Pauper

Pauper

Mit der Begrifflichkeit Pauperismus (von lateinisch pauper "arm", davon engl. pauperism) bezeichnet man die katastrophale Massenarmut zur Zeit der Frühindustrialisierung, und hier besonders die Situation in Deutschland in den 1830er und 1840er Jahren. Trotz anstrengendster Arbeit war eine breite Bevölkerungsschicht kaum noch in der Lage, für das eigene Auskommen zu sorgen. Mit dieser elenden Situation gingen gesellschaftliche Auflösungserscheinungen wie Unruhen, Epidemien, und Verwahrlosung unter den Betroffenen einher - siehe Soziale Frage.

Für die Entstehung der Pauperismuskrise waren das Bevölkerungswachstum sowie die Herausbildung der Lohnarbeiterschaft von entscheidender Bedeutung.

Inhaltsverzeichnis

Das vorindustrielle Bevölkerungswachstum

Ab etwa 1750 nahm in Deutschland die Bevölkerung rapide zu; von etwa 16-18 auf 22-24 Millionen Menschen im Jahre 1800. Dabei vermehrte sich besonders die ländliche Unterschicht. Möglich geworden war das Bevölkerungswachstum durch eine Erweiterung des Nahrungsspielraumes, durch Ausbau der Anbauflächen und verbesserte Bewirtschaftungsmethoden in der Landwirtschaft. Insbesondere die Einführung der Kartoffel hat die Grundversorgung der ländlichen Massen erst ermöglicht; sie stellte im Vergleich zum Getreide bei gleicher Anbaufläche die 3,6-fache Nahrungsenergie zur Verfügung. Weiterhin wurden neue Arbeitsplätze und damit Existenzmöglichkeiten geschaffen, vor allem in der Hausindustrie. Auch fielen grundherrschaftliche Bindungen und damit Heiratsbeschränkungen weg. Die in Teilen Deutschlands herrschende Erbpraxis der Realteilung, bei welcher der vorhandene Besitz gleichmäßig auf die männlichen Erben verteilt wurde, ermöglichte allen Söhnen eine Lebensgrundlage, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Es fanden also mehr und mehr Menschen für sich und ihre Familie ein Auskommen (allerdings oft nur an der Grenze zum Existenzminimum), die Sterblichkeitsrate sank. Im 19. Jahrhundert weitete sich dieses Wachstum zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion aus.

Das Bevölkerungswachstum hatte gewaltige soziale Konsequenzen, da zunächst die Produktivität der Wirtschaft mit den gestiegenen Anforderungen nicht mithalten konnte. Viele Menschen suchten ihr Auskommen nun im Gewerbe, besonders in Hausindustrie und Handwerk.

Die Entstehung der Lohnarbeiterschaft

Mit der Entwicklung der Hausindustrie ab dem Spätmittelalter waren in manchen Gegenden bedeutende Bevölkerungsschichten faktisch zu abhängigen Lohnarbeitern geworden: Ein Verleger belieferte die Produzenten an ihrem Wohnort mit Rohstoffen und nahm das fertige Produkt wieder ab. Auf Grund der stark arbeitsteiligen Produktion waren die erforderlichen Arbeitsgänge schnell zu erlernen; damit waren die Arbeiter leicht ersetzbar. Die Überbesetzung erzeugte Preisdruck, den die Heimarbeiter durch Mehrarbeit auszugleichen suchten, dadurch verschärften sie die Situation immer mehr.

Als weiteren ländlichen Gewerbezweig, in dem Lohnarbeiter tätig waren, gab es die Manufaktur. Dies war ein meist zentralisierter Großbetrieb, in dem unselbstständige Handwerker, oft auch Insassen von Zwangsanstalten, beschäftigt wurden.

