch in den 20er Jahren galt Roslawez als eine Art "russischer Schönberg". Ähnlich wie Arnold Schönbergs Zwölftontechnik sollte durch das "Neue System" das überkommene tonale Prinzip ersetzt und in eine lehrbare Form gebracht werden. Grundlegende harmonische Prinzipien der Tonalität gehen aber in das "Neue feste System" ebenfalls mit ein und werden – anders als bei Schönberg – nicht um jeden Preis vermieden. Die Bezeichnung "Synthetakkord" ist diesem integrativen Moment geschuldet. Roslawez’ kompositorische Experimente stehen jedoch ebenso deutlich in der russischen Tradition modaler Melodik orthodoxer Kirchenmusik und der Komponisten des "Mächtigen Häufleins". Ebenfalls Alexander Skrjabin und dessen als " Klangzentrum" figurierenden "Prometheus–Akkord" oder "Mystischen Akkords" ist das Roslawezsche Verfahren eng verwandt. Des Weiteren sind Ferruccio Busonis "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ aus dem Jahre 1906 und auch der 1912 im Almanach "Der Blaue Reiter" veröffentlichte Aufsatz "Die Freie Musik" Nikolai Kulbins auf die Genese der Kompositionsmethode von Einfluss gewesen. Die "Synthetakkord-Methode" legt ferner ästhetische Vergleiche mit den simultan in Russland auftretenden Kunstrichtungen des Futurismus und Konstruktivismus nahe, mit deren Hauptvertretern Roslawez auch in freundschaftlicher Beziehung stand.

Ein "Synthetischer Akkord" besteht aus sechs oder mehr Tönen. Es sind speziell für das jeweilige Stück ausgewählte "Tonkomplexe", aus denen alle melodischen und harmonischen Beziehungen der Komposition abgeleitet werden. Die übrigen Töne des chromatischen Totals bleiben konsequent ausgespart. Außerdem gibt es eine Tendenz alle Töne eines "Synthetakkords" innerhalb eines begrenzten Zeitraums erklingen zu lassen, wobei aber Reihenfolge und Oktavlage vollständig beliebig sind. Der amerikanische Komponist George Perle beschrieb diese Kompositionstechnik bereits in den 60er Jahren als "nondodecaphonic serial composition" und den "Synthetakkord" folgerichtig als "pitch class set". Der "Synthetakkord" kann innerhalb einer Komposition elfmal transponiert werden, bleibt aber – hierin dem "Mystischem Akkord" in Skrjabins "Klanzentrumstechnik" verwandt – in seiner diastematischen Gestalt erhalten. In der Komposition unterliegt die Transposition dieser "Tonkomplexe" wiederum einem systematischen Plan, der ebenfalls eine Tendenz zur "Zwölftönigkeit" der erreichten Transpositionsstufen besitzen kann. Einen ersten Höhepunkt erreicht diese Kompositionstechnik in Roslawez Violinkonzert Nº 1 aus dem Jahre 1925. Hier ist das musikalische Material der Solostimme und jenes der Orchesterbegleitung aus zwei komplementären, sechstönigen "Synthetakkorden" gebildet, die sich somit permanent in kurzen Zeiträumen zur "Zwölftönigkeit" ergänzen.

Weblinks

Literatur (Auswahl)

  • Detlef Gojowy; "Neue sowjetische Musik der 20er Jahre", Laaber-Verlag 1980 (ISBN 3-921518-09-1)
  • Marina Lobanova; "Nikolaj Andreevic Roslavec und die Kultur seiner Zeit", Peter Lang Verlag 1997 (ISBN 3-631-30522-2)
  • George Perle; "Serial Composition and Atonality, an Introduction to the Music of Schoenberg, Berg and Webern" Berkley and Los Angeles 1962, darin das Kapitel: "Nondodecaphonic Serial Composition"
  • Zofia Lissa; "Geschichtliche Vorformen der Zwölftontechnik" in: Acta Musicologica VII/1935

Diskographie (Auswahl)

