Pariskanone

Pariskanone
Paris-Geschütz

Unter dem Namen Paris-Geschütz wurde im Ersten Weltkrieg ein deutsches Fernkampf-Geschütz der Firma Krupp vom Kaliber 21 cm bekannt. Es hatte eine außergewöhnliche Reichweite von etwa 130 Kilometern und beschoss im Jahr 1918 Paris.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau und Daten

Das Geschütz hatte eine Rohrlänge von 37 Metern, d. h. von 176 Kalibern (L/176). Das Rohr war eine Konstruktion aus einem 17 m langen (Mantel-)Rohr mit 38 Zentimeter Innendurchmesser (vom Geschütz Langer Max), in das ein 30 m langes gezogenes 21-cm-Rohr (Seelenrohr) eingesetzt wurde. Schließlich wurde noch ein 6 m langes glattes Rohr (die sogenannte „Tüte“) angefügt. Die überlange Konstruktion wurde durch ein charakteristisches hängebrückenartiges Spannwerk gegen Durchhängen geschützt. Dieses Geschützrohr wurde als „Kaiser-Wilhelm-Rohr“ bezeichnet. Es verschoss Spreng-Granaten von 106 Kilogramm Masse (Sprengladung etwa 7 kg) mit einer ballistischen Haube und einer Mündungsgeschwindigkeit v0 von bis zu 1645 Meter pro Sekunde. Die Kanone hatte eine Gesamtmasse von rund 140 Tonnen und wurde mit der Eisenbahn an den Einsatzort transportiert. Deswegen war es aber kein Eisenbahngeschütz, sondern schoss aus drehbaren sogenannten Schieß-Gerüsten von stationären Bettungen aus Beton oder Stahl. Die drei verschiedenen Geschützstellungen lagen etwas abseits bestehender Eisenbahn-Strecken jeweils in Deckung eines größeren Waldes. In die Stellung wurde ein mehrgleisiger Anschluss gebaut. Abseits der eigentlichen Stellung wurden Schein-Stellungen gelegt, sogar mit Gleis-Anschluss.

Die Reichweite von circa 130 km beruhte auf einer ballistischen Besonderheit. Mit einem hohen Abgangswinkel von bis zu 55°, einer sehr starken Treibladung und dem überlangen Rohr konnte die Gipfelhöhe in den oberen Teil der Stratosphäre in etwa 38 bis 40 km Höhe gelegt werden. Dadurch flog das Geschoss lange durch sehr dünne Luftschichten, so dass die Flugbahn weitgehend der eines Schusses im luftleeren Raum glich. Alle anderen im Ersten Weltkrieg verwendeten Ferngeschütze erzielten eine Reichweite von „nur“ etwa 40 km.

Modell in der Wehrtechnischen Studiensammlung, Koblenz

Mit der Entwicklung der Paris-Geschütze wurde bereits 1916 begonnen. Maßgeblich daran beteiligt war der Artillerie-Konstrukteur Dr. Ing. (Major) Fritz Rausenberger von der Firma Krupp, welcher bereits die „Dicke Bertha“ entworfen hatte. Am 20. November 1917 wurde das erste fertig gestellte Paris-Geschütz in Altenwalde bei Cuxhaven an der Nordsee mit westlicher Schussrichtung entlang den ostfriesischen Inseln erfolgreich getestet. Bis Anfang 1918 wurden zwei weitere Paris-Geschütze gebaut, die zusammen im Rahmen der deutschen Frühjahrsoffensive am 23. März 1918 erstmalig aus der 1. Stellung, dem Wald von Saint-Gobain bei Crépy-en-Laonnois zum Einsatz kamen.

