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Oratorium (kirchenlat. oratorium = Bethaus, von lat. orare = „beten“) nennt man in der musikalischen Formenlehre die dramatische, mehrteilige Vertonung einer zumeist geistlichen Handlung, verteilt auf mehrere Personen, Chor und Orchester. Es ist eine erzählend-dramatische (also mit Handlungselementen durchsetzte) Komposition.
Der Begriff Oratorium stammt vom italienischen „oratorio“ ab, das ursprünglich einen Gebetssaal bezeichnete. Dies deutet auf die Anfänge der Gattung hin, die sich aus nicht-liturgischen musikalischen Andachten entwickelte und ihren Namen von ihrem Entstehungs- und Aufführungsort übernahm.
Im Unterschied zum Italienischen und zum Deutschen wird in anderen Sprachen zwischen dem Gebetssaal und der musikalischen Gattung begrifflich unterschieden: der Gebetssaal heißt beispielsweise auf englisch „oratory“, auf französisch „oratoire“, die musikalische Gattung hingegen in beiden Sprachen „oratorio“.
Inhaltsverzeichnis
Abgrenzung zur Oper
Das Oratorium wird im Gegensatz zur Oper ausschließlich konzertant (nicht szenisch) aufgeführt, die Handlung findet also nur in den Texten und in der Musik statt. Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen Oper und Oratorium besteht darin, dass die Oper zum großen Teil weltliche Stoffe zum Inhalt hat, während sich das Oratorium mehr auf die geistlichen Geschichten konzentriert. Oratorien werden traditionell in kirchlicher Umgebung aufgeführt. Die Oper bewegt sich im Kreis ihres eigenen Opernhauses und greift nur selten auf die Räumlichkeiten einer Kirche zurück. In der kirchlichen Fastenzeit wurden in der Regel keine Opern gegeben; in dieser Zeit fand das Oratorium verstärktes öffentliches Interesse. Oratorium und Oper haben sich immer gegenseitig beeinflusst, zum Beispiel in der Einführung der Da-capo-Arie aus der Oper, die von Alessandro Scarlatti vorgenommen wurde.
Form
Das frühe Oratorium ist generell zweiteilig, woran sich seine musikalische Herkunft ablesen lässt: In den Andachten Philippo Neris diente die Musik als „Rahmen“ für die Predigt, die zwischen den beiden Teilen erfolgte. Die gesamte Aufführungsdauer liegt bei etwa 40-50 Minuten, die Textlänge bei etwa 350-450 Zeilen.
Der Text ist poetisch geformt, häufig gereimt (mit wechselnder Silbenzahl und Reimstellung). Waren bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts erzählende Textpartien, vorgetragen von einem Solisten, dem „Testo“ (von lat. testis=Zeuge), Standard, so setzt sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine dramatische Form des Oratoriums, ohne epische Textanteile, durch. Damit ist die Grundlage gelegt für den jahrhundertewährenden Streit, ob das Oratorium eher als epische, als dramatische oder vielleicht sogar als lyrische Gattung anzusehen sei.
Die Zahl der Interlocutori, der singenden Personen, beträgt üblicherweise 3-5, wobei die Fünfstimmigkeit (SSATB) ein Charakteristikum des italienischen Madrigals, eines der Vorläufer des Oratoriums, ist. Personengruppen, Volksmengen u. ä. finden sich in frühen Oratorien, im Laufe des 17. Jahrhunderts jedoch immer seltener. Stattdessen schließen sich die Stimmen für betrachtende oder kommentierende Passagen eher zu Ensembles zusammen.
Musikalisch etabliert sich im Oratorium wie in der Oper die Abfolge aus Rezitativen und Arien, die die ursprüngliche kontinuierliche musikalische Gestaltung ablöst. Entscheidend ist die paarige Anordnung: Jeder Arie geht ein Rezitativ in gleicher Besetzung voraus. Die so entstehenden Sinneinheiten entsprechen im weiteren Sinne der Szeneneinteilung in der Oper.
Das deutsche protestantische Oratorium legt einen Bibeltext, in der Regel die Passionsgeschichte (oft in Evangelienharmonie) zugrunde. Die nach ihrem Verfasser Barthold Heinrich Brockes benannte Brockes-Passion blieb dabei für lange Zeit prägend: Den Handlungsleitfaden liefert im Oratorium der Erzähler (Historicus, Testo oder Evangelist). Er stellt die Rahmenhandlung in Rezitativen dem Publikum vor. Worte Jesu und anderer handelnder Personen sind üblicherweise rezitativisch oder als monodische Ariosi mit Streicherbegleitung vertont. Als Beispiel ein kurzer Ausschnitt aus Johann Sebastian Bachs Johannespassion:
Dazu treten weitere Texte, die vom Chor und den Solisten dargeboten werden, wie madrigalische Dichtungen und geistliche Lyrik, die das Geschehen reflektieren und kommentieren, sowie Choralstrophen. Die lyrischen Textteile werden überwiegend als Da-capo-Arien für Solisten oder Gesangsensembles umgesetzt. Der Chor hat eine dreifache Aufgabe: Er übernimmt die wörtliche Rede von Menschenmengen („Turbaechöre“), als Chorarien vertonte madrigalische Texte sowie – quasi als Stellvertreter der Gemeinde – die Choräle.
Aus dieser textlichen Aufteilung ergibt sich eine spezielle Dramaturgie, die sogenannte Drei-Ebenen-Dramaturgie, die als charakteristisch für das Oratorium gelten darf: Zum epischen Erzählerbericht (1) treten individuelle Gefühlsäußerungen in den Arien (2), sowie kollektive Reflexionen der gläubigen Gemeinde in den Chorälen (3). Auch wenn sich das Oratorium phasenweise immer wieder an der Oper orientiert hat und dramatischer gestalteten Entwürfen aufgeschlossen war (bis hin zu einzelnen szenischen Oratorien), wirkt dieser Gestaltungstypus bis in die heutige Zeit nach.