  • Cellosonate Nº 1 (1921), Méditation (1921);
Boris Pergamenschikow & Pavel Gililov (zusammen mit Prokofjew). Orfeo (C 249 921 A), 1992.
  • Nº 2: »Du bist nicht fortgegangen« (A. Blok) & Nº 3: »Der Wind fliegt heran« (A.Blok) aus: Drei Kompositionen für Gesang und Klavier (1913) &
  • Nº 1: »Gänseblümchen« (Igor Severjanin) aus: Vier Kompositionen für Gesang und Klavier (1913/14) &
  • »Liedchen des Harlekin« (Elena Guro; 1915) &
  • Nº 3: »Herbstlied« (Paul Verlaine) aus: »Traurige Landschaften« (1913);
»Anthologie de la Melodie russe et sovietique« (zus. mit Mussorgsky, Glinka, Gourilew, Dargomyschki, Tschaikowsky, Strawinsky, Prokofjew, Schostakowitsch, Firsowa, Denisow und Knaifel); Elena Vassilieva & Jacques Schwab. Le Chant du Monde (LDC 278 972/73), 1989.
  • 5 Préludes (1919-1922), 2 Poèmes (1920) & Prélude (1915);
Christophe Sirodeau (zus. mit Skrjabin, Lourié & Feinberg). Arkadia (AK 152.1), 1994.
  • 2 Poèmes (1920), 5 Préludes (1919-1922), Poéme & Prélude (1919-1921), Danse (1919) & Berceuse (1919);
»La musique russe des Avant-Gardes« (zus. mit Lourié, Skrjabin, Mossolow, Obuchow & Schostakowitsch); Jean-Pierre Armengaud. Nuova Era (7263), 1996.
  • 5 Préludes (1919-1922);
»Preludes to a Revolution« (zus. mit Liadow, Gliére, Stanschinsky, Lourié, A. Alexandrow, Skrjabin, Obuchow, Wyschnegradsky & Feinberg); Jenny Lin. Hänssler (98.480), 2005.
  • 5 Préludes (1919-1922);
»Festival Alternativa, Vol. I« (zus. mit Mossolow, Deschewow & Lourié); Antonin Bagatov. Col legno (AU 31841), 1989.
  • 5 Préludes (1919-1922);
»Soviet Avant-Garde 1« (zus. mit Protopopow, Mossolow & Lourié); Steffen Schleiermacher. Hat Hut (6157), 1994.
  • 2 Poèmes (1920), 3 Compositions (1914) & Prélude (1915);
»Soviet Avant-Garde 2« (zus. mit Mossolow, Lourié & Polowinkin); Steffen Schleiermacher. Hat [now] Art (115), 1997/98.
  • Nocturne (1913);
»Russian music from the 1920s« (zus. mit Deschewow, Polowinkin, Knipper, Schiwotow & Popow); Alexander Lazarev. BMG/Melodiya (74321 49955 2), 1997.
  • In den Stunden des Neumonds (1912/13) & Violinkonzert Nº 1 (1925);
Tatjana Gridenko, Heinz Holliger. Wergo (6207-2), 1990)
  • Kammersymphonie (1934-35) & In den Stunden des Neumonds (1912/13);
Ilan Volkov. Hyperion (CDA 67484), 2006.
  • 3 Compositions (1914), 3 Études (1914), Sonate Nº 1 (1914), Prélude (1915), 2 Compositions (1915), Sonate Nº 2 (1916), 2 Poèmes (1920), 5 Préludes (1919-1922) & Sonate Nº 5 (1925);
»Piano Music«; Marc-André Hamelin. Hyperion (CDA 66926), 1996.
  • Streichquartett Nº 1 (1913), Streichquartett Nº 3 (1920) & Streichquartett Nº 5 (1941);
»Streichquartette«; Hába Quartett. NCC (8010), 1997.
  • Klaviertrio Nº 2 (1920), Klaviertrio Nº 3 (1921) & Klaviertrio Nº 4 (1927);
»Piano Trios Nos. 2–4«; Trio Fontenay. Teldec (8573-82017-2), 2000.
  • Meditation (1921), Cellosonate Nº 1 (1921), 5 Préludes (1919-1922), Cellosonate Nº 2 (1922) & Tänze der weißen Jungfrauen (1912);
»Complete Music for Cello and Piano«; Alexander Ivashkin & Tatyana Lazareva. Chandos (CHAN 9881), 2001.
  • Streichquartett Nº 1 (1913) & Streichquartett Nº 3 (1920);
»Russian Quartets of the 20th Century« (zus. mit Mossolow & Schnittke); Novosibirsk "Filarmonica" Quartet. Beaux (2019), 2000.
  • Violinsonate Nº 6 (1940), Violinsonate Nº 1 (1913), Violinsonate Nº 2 (1917) & Violinsonate Nº 4 (1920);
»Four Violin Sonatas«; Mark Lubotsky & Julia Bochkovskaya. Olympia (OCD 558), 1995.
  • 24 Préludes (1941-42), Poème lyrique (? 10er Jahre), 3 Tänze (1923) & Nocturne (1935);
»Works for Violin and Piano«; Mark Lubotsky & Julia Bochkovskaya. Olympia (OCD 559), 1995.
  • Kammersymphonie (1926, vervollständigt und orchestriert von a. Raskatow);
»Russian chamber music of the twenties« (zus. mit Prokofjew & Schtscherbaschow); Alexander Lazarev. Le Chant du Monde (LCD 288 055), 1992.
  • Klaviertrio Nº 3 (1921), Bratschensonate Nº 1 (1926), Bratschensonate Nº 2 (? 30er Jahre), Klaviersonate Nº 5 (1925) & Cellosonate Nº 1 (1921);
»The Chamber Music«; The Moscow Trio u.a. Le Chant du Monde (LCD 288 047), 1992.
  • Klaviertrio Nº 3 (1921), 3 Compositions (1914) & Prélude (1915);
»Music of the russian Avant Garde 1910 - 1930« (zus. mit Lourié, Mossolow, Deschewow, Dukelsky & Matjuschin); Alexander Titov. Autograph, 1992.
  • Bratschensonate Nº 1 (1926);
»Le nouveaux Musiciennes« (zus. mit Ligeti, Prokofjew & Takemitsu); Lawrence Power. Harmonia Mundi (HMN 911756), 2001.
  • Streichquartett Nº 3 (1920);
»Streichquartette« (zus. mit Lourié), Leipziger Streichquartett. MDG (307 1192-2), 2003.
  • Violinsonate Nº 6 (1940), Violinsonate Nº 4 (1920), Violinsonate Nº 1 (1913) & 3 Tänze (1923);
»Violin Sonatas«; Solomia Soroka & Arthur Greene. Naxos (8.557903), 2005.
  • Klaviertrio Nº 3 (1921);
»Klaviertrios« (zus. mit Schostakowitsch & Babadschanian); Seraphin Trio. Christophorus (CHE 0070), 1995.

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