Die Geschosse erreichten eine Flughöhe von etwa 40 km und eine Flugzeit von drei Minuten. Die mehrteilige Treibladung aus Messing-Kartusche und zwei Treibladungsbeuteln wog bis zu 196 kg. Um eine gleichmäßige Leistung zu erreichen, wurden die hochbrisanten Treibladungen aus Röhrenpulver C/12 bei konstant 15 °C temperiert nahe der Geschützstellung gelagert. Während den etwa durchschnittlich 20 Minuten zwischen den Schüssen musste der jeweils vergrößerte Ladungsraum ausgemessen, die Gasdruck-Messungen ausgewertet und zahlreiche Berechnungen ausgeführt werden. Neben den üblichen Einflüssen beim Artillerie-Schießen waren weitere bedeutende, bisher unbekannte Faktoren zu berücksichtigen. Die Schussweite von etwa 130 km, gemessen auf dem Umfangs-Kreis der Erdkugel, verkürzte sich als Sehne betrachtet um etwa 800 Meter. Aufgrund der überlangen Geschoss-Flugzeit war sogar die Drehung der Erdkugel während dieser Zeit bei den Schusswerten zu berechnen, sodass der Beschuss eigentlich ein Schießen mit Vorhalt auf ein sich bewegendes Ziel war.

Eine richtige Feuerleitung war aufgrund der Entfernung nicht möglich, dazu mussten andere Möglichkeiten gefunden werden. Die Lage der Einschläge soll unter anderem von deutschen Spionen in Paris beobachtet und weitergemeldet worden sein. Anfangs fanden sich auch Berichte in den Zeitungen der Stadt, die ins europäische Ausland geliefert und dort von deutschen Stellen ausgewertet wurden, solange bis die französische Zensur das unterbinden konnte. Hilfsweise wurde die Lage der Einschläge in Längs-Richtung des Schießens über die Messung des Gasdruckes beim Schuss durch in den Ladungsraum eingelegte sogenannte "Kruppsche Mess-Eier" (Kupfer-Stauchkörper) geschätzt.

Durch die enorme Abschuss-Energie der Treibladung mit einer Temperatur von 2000° C und einem Gasdruck bis zu 4800 atm. wurde das Geschütz-Rohr beim Schießen regelrecht ausgezehrt. Bei jedem Schuss vergrößerte sich etwas das Kaliber, was mittels nummerierter Granaten mit entsprechend steigendem Durchmesser und einer ständigen Steigerung der Treibladung ausgeglichen werden musste. Beim Abschuss verbrannte der größte Teil der Messing-Kartusche. Auch die ersten Kupfer-Führungsbänder zur Aufnahme des Dralls hielten der Temperatur und dem Druck nicht stand. Es mussten deshalb zusätzlich Drall-Nuten in die Stahl-Hülle der Granaten eingeschnitten werden, mit dem Ergebnis, dass auch davon die Geschützrohre vorzeitig verschlissen wurden. Die Granaten waren beim Laden mit den Nuten regelrecht in die Züge und Felder des Rohres "einzuschrauben". Die Nutzungsdauer eines Rohres aus der 1. Stellung lag bei nur etwa 65 Schuss.

Nach dieser ersten Leistung mussten die Rohre dann jeweils bei Krupp in Essen weiter aufgebohrt werden auf 22,4 und dann 23,8 cm Kaliber. Durch das Aufbohren erweiterte sich das Rohrvolumen und sank beim Abschuss der Gasdruck. Diese Rohre konnten nur noch aus der näher an Paris gelegenen 2. (Beaumont-en-Beine) und 3. Stellung (Bruyères-sur-Fère) eingesetzt werden. Insgesamt waren sieben Rohre vorhanden.

Nicht nur die Stellung, sondern auch der Abschuss selbst musste getarnt werden. Um die französische Schallmess-Ortung zu erschweren, schossen abgestimmt gleichzeitig mit einem der Paris-Geschütze jeweils etwa 30 andere schwere deutsche Batterien aus benachbarten Stellungen. Geschossen wurde auch meist nur am Tage, da allein das riesige Mündungsfeuer nachts die Stellung verraten hätte. Ebenfalls wurde während französischer Flieger-Gefahr der Beschuss eingestellt. Die Paris-Batterie wurde durch ein Infanterie-Bataillon und zehn Flieger-Abteilungen gesichert.