Die Stoffe für ein Oratorium stammen meistens aus dem Alten oder dem Neuen Testament, der Hagiographie und der christlichen Allegorik. Selbst Figuren der Mythologie (z. B. bei Hans Werner Henze) oder der Weltgeschichte (z. B. Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer) sind im Oratorium darstellbar.
Geschichte
Vorläufer des Oratoriums und Entstehung
Den Rahmen für die Entstehung des Oratoriums als Gattung bildet das Trienter Konzil 1545-63, das die Verwendung von Musik im Gottesdienst eng begrenzt. (Diese Bestimmungen wurden noch 1917 bestätigt und erst mit der kirchenmusikalischen Neubestimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962-65 aufgehoben.) Zugelassen werden nur Orgelspiel und Gesang, sofern sie nicht „ausschweifend“ und „zum eitlen Ohrenschmaus“ komponiert sind und die Textverständlichkeit gewahrt bleibt.
Als Gegenbewegung zum Trienter Konzil blühten zahlreiche katholische Reformbewegungen auf, die das kirchliche Leben im 16. Jahrhundert prägten, darunter die Kongregation des Hl. Philippo Neri. In den Gebetsräumen dieses Ordens, dem so genannten Oratorium, fanden geistliche Andachten in der Volkssprache (also italienisch) statt, als Ergänzung zu den „offiziellen“ Gottesdiensten, die auch hier selbstverständlich in der liturgischen Sprache Latein durchgeführt wurden. In den Andachten wechselten sich Gebete, kleinere Predigten und Musikstücke ab. Von besonderer Bedeutung für die musikalische Gestaltung waren die Lauden, mehrstimmige Lobgesänge auf Texte der traditionellen italienischen volkstümlichen geistlichen Lyrik.
Im Jahr 1600 kommt ein Werk auf einen Text des Laudendichters Agostino Manni zur szenischen und musikalischen Aufführung, die Rappresentazione di anima e di corpo von Emilio de’ Cavalieri (1550-1602). Es ist im damals modernen Stil geschrieben (anders als die formal einfach gehaltenen Lauden) und wechselt Solo- mit Ensemble- und Chorgesang. Dabei treten zahlreiche allegorische und biblische Personen auf, wie beispielsweise Intellekt, Rat, Schutzengel, Welt, Verdammte Seelen in der Hölle, Glückliche Seelen im Himmel u. a. Dies bedeutet gegenüber den Lauden eine erhebliche Verlebendigung und Intensivierung des Textes und deutet eine Nähe zur – damals ganz jungen – geistlichen Oper an.
Als weiterer Vorläufer des Oratoriums gelten die italienischen geistlichen Madrigale in Dialogform, die im 17. Jahrhundert im neuen, konzertierenden Stil entstanden. Ein wichtiger Vertreter ist Claudio Monteverdi mit Il Combattimento di Tancredi e Clorinda aus dem 8. Madrigalbuch (1638).
Ungefähr gleichzeitig mit der Bewegung des Hl. Philippo Neri entsteht die Congregatio del Santissimo Crocifisso, eine Gemeinschaft von Gläubigen der römischen Oberschicht. Ihre geistlichen Übungen werden – vielleicht nach dem Vorbild der philippinischen Bewegung – musikalisch aufgelockert, jedoch überwiegend in lateinischer Sprache gestaltet. Besonders reich musikalisch bedacht wurden die Freitage der Fastenzeit sowie Gründonnerstag und Karfreitag. Da der Congregatio del Crocifisso beträchtliche finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, werden für die musikalische Gestaltung gerne Berühmtheiten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina oder Emilio de’ Cavalieri verpflichtet. Aufgeführt werden überwiegend lateinische A-capella-Motetten, wobei auch hier dialogische Formen bevorzugt werden. Anders als bei den italienischen geistlichen Madrigalen handelt es sich hier bei den Texten jedoch in der Regel um Ausschnitte, „Verdichtungen“ des lateinischen Bibeltextes (Vulgata).
Damit werden bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts die Grundlagen für die Herausbildung des italienischen wie des lateinischen Oratoriums gelegt.
17. Jahrhundert
Um 1640 sind erste musikalische Werke bezeugt, die die Bezeichnung Oratorium tragen. Die erste Verwendung des Begriffs für ein musikalisches Werk findet sich bei dem römischen Komponisten und Schriftsteller Pietro Della Valle, der in einem Brief im Dezember 1640 von einer Aufführung eines Oratoriums für Mariä Lichtmess berichtet, die im Haus des Komponisten stattfand. Andere Werke aus dieser Zeit, die diesem Oratorium ähneln, tragen jedoch häufig noch die Bezeichnung „Dialogo“ oder „Cantata“; die Grenze zwischen diesen Gattungen ist nicht scharf gezogen.
Zu den ersten bekannten italienischen Oratorien gehören Giacomo Carissimis „Daniele“ und ein „Oratorio della Santissima Vergine“ (wahrscheinlich vor 1642 entstanden), ein Auferstehungsoratorium „Oratorio per il giorno di Resurrezione“ von Marco Marazzoli (nach 1636) sowie etliche Werke von Luigi Rossi. Lateinische Oratorien sind etwas später nachgewiesen, ebenfalls von Carissimi sowie von Francesco Foggia und Bonifazio Graziani.
Recht bald weckt das Oratorium das Interesse kirchlicher und weltlicher Würdenträger und etabliert sich schnell als repräsentative musikalische Gattung in allen damaligen musikalischen Zentren Italiens: Rom, Bologna, Modena, Florenz, Venedig, Neapel. Vor allem das in der Gestaltung freiere italienische Oratorium findet Verbreitung; das lateinische ist seltener.
