Obiter dicta

Obiter dicta

Ein obiter dictum (lat. „nebenbei Gesagtes“) ist eine in einer Entscheidung eines Gerichtes geäußerte Rechtsansicht, die die gefällte Entscheidung nicht trägt, sondern nur geäußert wurde, weil sich die Gelegenheit dazu bot.

Letztinstanzliche Gerichte fügen ihren Urteilen gelegentlich obiter dicta bei, weil sich sonst für die entscheidenden Richter häufig auf lange Zeit keine Möglichkeit mehr bietet, ihre Rechtsauffassung zu ähnlich gelagerten Fällen oder einen Grundsatz, der für den Fall keine Rolle spielt, kundzutun. Dies liegt daran, dass in manchen Bereichen seit langem eine gefestigte Rechtsprechung besteht, so dass keine Klagen mehr eingereicht werden, weil diese nur dann erfolgreich wären, wenn eine geänderte Rechtsauffassung gelten würde.

Nach Auffassung des BAG-Vizepräsidenten Hans-Jürgen Dörner haben obiter dicta „die Schwäche, zur konkreten Rechtsfindung des Einzelfalls nichts beizutragen, die Leser regelmäßig zu verwirren und häufig späteren Erkenntnissen im Wege zu stehen.“ (Neues aus dem Befristungsrecht[1]). Im günstigsten Fall trägt ein obiter dictum zur Rechtsfortbildung bei. Abgesehen von dem von Dörner beschriebenen „Rechtsverwirrungsmoment“ besteht überdies die Gefahr der Missachtung des Prinzips der Gewaltenteilung. Das Gericht hat nur den jeweiligen Einzelfall, also betreffend den Streitgegenstand, zu entscheiden. Mit per obiter dictum geäußerter Rechtsauffassung greift es über seinen Entscheidungsauftrag hinaus der Gesetzgebungskompetenz der Legislative vor. Das gilt auch für das Bundesverfassungsgericht: Ultima ratio seiner Kompetenz ist die Nichtigkeitserklärung gem § 31 Abs. 2 S. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz.

Andererseits können obiter dicta auch zukünftige eventuelle Änderungen der Rechtsprechung ankündigen und so das Vertrauen in eine gefestigte Rechtsprechung lockern, womit dem rechtsstaatlich gebotenen Prinzip der Rechtssicherheit genüge getan wird.

Ein bekanntes obiter dictum wurde 1993 vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ausgesprochen. Der Senat stellte fest, dass eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle von Verfassung wegen nicht in Betracht komme. Deshalb verbiete es sich, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden (Wrongful life) zu begreifen.[2] Mit dieser Feststellung, die für das eigentliche Normenkontrollverfahren ohne jede Bedeutung war, wandte sich der Zweite Senat gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Haftung von Ärzten für ungewollte Schwangerschaften. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bemerkte daraufhin, eine „beiläufige und nicht bindende Bemerkung“ des Bundesverfassungsgerichts führe nicht dazu, dass weder Schadensersatz noch Schmerzensgeld zu gewähren seien.[3] Der Bundesgerichtshof sah dies jedoch anders und passte seine Rechtsprechung den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts an[4].

Den Gegensatz zum obiter dictum bildet die ratio decidendi.

Im anglo-amerikanischen common law sind obiter dicta anders als die ratio decidendi eines Urteils in einem Präzedenzfall kein binding precedent, also nicht für die unteren Gerichte bindend. Dennoch werden sie oft in Entscheidungen mit einbezogen.

Literatur

  • Theo Mayer-Maly, Hans Carl Nipperdey: Risikoverteilung in mittelbar von rechtmäßigen Arbeitskämpfen betroffenen Betrieben. Mohr, Tübingen 1965, S. 23ff (Diskutiert die Bedeutung von Obiter Dicta). 
  • Wilfried Schlüter: Das Obiter dictum. Die Grenzen höchstrichterlicher Entscheidungsbegründung, dargestellt an Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Schriften des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln. 29, Beck, München 1973, ISSN 0724-5386, S. 204ff. 

Quellen

  1. Hans Jürger Dörner: Neues aus dem Befristungsrecht. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht. Nr. 2, 2007, S. 57 (58). 
  2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993, Aktenzeichen 2 BvF 2/90, BVerfGE 88, 203.
  3. Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 15. Dezember 1994.
  4. Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 28. März 1995, Aktenzeichen VI ZR 356/93, BGHZ 129, 178.
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