Einsatz und Verbleib

Auch wenn in der Fachliteratur mitunter von dem Paris-Geschütz geschrieben wird, kamen insgesamt drei derartige Kanonen zum Einsatz. Die Paris-Geschütze hatten aufgrund ihrer Verwendung gegen die Zivilbevölkerung keinerlei militärischen Nutzen. Durch die Treffer in Paris wurde der gewünschte psychologische Effekt mit Verwirrung und Angst zunächst erzielt, der aber wegen der geringen Sprengladung der Granate und der erkennbar mangelnden Präzision der Feuerleitung nach kurzer Zeit verpuffte. Insgesamt wurden 256 Zivilisten getötet und 620 verwundet, davon gab es allein 88 Tote und 68 Verwundete bei einem tragischen Volltreffer auf die Kirche von St-Gervais-et-St-Protais während des Karfreitags-Gottesdienstes am 29. März 1918 nachmittags. Die Propaganda in Deutschland nutzte diese angeblichen Erfolge jedoch, um die Moral der Heimatfront zu stärken.

Montage des Parisgeschützes

Obwohl es eine Artillerie-Verwendung an Land war, lag die Bedienung in den Händen der Marine, da diese mit den größeren Geschützen mehr Erfahrung besaß. Eine Geschütz-Mannschaft bestand aus 60 – 80 Marine-Soldaten, zuzüglich einer Gruppe ziviler Ingenieure für Technik und Vermessung. Die Gesamtleitung des Schießens lag bei Vizeadmiral Max Rogge. Die Bedeutung des Einsatzes für die deutsche Seite war so groß, dass am ersten Tag des Beschusses sogar der Kaiser Wilhelm II. die Stellung besuchte und das Schießen beobachtete.

Bereits in der 1. Stellung explodierte am 25. März beim Abschuss eines der drei Geschütze, wobei siebzehn Soldaten der Bedienungsmannschaft starben. Die verbliebenen Paris-Geschütze feuerten aus den drei verschiedenen Stellungen bis zum 8. August 1918 (zuletzt wieder bei Beaumont-en-Beine) insgesamt etwa 400 Geschosse ab. Die durchschnittliche Feuer-Geschwindigkeit lag bei 8 Schuss pro Tag. Etwa 180 Granaten trafen Paris verstreut innerhalb der Altstadt, die restlichen immerhin die Außenbezirke. Aufgrund der dann für Deutschland sich verschlechternden militärischen Lage und des Rückzuges war das Ziel nicht mehr zu erreichen. Die zwei verbliebenen Geschütze wurden mit ihren Ersatzrohren von der Front zurückgezogen und verschrottet. Auch die Konstruktionspläne wurden von den Deutschen versteckt oder vernichtet, so dass sich nach der Kapitulation von den Alliierten trotz Suche bei Krupp nicht mehr nachvollziehen ließ, wie eine derartige Kanone gebaut werden konnte. Einziges Relikt blieb die Beton-Bettung des ersten Geschützes in der Stellung bei Crepy.

Die große Reichweite wurde später von keinem konventionellen Geschütz mehr wesentlich übertroffen. Nach dem 1. Weltkrieg bauten die Franzosen eine etwa gleiche Kanone, das Eisenbahn-Ferngeschütz Modell 23, mit Kaliber 21 cm, Reichweite 120 km, Geschoss-Gewicht 108 kg und v0 1450 m/s. Im Zuge der Wieder-Aufrüstung baute die deutsche Wehrmacht dann die K12, aber auch nur in einem Exemplar. Spätestens zu dieser Zeit waren derartig weittragende Geschütze überholt, da der Kampf wesentlich einfacher durch Bombardierungen aus Flugzeugen erfolgen konnte. Die Gipfelhöhe wurde erst von der V2 überschritten. Eine späte Fortsetzung dieses überdimensionalen Geschützbaus fand sich in den sechziger Jahren im Projekt HARP des Kanadiers Gerald Bull.

Literatur

  • Henry W. Miller: Die Paris-Geschütze – Die Beschießung von Paris durch deutsche weittragende Geschütze und die Offensiven des Jahres 1918. Wilhelm Limpert, Berlin und Dresden 1936
  • Gerhard Taube: Deutsche Eisenbahn-Geschütze. Motorbuch, Stuttgart 2001, ISBN 3-613-01352-5
  • Tafel am Modell in der Wehrtechnischen Studiensammlung Koblenz

Weblinks


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