Bedeutende italienische Oratorienkomponisten des 17. Jahrhunderts sind Marco Marazzoli, Domenico Mazzocchi, Pietro Della Valle, Luigi Rossi, Giacomo Carissimi, Francesco Foggia, Alessandro Stradella, Alessandro Scarlatti, Vincenzo De Grandis, Giovanni Carlo Maria Clari, Antonio Caldara, Carlo Francesco Pollaiolo, Tommaso Pagano, Donato Ricchezza und andere.
Mitte des 17. Jahrhunderts gelangt das Oratorium nach Wien: durch zwei Venezianer, die wichtige musikalische Funktionen am Hof bekleideten, Giovanni Priuli (ca. 1580-1629) und Giovanni Valentini (1582-1644).
In der Folgezeit etablierte sich der spezielle Typ des „Oratorio al Sepolcro del Venerdì Santo“, das in der musikwissenschaftlichen Literatur als „Wiener Sepolcro“ bekannt ist. Die Oratorien aus dem Wien des 17. Jahrhunderts tragen deshalb selten die Bezeichnung „Oratorio“, sondern heißen häufiger Rappresentazione sacra al Sepolcro, Azione sacra oder Componimento sacro al Sepolcro. Charakteristisch für das Wiener Sepolcro ist die szenische Darstellung und die Einteiligkeit. Als Komponisten des Sepolcro traten zahlreiche Wiener Hofkapellmeister und Opernkomponisten hervor, im 17. Jahrhundert Giovanni Felice Sances, Antonio Draghi und Giovanni Battista Pederzuoli, im 18. Jahrhundert Marc’ Antonio Ziani, Johann Joseph Fux, Antonio Caldara und Francesco Bartolomeo Conti. Auch Kaiser Leopold I. hat mehrere Oratorien komponiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts treten Georg Christoph Wagenseil, Carl Ditters von Dittersdorf, Antonio Salieri und Joseph Haydn mit italienischen Oratorien hervor.
Die wichtigsten Librettisten des Oratoriums in Wien sind im 17. Jahrhundert der Hofdichter Nicolò Minato als Hauptlibrettist des Sepolcro, im 18. Jahrhundert Pietro Metastasio und Apostolo Zeno.
Mit dem Tod Kaiser Karls VI. erlischt die Linie Habsburg in Österreich, und damit endet auch die glanzvolle Zeit des Wiener Hofes. Mit den musikalischen Aktivitäten kommt auch die Oratorienproduktion weitgehend zum Erliegen.
In Frankreich bewirkten die Hugenottenkriege und der Absolutismus eine nahezu ein Jahrhundert andauernde musikalische Stagnation, die in besonderem Maße die Kirchenmusik betraf. Dies führte nicht nur dazu, dass die italienische Oper in Frankreich nicht wirklich Fuß fasste, sondern schnell in eine eigenständige französische Oper mündete, sondern verhinderte auch die Etablierung des Oratoriums. Marc-Antoine Charpentier (ca. 1645/50-1704), von dem einige lateinische Oratorien überliefert sind, stellt eine zeit-untypische Ausnahme dar, deren Einfluss auf die weitere musikgeschichtliche Entwicklung gering blieb.
Barock
Italien
Nach wie vor stellt im 18. Jahrhundert Italien eines der wichtigsten Oratorienzentren dar. Stilistisch machen sich der Übergang vom Generalbasszeitalter zur Wiener Klassik sowie der Siegeszug der neapolitanischen Oper bemerkbar. Letzterer führte dazu, dass die für das Oratorium typische Da-capo-Arie immer häufiger durch andere ariose Formen (z. B. Cavatine, Rondo) ersetzt wird. Auch Anzahl und Umfang von Chören, Ensembles und Instrumentalstücken werden größer. Insgesamt zeigt sich jedoch das Oratorium stilistisch als konservativer als die Oper; weder finden charakteristische Elemente der Opera buffa Eingang noch die typische motivisch-thematische Arbeitsweise der Klassik. Der überwiegende Teil der überlieferten Werke ist italienisch; lateinische Oratorien machen nur noch eine geringe Zahl aus.
Einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des italienischen Oratoriums im 18. Jahrhundert haben die sieben Oratorienlibretti Pietro Metastasios, die zwischen 1730 und 1740 entstanden und in den folgenden Jahrzehnten unzählige Male vertont wurden. Sie zeichnen sich aus durch den konsequenten Wechsel zwischen Rezitativ und Arie, wobei die Rezitative in hohem Maße erzählende, reflektierende und moralisierende Passagen enthalten; ein „testo“ als zentrale Erzählinstanz existiert jedoch nicht.
Die meisten Oratorienkomponisten dieser Zeit sind die bei großen kirchlichen Institutionen angestellte Kapellmeister. Zu den bedeutendsten zählen Niccolò Jommelli, Giovanni Battista Casali und Pietro Maria Crispi in Rom, Giovanni Battista Martini in Bologna, Baldassare Galuppi in Venedig und Domenico Cimarosa in Neapel.
Das norddeutsche, protestantische Oratorium
Eine gegenüber Italien eigenständige Entwicklung machte das deutsche, evangelisch geprägte Oratorium. Zu den Vorläufern gehören responsoriale Passionsvertonungen sowie Historien, die sich im 17. Jahrhundert zunehmend nicht mehr auf die Vertonung des Bibeltext beschränkten, sondern textliche und musikalische Einschübe enthielten; auch die Dialoge und kleinen geistlichen Konzerte z.B. von Heinrich Schütz spielten eine Rolle.
Zu den wichtigsten Vorläufern des deutschen protestantischen Oratoriums gehören die Kompositionen, die Dietrich Buxtehude für seine Lübecker Abendmusiken schrieb. An fünf Sonntagen im Jahr führte er nach der Nachmittagspredigt eine fünfteilige, inhaltlich zusammenhängende geistliche Komposition auf. Der Text ist aus wörtlichen und paraphrasierten Bibelstellen sowie geistlichen Gedichten und Choralstrophen zusammengesetzt; die musikalische Anlage lässt Anleihen an das italienische Oratorium erkennen.
