Partei der Sozialrevolutionäre

Partei der Sozialrevolutionäre

Die Partei der Sozialrevolutionäre (russisch Партия социалистов-революционеров; kurz: Sozialrevolutionäre/SR) war eine Partei in Russland, die Ende 1901/Anfang 1902 durch die Vereinigung von Volkstümlergruppen (russisch Narodniki, eigentlich die Nationalen) und -zirkeln entstand. Zu ihren Führern zählten Wiktor Michailowitsch Tschernow als Parteiführer, Nikolai Dmitrijewitsch Awksentjew, Abram Rafailowitsch Goz, Jekatarina Konstantinowna Breschko-Breschkowskaja, Boris Wiktorowitsch Sawinkow, Jewno Fischelewitsch Asef u.a. Das Organ der Partei war die Zeitung "Delo Naroda".

Bis 1917 arbeitete die Partei bis auf die Jahre 1906/07, als sie in der 1. und 2. Staatsduma vertreten war, vorwiegend in der Illegalität. Der Zusammensetzung nach kamen die Angehörigen hauptsächlich aus der wohlhabenden Bauernschaft, der Arbeiterschaft und dem Dritten Stand. Die Sozialrevolutionäre vertraten den linken Flügel der bürgerlichen Demokraten. Wenn die Sozialrevolutionäre auch im Prinzip die Bedeutung von Massenbewegungen anerkannten, so bevorzugten sie doch den individuellen Terror als grundlegendes taktisches Mittel im Kampf gegen die zaristische Autokratie. Hierzu bildeten sie 1902 die Sozialrevolutionäre Kampforganisation unter Führung von Grigori Gerschuni und Jewno Asef, die zahlreiche Attentate auf zaristische Beamte verübte (darunter auf den Innenminister von Plehwe und den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch Romanow). Im Jahr 1908 wurde die Kampforganisation nach der Entlarvung Asefs als Polizeispitzel zerschlagen.

Das Programm der Sozialrevolutionäre forderte die Errichtung einer demokratischen Republik nach föderativen Grundsätzen, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Rede-, Presse-, Gewissens-, Versammlungs- und Korporationsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die allgemeine unentgeltliche Bildung, Abschaffung des stehenden Heeres u.a. In der Arbeiterfrage waren die Sozialrevolutionäre Anhänger des Achtstundentages, der Sozialversicherung auf Kosten des Staates und der Fabrikbesitzer, der Organisierung von Gewerkschaften u.a. Auf landwirtschaftlichem Gebiet stellten sie die Losung "Sozialisierung des Bodens" auf und forderten dessen Überführung in den Gemeindebesitz. Sie verneinten die Gegensätze innerhalb der Bauernschaft, lehnten die von den Sozialisten postulierte führende Rolle der Arbeiterschaft in der bürgerlich-demokratischen Revolution und die Diktatur des Proletariats ab.

Spaltung in Rechte und Linke Sozialrevolutionäre

Die Bolschewiki erkannten diese Linie der Sozialrevolutionäre zwar nicht an, waren aber zur Zusammenarbeit gegen die zaristische Autokratie bereit. Nach der Februarrevolution 1917 aktivierten die Sozialrevolutionäre ihre Tätigkeit. Im Mai 1917 umfasste die Partei etwa 500 000 Mitglieder und war damit die größte Partei in Russland. Sie besaß Organisationen in 63 Gouvernements, in den Flotten und an den Fronten der kämpfenden Armee. Zusammen mit den Menschewiki spielte sie von Juli bis August 1917 die führende Rolle bei den meisten Sowjets. Der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre trat nach der Aprilkrise in die bürgerliche Koalitionsregierung unter Fürst Lwow ein (Kerenski, Tschernow, Peschechonow; nach Kerenskis Amtsantritt als Regierungschef folgte Awksentjew). Die Spaltung in der Partei, die schon 1906 begonnen hatte - aus der Partei traten die Trudowiki und die Sozialrevolutionäre-Maximalisten aus - und sich in den Jahren des Ersten Weltkriegs noch verstärkte, führte nach dem Februar 1917 zur Abspaltung des linken Flügels, der sich nach der Oktoberrevolution organisatorisch zur Partei der Linken Sozialrevolutionäre formierte und im Dezember von den Bolschewiki an der neuen Regierung beteiligt wurde, der sie bis zur Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk im März 1918 angehörten. Die Rechten Sozialrevolutionäre standen dem bolschewistischen Umsturz und den daraufhin aufgenommenen Friedensverhandlungen mit Deutschland ablehnend gegenüber. Aus den im November 1917 abgehaltenen Wahlen zur Konstituierenden Versammlung gingen sie dank der Unterstützung der Bauernschaft mit über 50% der Mandate als klare Sieger hervor (gegenüber nur 30% für Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre). Auf die Auflösung der Versammlung im Januar 1918 reagierten sie mit der Bildung einer Streik- und Protestbewegung. Im Juni wurden sie zusammen mit den Menschewiki von den Wahlen zu den Sowjets und aus dem Allrussischen Zentralexekutivkomitee ausgeschlossen, worauf die Parteiführung in das zuvor von der Tschechoslowakischen Legion eroberte Samara im Wolgagebiet umzog und dort die Komutsch-Regierung bildete. Aus dem Untergrund bildeten sie Gruppen, die durch Anschläge und die Organisation von Aufständen das bolschewistische Regime stürzen sollten. Am 20. Juni 1918 wurde das Petrograder ZEK-Mitglied W. Wolodarski von einem Mitglied der wiederbelebten Kampforganisation erschossen. Anfang Juli, zeitgleich mit dem Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre, brach in Jaroslawl, Murom, Rybinsk ein von Sawinkow organisierter Aufstand aus. Am Morgen des 30. August erschoss der Kadett Leonid Kannegiesser den Chef der Petrograder Tscheka Urizki. Am gleichen Tag beging Fanny Kaplan in Moskau ein Pistolenattentat auf Lenin, der von zwei Schüssen lebensgefährlich verletzt wurde. Die Bolschewiki reagierten darauf am 5. September mit dem Dekret "Roten Terror".

Im Oktober löste sich die Tschechoslowakische Legion auf, damit ging der Rückhalt für das Komutsch in Samara verloren. Die Komutsch-Regierung floh vor anrückenden roten Truppen nach Ufa, wo sich ein fünfköpfiges Direktorium, darunter General Boldyrew, der als Oberbefehlshaber vorgesehen war, als Regierung bildete. Es tagte in einem Eisenbahnwaggon als "Regierungssitz" in Omsk, ehe es nur acht Wochen später nach dem Putsch Admiral Koltschaks aufgelöst wurde. Einige Sozialrevolutionäre suchten daraufhin ein Bündnis mit den "Roten", während andere sich den "Weißen" oder der Bauernbewegung ("Grüne") anschlossen und unter anderem den Bauernaufstand von Tambow 1920-1921 unterstützten. Nach dem Bürgerkrieg zerfiel bis 1923 die Partei. Ihre Führer emigrierten oder wurden verhaftet.

Die Partei der Sozialrevolutionäre scheiterte vornehmlich an der Unvereinbarkeit der Interessen der in ihnen repräsentierten Bevölkerungsschichten, am fast völligen Fehlen befähigter Politiker und dem Zerfall in sich zum Teil selbst bekämpfender radikaler politischer Strömungen.

Der Großteil des Partei-Archivs der Partija Socialistov-Revoljucionerov (Rossija) (21 laufende Meter, dazu 146 Mikrofilme) wird seit Jahrzehnten vom Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis betreut.

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