Als erstes deutsches Oratorium gilt „Der blutige und sterbende Jesus“, vertont von Reinhard Keiser, von dem jedoch nur noch das Libretto von Christian Friedrich Hunold erhalten ist. Die Uraufführung fand 1704 in Hamburg statt. Gegenüber den responsorialen Passionsvertonungen ist neu, dass der zugrundeliegende Bibeltext nicht wörtlich übernommen, sondern vollständig in Versen nacherzählt ist. Die freie Behandlung des Bibeltextes zog die Kritik der Hamburger Kirchenobrigkeit auf sich, der auch die vitale Hamburger Oper ein Dorn im Auge war. Weder die Oratorien Keisers noch die Matthesons und Telemanns wurden in Kirchen aufgeführt. Damit verlor das Oratorium seine gottesdienstliche Bindung und entwickelte sich von einer kirchenmusikalischen zu einer konzertanten Gattung.
Von Keisers weiteren Oratorien ist musikgeschichtlich vor allem das Passionsoratorium „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Heiland“ (1712) von Bedeutung. Textgrundlage ist hierbei eine Passionsdichtung aus der Hand des jungen Barthold Heinrich Brockes. Die sogenannte „Brockes-Passion“ wurde in der Folgezeit von zahlreichen bedeutenden Komponisten vertont (z.B. Georg Friedrich Händel 1716, Johann Mattheson 1718, Georg Philipp Telemann 1722) und verhalf damit dem Oratorium endgültig auch in Deutschland zum Durchbruch.
Die Stoffauswahl des deutschen barocken Oratoriums beschränkt sich weitgehend auf Passion und Weihnachten. Von Johann Mattheson (dessen Manuskripte nach dem 2. Weltkrieg als Beutekunst nach Eriwan kamen und deshalb erst in den letzten Jahren nach und nach wieder zugänglich wurden) sind nur wenige Oratorien bekannt, die nicht die Passionsgeschichte behandeln, wie „Der gegen seine Brüder barmherzige Joseph“ von 1727; auch Georg Philipp Telemann schrieb nahezu ausschließlich Passionsoratorien. Dafür bringen Telemann und seine Textdichter allegorische Figuren in das Geschehen des Oratoriums ein und beschränken sich nicht auf das biblische Personal.
Außerhalb Hamburgs sind bis 1760 nur wenige Oratorien bekannt. Passionsoratorien sind vor allem von Carl Heinrich Graun in Dresden, Gottfried Heinrich Stölzel in Gotha und Christian Friedrich Rolle in Magdeburg überliefert; kleinere Zentren der Oratorienpflege bildeten zeitweilig Danzig, Schwerin-Ludwigslust, Berlin und Leipzig.
Den Höhepunkt und Abschluss des deutschen protestantischen Passionsoratoriums stellen die Passionen Johann Sebastian Bachs dar (Johannes-Passion BWV 245, 1724; Matthäus-Passion BWV 244, 1727/29 (Frühfassung) bzw. 1736 (endgültige Fassung); Markus-Passion BWV 247, 1731). Bach hatte sich intensiv mit der Hamburger Oratorientradition beschäftigt, was zahlreiche von ihm geleitete Aufführungen von Passionen Reinhard Keisers belegen. Musikalisch wie textlich finden sich in seinen Passionen Anleihen bei Keiser und Telemann, werden von ihm jedoch mit eigenem Ausdruck gefüllt. Anders als bei Brockes dienen Bach die madrigalischen und Choraltexte nicht mehr als Einstimmung auf den Bibeltext, sondern als theologische Deutung; sie wenden sich nicht an einen zu bekehrenden Hörer, sondern an den fromm gebildeten, traditionsbewussten Christen.
Die übrigen Oratorien Bachs – Weihnachtsoratorium BWV 248, Osteroratorium BWV 249, Himmelfahrtsoratorium BWV 11– heben sich von den Passionen deutlich ab und stehen eher mit seinem Kantatenschaffen in Verbindung. Tatsächlich wurden sie alle ursprünglich als Kantaten komponiert und erst nachträglich bzw. bei Überarbeitungen von Bach als „Oratorium“ betitelt. Ähnlich wie in Bachs übrigen Kantaten steht auch in diesen Werken weniger der Bibeltext als vielmehr der verwendete Choral im Mittelpunkt.
Zu den bekanntesten noch heute häufig aufgeführten Oratorien zählen die Oratorien Bachs sowie der Messiah von Händel, dessen weitere Oratorien (z. B. Belshazzar, Judas Maccabaeus, Solomon, etc.) heute deutlich weniger präsent sind.
Katholische Oratorienzentren im deutschen Sprachraum
Steht im 16. und 17. Jahrhundert Dresden für eine wichtige Stätte evangelischer Kirchenmusik, die mit den Namen Johann Walter, Heinrich Schütz und anderen eng verbunden ist, so ändert sich dies im 18. Jahrhundert mit der Konversion des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. zum Katholizismus. Dresden wird in dieser Zeit nicht nur architektonisch, sondern auch musikalisch Hochburg des italienischen Barocks in Deutschland. Am Heiligen Grab, das in den 1720er Jahren nach Wiener Vorbild in der Dresdner Hofkirche errichtet wurde, wurden jährlich am Karsamstag, zeitweise auch am Karfreitag, Passionsmusiken und Oratorien aufgeführt. Auf diese Weise wird das italienische Oratorium als Fortsetzung des Wiener Sepolcro in Deutschland heimisch.
Die wichtigsten Dresdner Oratorienkomponisten sind Johann David Heinichen, Jan Dismas Zelenka, Johann Adolf Hasse und Johann Gottlieb Naumann.
Daneben liegen die wichtigsten Entstehungsstätten katholisch geprägter deutschsprachiger Oratorien vor allem auf österreichisch-habsburgischem Gebiet. Die wichtigsten Komponisten sind hier Gregor Joseph Werner als Kapellmeister in Eisenstadt, Johann Georg Albrechtsberger, Organist am Stift Melk sowie in Salzburg Leopold Mozart und Johann Ernst Eberlin. Auch Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Michael Haydn haben Beiträge zum katholischen Oratorium geleistet (Mitwirkung an der Komposition des Oratoriums „Die Schuldigkeit des ersten Gebots“).
Auch in Wien beginnt sich seit den 1770er Jahren das deutschsprachige anstelle des italienischen Oratoriums durchzusetzen, bleibt jedoch insgesamt zahlenmäßig gering. Das entstehende kulturelle Umfeld mit der bürgerlichen Tonkünstler-Societät und dem unermüdlichen Einsatz des Barons Gottfried van Swieten für die Werke Johann Sebastian Bachs, Georg Friedrich Händels und Carl Philipp Emanuel Bachs bilden jedoch die Entstehungsgrundlage für die großen Oratorien Joseph Haydns (Die Schöpfung, Die Jahreszeiten) an der Schwelle zum 19. Jahrhundert.
England
Das englische Oratorium wird im 18. Jahrhundert wie auch die Musikgeschichte des Landes allgemein von der Person Georg Friedrich Händels geprägt und dominiert. Aufgrund der Distanzierung der englischen Kirche vom Katholizismus gibt es vor Händel kein Oratorium in England. Erst die Phase religiöser Toleranz unter König Georg II. schuf die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg der Oratorien Händels.
Händel selbst komponierte in jungen Jahren einige italienische Oratorien und ein Passionsoratorium nach Barthold Heinrich Brockes; diese Werke treten aber hinter seinem englischen Oratorienschaffen quantitativ wie qualitativ deutlich zurück. Das erste Mal verwendet Händel die Gattungsbezeichnung „Oratorio“ für ein englisches Werk im Jahr 1732, als er seine beiden Bühnenwerke „Acis and Galatea“ und „Esther“ (beide wahrscheinlich 1718 entstanden) bearbeitet und konzertant aufführt. Zu diesem Zeitpunkt hat Händel bereits 20 Jahre als Opernkomponist in London hinter sich. Dennoch stellen seine Oratorien nicht einfach die Fortsetzung seines Opernwerks dar, sondern weisen erhebliche Unterschiede auf. Neben der Verwendung der englischen Sprache betrifft dies vor allem die Art des Gesangs, der nicht mehr auf die italienischen Stimmvirtuosen ausgelegt ist, wie es in den Opern der Fall ist. Statt dessen entwickelt Händel einen speziellen englischen oratorientypischen Tonfall und weist in vielen Oratorien dem Chor eine erhebliche Rolle zu, die am deutlichsten in „Messiah“ und „Israel in Egypt“ zum Tragen kommt. Eine Besonderheit des händelschen Oratoriums, das es von den Werken auf dem Festland unterscheidet, ist seine Dreiteiligkeit – diese ist tatsächlich dem Einfluss der Oper, die grundsätzlich aus drei Akten bestand, geschuldet. Die Sujets entstammen fast alle dem Alten Testament, welches im englischen Puritanismus überaus beliebt war. Dabei griffen Händels Textdichter jedoch häufig nicht direkt auf die Bibel zurück, sondern auf literarische Bearbeitungen: für „Samson“ beispielsweise bearbeitete der Librettist Newburgh Hamilton das biblische Drama „Samson Agonistes“ von John Milton.
Der Erfolg des Oratoriums in England hängt nicht zuletzt mit dem zunehmenden Selbstbewusstsein der erstarkenden bürgerlichen Mittelschicht zusammen. Diese wandte sich von der als aristokratisch empfundenen italienischen Oper ab und dem Oratorium, das nicht als kirchliche, sondern als zwar geistliche, aber doch theatralisch-konzertante Gattung angesehen wird, zu.
In der Nachfolge Händels entstehen überall in England große Musikfeste, die nicht nur für die Pflege seines Werkes, sondern auch für die weitere Entwicklung des Oratoriums eine wichtige Rolle spielten. Daran beteiligt waren große Chorgemeinschaften, in denen sich das Bürgertum versammelte und seinen kulturellen Anspruch gesellschaftlich verdeutlichte. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten Händels Oratorien zum festen Repertoire der Musikfeste in englischen Städten; eine besondere Rolle spielten die Aufführungen des „Messiah“, die – nach dem Vorbild der von Händel selbst organisierten und geleiteten Aufführungen – meist karitativen Zwecken dienten.
Die Dominanz Händels und seiner Werke bewirkte, dass über Jahrzehnte nur wenige Oratorien anderer Komponisten (zum Beispiel John Stanley und John Christopher Smith) entstanden. In allen lässt sich ein mehr oder weniger deutlicher Einfluss Händels ausmachen, so dass sie bis heute Randerscheinungen blieben.
Vorklassik und Klassik
Während Bachs Passionen die barocke Oratorientradition mit einem letzten Höhepunkt abschließen, zeigt sich in einem anderen beliebten Werk der damaligen Zeit ein Oratorientypus, der in der Folgezeit vorherrschend werden sollte: in Carl Heinrich Grauns Vertonung eines Passionslibrettos von Karl Wilhelm Ramler, „Der Tod Jesu“ (1755). Später folgen zwei weitere Oratorien „Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem“ (1758) und „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ (1760). Literarhistorisch und ästhetisch gehören diese Oratorien in den Umkreis der (vorklassischen) Empfindsamkeit, auch wenn sich – anders als kurze Zeit später bei Georg Friedrich Händels „Messias“ – direkte Einflüsse Klopstocks nicht finden. Grauns „Tod Jesu“ hatte bei seinem Erscheinen überaus großen Erfolg und wurde häufig aufgeführt; in Berlin sogar fast jährlich bis 1858 und noch einmal von 1866 bis 1884.
Textlich wie musikalisch markiert Grauns Werk einen neuen Oratorienstil. Die Unmittelbarkeit des biblischen Geschehens wird von Betrachtung und Reflexion des Bibeltextes abgelöst. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wörtliche Rede handelnder Personen nicht mehr durch einzelne Solisten besetzt, sondern in die Erzählung als Zitat eingebunden wird. Die Betrachtung ist durch die Anschauungen der protestantischen theologischen Aufklärung geprägt, die Jesus als vorbildlichen Weisen ansieht und aus seinem Handeln einen tugendhaften Lebenswandel ableitet, der zur „Unsterblichkeit der Seele“ führen soll. Musikalisch nehmen galante, „vorklassische“ Stilelemente überhand: kontrastreiche Dynamik, symmetrische Melodik und eine Vorliebe für Terz- und Sextparallelen.
Zum Zeitalter der Klassik und der entsprechenden Tonsprache leitet Die Schöpfung von Joseph Haydn hinüber, die ein großartiger Erfolg für den Komponisten wurde.
Das Oratorium in der Wiener Klassik wird bestimmt von den wenigen Oratorien Joseph Haydns (Die Schöpfung, Die Jahreszeiten) und Ludwig van Beethovens (Passionsoratorium Christus am Ölberge). Alle drei stellen individuelle Auseinandersetzungen mit der Gattungstradition dar, die jedoch ohne direkte Nachfolger blieben. Bei Haydn ist vor allem die Bedeutung des Chores, die sich so bis dahin allenfalls bei Händel findet, sowie die Aufhebung der Kopplung von Rezitativ und nachfolgender Arie auffällig. Beethoven betritt mit der musikalischen Gestaltung der Christusfigur neue Wege: Christus erscheint als nahezu opernhaft agierende Person, wenig entrückt, sondern sehr handfest. Dies hat Beethoven, trotz des unmittelbaren Erfolgs seines Oratoriums, starke Kritik eingebracht.
Das bekannteste „weltliche“ Oratorium dürfte Die Jahreszeiten von Joseph Haydn sein.
Am Übergang zur Romantik entstand 1810 das ernste Oratorium "Die vier letzten Dinge" von Joseph Leopold Eybler. Felix Mendelssohn Bartholdys Elias und Paulus hingegen leiten eindeutig die Epoche des romantischen Oratoriums ein.
Romantik
Deutscher Sprachraum
Aufgrund der Napoleonischen Kriege stagniert das kulturelle Leben in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In der Folgezeit entwickelt sich Deutschland zum führenden kulturellen Zentrum der Oratorienpflege.
Ausgehend von den Werken der Wiener Klassik vollzieht das Oratorium im 19. Jahrhundert endgültig den Schritt aus dem kirchlichen Raum in die Welt des bürgerlichen Konzertwesens. Die ohnehin schon schwach gewordene konfessionelle Bindung schwindet damit völlig, ebenso wie sich regionale Ausprägungen zunehmend verwischen. Das Oratorium wird als geistliches Gegenstück zur Sinfonie angesehen, was seine „Verweltlichung“ ebenso fördert wie die Restaurationsbestrebungen innerhalb der Kirchenmusik, die auf Palestrina und das A-cappella-Ideal beruft.
In dem Maße, wie die Bedeutung der Höfe und kirchlichen Zentren für die Oratorienpflege schwand, nimmt die Bedeutung der großen Musikfeste und der bürgerlichen Musikvereinigungen und Singakademien zu. Die bedeutendsten sind die Tonkünstler-Societät in Wien, die Musikalische Akademie in München und die Sing-Akademie zu Berlin. Um den Vorlieben dieser Konzerte, in denen häufig Dilettanten und Profis gemeinsam musizierten, entgegenzukommen, steigt der Anteil und die Differenzierung der Chöre in den Oratorien des 19. Jahrhunderts weiter an. Friedrich Schneider, dessen Oratorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten zählten, besetzt diverse Nummern mit unterschiedlich besetzten Ensembles, die er dem großen Chor entnimmt – ein Konzept, das sich auch bei Felix Mendelssohn Bartholdy findet. Händels Chöre hatten dabei großen Einfluss auf die Gestaltung der Chorpartien.
Die wichtigsten Oratorienkomponisten des 19. Jahrhunderts sind: Friedrich Schneider (Das Weltgericht, Gethsemane und Golgatha u.a.), Carl Loewe (Gutenberg, Das Sühnopfer des neuen Bundes u.a.), Felix Mendelssohn Bartholdy (Elias, Paulus, Christus), Robert Schumann (Das Paradies und die Peri (1843), Der Rose Pilgerfahrt), Franz Liszt (Die Legende der heiligen Elisabeth (1862), Christus), Louis Spohr (Des Heilands letzte Stunden), Friedrich Kiel (Christus). Als Gipfel der Oratorienkomposition der deutschen Romantik kann die Tetralogie Christus von Felix Draeseke gelten. Wie das gleichnamige Liszt-Werk zeigt sie Parallelen zu Richard Wagner, diesmal allerdings zum Ring des Nibelungen.
Frankreich
Aufgrund des französischen Zentralismus spielt sich das musikalische Leben Frankreichs überwiegend in Paris ab. Aufgrund der übermächtigen Wirkung der Oper im öffentlichen kulturellen Leben tritt als einziger Oratorienkomponist in der ersten Jahrhunderthälfte Jean-Francois Le Sueur in Erscheinung. Er verwendet den Begriff Oratorium in sehr individueller, unsystematischer Weise. Seine Werke, nicht nur die gattungsgeschichtlich einzigartigen „Krönungsoratorien“, repräsentieren die zu diesem Zeitpunkt bereits fast verstummte katholisch-italienische Oratorientradition. Sie stehen in der Gattungsgeschichte isoliert dar und sind ohne Einfluss auf spätere Komponisten, selbst auf seinen Schüler Hector Berlioz, geblieben. Doch auch das übrige europäische Oratorium findet in Frankreich kaum Anklang; einzig Beethovens Christus am Ölberg findet Eingang ins Konzertrepertoire.
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts finden sich Oratorien an den Grenzen zu großen symphonischen Gattungen. Wenige Komponisten verwenden noch eindeutige Gattungszuweisungen, zumal die kirchliche Bindung denkbar gering ist. Gleichberechtigt mit großen Konzertoratorien erscheinen als „Symphonie dramatique“ oder „Mystère“ bezeichnete Werke; erstere eher mit weltlichem, letztere mit geistlichem Text.
Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehen in Frankreich Konzertgesellschaften nach dem Vorbild der Singakademien und setzt eine Rezeption klassischer und zeitgenössischer Vorbilder ein. Dies führt auch zu einer Belebung des französischen Oratorienschaffens, das einen besonderen Schwerpunkt bei der Behandlung der Weihnachtsgeschichte erkennen lässt.
Die wichtigsten Komponisten und Werke: Hector Berlioz (L’Enfance du Christ, La damnation de Faust), Felicien David (Moise au Sinai, Eden), Charles Gounod (Tobie, Les sept paroles de Notre Seigneur Jésus-Christ sur la croix, La Rédemption), Camille Saint-Saens (Oratorio de Noel), César Franck (La Rédemption, Les béatitudes), Jules Massenet (Eve, La vierge), Gabriel Pierné (La Nuit de Noel, Les enfants à Bethléem)
England
Da England nicht unmittelbar von den Napoleonischen Kriegen betroffen war, findet sich hier eine für diese Zeit einzigartige kulturelle Kontinuität, die bewirkte, dass das Oratorium bis zur Jahrhundertwende als Inbegriff des Erhabenen eine besondere Wertschätzung erfuhr. Wie in Deutschland spielten für die Oratorienpflege die großen Musikfeste (z. B. das Three Choirs Festival99 in Worcester, Gloucester und Hereford, und das Musikfest in Birmingham) sowie die von Laien getragenen Choral Societies eine wichtige Rolle.
Die Oratorienproduktion ist in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vom übermächtigen Vorbild Georg Friedrich Händels, vor allem seines Messiah, geprägt. Ab der Jahrhundertmitte dienen Felix Mendelssohn Bartholdys Elias sowie die erst spät wiederaufgeführten Passionen Johann Sebastian Bachs als nahezu ebenso wirkungsmächtige Vorbilder. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts öffnet sich England einem zunehmenden gegenseitigen musikalischen Austausch von Einflüssen mit anderen Ländern, was zuvor durch die einzigartige konfessionelle Homogenität und religiöses Gattungsbewusstsein gebremst worden war. Eigene, neue Wege gehen erst die Komponisten der New English School, die nach einer Erneuerung der nationalen Tonsprache streben.
Die wichtigsten Komponisten und Werke: George Frederick Perry (Hezekiah), George Alexander Macfarren, Arthur Sullivan (The prodigal son), Alexander Mackenzie (The Rose of Sharon, Bethlehem), Charles Villiers Stanford (The Three Holy Children, Eden), Hubert Parry (Judith, Job, King Saul), Edward Elgar (The Light of Life, The Dream of Gerontius), Charles Edward Horsley (Gideon, David, Joseph), Henry David Leslie (Judith, Immanuel)
20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert kennt eine Vielzahl von Oratorienformen. Eine generelle Richtlinie ist nicht festzustellen, statt dessen zeichnen sich viele verschiedene Lösungen ab. Arthur Honegger schloss 1921 sein Oratorium Le roi David ab, Igor Strawinsky entwickelte mit Oedipus Rex (1927) eine Zwischenform von Oper und Oratorium - das Werk kann, muss aber nicht, zwingend szenisch aufgeführt werden. Arnold Schönberg steuerte mit Die Jakobsleiter (1917-22) seinen Beitrag zur Gattung bei. Kurt Thomas schuf kurz darauf das Oratorium Saat und Ernte (op. 36). In Österreich erbrachte Franz Schmidt ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Gattung, der auch im 21. Jahrhundert wieder neu zur Aufführung gebracht wurde: Das Buch mit sieben Siegeln für Soli, Chor und Orchester, Text nach der Offenbarung des heiligen Johannes (komp.: 1935-37; Urauff: Wien, 1938). Ebenfalls 1938 zur Aufführung kam Arthur Honeggers Oratorium Jeanne d’Arc au bûcher. Sodann gehört auch Michael Tippetts A Child of Our Time (1939-41) zu den bekannten Oratorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Nach dem zweiten Weltkrieg erfolgte ein Neuanfang in dieser Gattung mit Johannes Driesslers reichem oratorischem Schaffen. Zu nennen sind hier die größeren Werke: Dein Reich komme, op. 11 (1947/1948, Uraufführung 1950), De profundis, Op. 22 (1952), Der Lebendige, Op. 40. (1954-1956), Oratorien, die zum Teil opulent besetzt sind (Vokalsolisten, Kammerchor und großer Chor, Holzbläser, Blechbläser, Klavier, Schlagwerk) und Wege einer neuen Klangsprache in dieser Gattung suchen.
Heinz Wunderlichs Hauptwerk ist das szenische Osteroratorium Maranatha – Unser Herr kommt. Das Werk entstand 1953 und stellt die biblischen Ereignisse zwischen dem Ostermorgen und Christi Himmelfahrt dar. Das Jahr, ein Oratorium nach einer Dichtung von E. Hecker, schuf Hans Friedrich Micheelsen.
Mit der Gattung Oratorium setzte sich auch Johann Nepomuk David auseinander. Er schuf 1957 das Ezzolied, ein Oratorium für Soli, Chor und Orchester (op. 51).
In der ihm eigenen Tonsprache schrieb Hans Werner Henze das Oratorium Das Floß der Medusa (Fertigstellung 1968), das die Gattung aus dem Raum der Kirche hinausführte. Ähnliches gilt für das Schaffen von Milko Kelemen, insbesondere für sein Oratorium Salut au Monde, das wegen seiner Schwierigkeit und seiner großen Besetzung weltweit erst drei mal (Stand 2005) aufgeführt wurde.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schrieb Oskar Gottlieb Blarr zwei Oratorien über Jesus: Jesus - Geburt. Weihnachtsoratorium (1988/1991) und das Oster-Oratorium (1996). Bertold Hummel schuf mit seinem Hauptwerk Der Schrein der Märtyrer (1989) ein großdimensioniertes Oratorium, das mit Evangelientexten, irischen und lateinischen Gebeten den ursprünglichen Sinn der Genrebezeichnung zu erfüllen vermag. International viel beachtet wurde Tom Johnsons Bonhoeffer-Oratorium (1998), das zahlreiche europäische und amerikanische Aufführungen erlebte.
Im Bereich der geistlichen Popularmusik machte sich der Liedermacher und Kantor Siegfried Fietz mit der Schaffung von Oratorien (und ihrer Einspielung) einen Namen. Zu erwähnen sind sein Paulusoratorium, Petrusoratorium, Johannesoratorium und sein Lutheroratorium.
21. Jahrhundert
Für die Weiterentwicklung der Gattung Oratorium im 21. Jahrhundert ist Hans Georg Bertram zu nennen. Sein Hioboratorium (2001) und sein Schöpfungsoratorium (2005) verbinden die alte Gattung mit der Moderne und ihren neuen Mitteln. Ebenfalls an der Jahrhundertschwelle findet sich John Coolidge Adams mit seinem El Niño - A Nativity Oratorio (1999-2000).
Im Bereich der geistlichen Popularmusik machte sich der katholische Kantor und Komponist Thomas Gabriel mit der Schaffung von Oratorien (und ihrer Einspielung) einen Namen. Zu erwähnen sind seine Oratorien Emmaus (2002) und Bonifazius (2004). Mit oftmals Elementen des neuen geistlichen Liedes arbeitet Gregor Linßen in seinen Oratorien wie Die Spur von morgen (1981) oder auch PETRUS und der Hahn (2007). Auf evangelischer Seite ist Klaus Heizmann zu nennen. Seine Oratorien sind Israel Schalom (1988), Jerusalem Schalom (1994), Das Licht leuchtet in der Finsternis (1998) und Aus der Finsternis ins Licht (2007).
Auch Paul McCartney hat zwei Oratorien geschrieben. Liverpool-Oratorium (1991) und Ecce Cor Meum (2006).
Weitere Formen
Abendmusiken
Auch die ab Mitte des 17. Jahrhunderts von den Organisten der Lübecker Marienkirche (Tunder, Buxtehude) für die gleichnamige Konzertveranstaltungsreihe komponierten Abendmusiken werden als Untergattung den Oratorien zugerechnet.
Ab etwa 1960 lassen sich neue Formen des Oratoriums beobachten:
Kinderoratorium
Hinter dem Begriff „Kinderoratorium“ verbirgt sich ein oratorisches Werk, das entweder von Kinderchören aufgeführt werden kann oder einen kindergerechten Inhalt bietet. Auch hier greift die oben bereits angedeutete Unterscheidung zwischen „Singspiel für Kinder“ (szenisch) und „Kinderoratorium“ (konzertant). Davon auch zu unterscheiden ist der Begriff „Kindermusical“ (siehe entsprechende Erläuterungen zu diesem Begriff unter Musical).
Beispiele:
- Paul Burkhard: Kinder-Oratorium Zäller Wienacht, 1960; große Verbreitung in der Schweiz
- Holger Hantke: Die Weihnachtsgeschichte für Kinder. Oratorium für Soli, Kinderchor, Blockflötenquartett, Querflöte, Streichquartett und obligate Orgel, 1999
- Chris Seidler: Kinderoratorium 7 Himmel (interreligiöses Werk)
Pop-Oratorium
Ein Oratorium mit dieser Gattungsbezeichnung zeigt an, dass es explizit zum Musikstil der Popularmusik gerechnet werden möchte.
Beispiele:
- Peter Maffay (Musik), Michael Kunze (Text) unter Verwendung einer Idee von Novalis mit Liesbeth List (Solistin) und weiteren Mitwirkenden: Die Blaue Blume. Ein Pop-Oratorium, 1972
- Johannes Nitsch, Helmut Jost: Ewigkeit fällt in die Zeit – Ein Pop-Oratorium zur Christusgeschichte, 1989
- Helmut Hoeft (Musik) und Wolfgang Fietkau (Text): Unterwegs: Haltestelle Gegenwart - Vom Seiltanz zwischen Engeln und Quälgeistern. Ein Pop-Oratorium, 2001
- Arndt Büssing: Zurück in Deine Hände – Ein Pop-Oratorium auf dem Weg von Emmaus und zurück, 2003
- Michael Benedict Bender: King Dave. Pop-Oratorium (ohne Jahresangabe).
Rock-Oratorium
Dieser Oratorienstil arbeitet mit der Tonsprache und den Mitteln der Rockmusik.
Beispiele:
- Richard Geppert: Moses, 1985
- Thomas Gabriel: Daniel
Siehe auch
- Passionsoratorium
- Formen der Kirchenmusik
- Liste der Kirchenmusikkomponisten
- Portal:Kirchenmusik
Literatur
- Cäcilie Kowald: Das deutschsprachige Oratorienlibretto 1945–2000. Dissertation, TU Berlin 2007 (Volltext) – mit einem Verzeichnis deutschsprachiger Oratorien 1945–2007
- Silke Leopold, Ullrich Scheideler (Hrsg.): Oratorienführer. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-00977-7
- Günther Massenkeil: Oratorium und Passion. 2 Bände. Laaber, Laaber 1998/99, ISBN 3-89007-133-3, ISBN 3-89007-481-2
- Howard E. Smither: A history of the oratorio. 4 Bände. University of North Carolina Press, Chapel Hill 1977-2000
- Oratorium. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. 26 Bände in 2 Teilen, hrsg. von Ludwig Finscher. Metzler, Stuttgart u.a. 1994 ff.
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