Mit der Bauernbefreiung wurden auch aus den vormals in der Grundherrschaft oft eigenständig wirtschaftenden Bauern Lohn-abhängige Landarbeiter: Zwar waren sie nun rechtlich frei, die Freiheit allerdings mussten sie sich vom Grundherren erst teuer erkaufen. Dies zwang viele, sich dem Herren anschließend als Lohnarbeiter anzubieten. Gerade in den ostelbischen Gebieten wurde dieser Prozess von den Gutbesitzern aktiv vorangetrieben, da sie an einer Landarbeiterschicht, die es im Gegensatz zu den gutsabhängigen Bauern nicht zu versorgen galt, starkes Interesse hatten.

Auch in den Städten entstanden viele Lohnarbeitergruppen, so in den neu entstehenden Fabriken. Die Lockerung der Zunftschranken und die Überbesetzung des Handwerks hatten außerdem zur Folge, dass viele Handwerker ebenfalls nur noch als Lohnarbeiter Beschäftigung fanden. Außerdem standen sie nun in Konkurrenz mit industrieller und heimgewerblicher Produktion.

All diese genannten Lohnarbeitergruppen waren dem traditionellen Sicherungssystem, beispielsweise in Grundherrschaft oder Zunft, entzogen. Sie waren leicht ersetzbar und hatten außer ihrer Arbeitskraft keine Möglichkeit der Existenzsicherung. Damit war ihre Existenzgrundlage konjunkturellen Krisen gegenüber äußerst anfällig.

Erklärungsversuche

Entstehung eines Begriffs

"Die Begriffe Pauper und Pauperismus erscheinen in der englischen Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts, womit eine neue Form der Armut bezeichnet wurde: nicht eine individualisierte Armut oder eine solche, die mit außerordentlichen Umständen wie z. B. schlechten klimatischen Bedingungen gekoppelt ist, sondern eine Massenarmut, die, wie es scheint, mit der Entwicklung der Industrialisierung und des Reichtums unvermeidbar gekoppelt ist. Ein französischer Betrachter gebraucht folgende entlarvende Formulierung: ´Der Pauperismus ist, will man ihn durch ein einziges Wort definieren, die Epidemie der Armut´ (Émile Laurent, 1865).

In seinem großen Werk ´De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France´ (1840) behauptet Eugène Buret, dass ´der aus England entliehene Ausdruck des Pauperismus die Gesamtheit aller Phänomene der Armut umfasst. Dieses englische Wort soll für uns Elend im Sinne von gesellschaftlicher Plage, öffentliches Elend bedeuten.´ "Das Wort Pauperismus ist allmählich außer Gebrauch geraten, und zwar weil man immer mehr die verschiedenen Ursachen der Armut (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.) zu verstehen begann und sich das System der modernen Sozialpolitik verbesserte."[1]

Friedrich Engels

Friedrich Engels machte in seiner Studie über die Situation der englischen Fabrikarbeiterschaft die frühe Industrialisierung mit der Umstellung von Handarbeit auf Maschinen für die Massenarmut verantwortlich. Sie mag lediglich dazu dienen, den Kontrast zum Elend des Industrieproletariats zu verschärfen, um die politischen Forderungen Engels' zu unterstützen. Tatsächlich bemerkten bereits Zeitgenossen, dass die Industrie Armut nicht nur erzeuge, wie Engels behauptete, sondern sie auch anzog. Der Pauperismus wirkte sich eben dort am schlimmsten aus, wo keine Industrie vorhanden war, so bei den schlesischen Webern, die auf Grund veralteter Produktionsmethoden (Heimarbeit) der industriellen Konkurrenz nicht mehr gewachsen waren.

Wilhelm Abel

Eine ganz andere These als Engels brachte später der Agrarhistoriker Wilhelm Abel vor. Seiner Ansicht nach war der Pauperismus lediglich der Ausläufer der alten, vorindustriellen Armut, verschärft durch das schnelle Bevölkerungswachstum bei noch geringem Produktivitätszuwachs. Im Gegensatz zu Engels sah er die Industrialisierung als Rettung aus der Pauperismuskrise.

Pauperismus als Folge der preußischen Reformen

Weiterhin existiert noch die Überlegung, dass der Pauperismus die Folge der preußischen Reformen sei, welche Heiratsbeschränkungen aufhoben und Freizügigkeit gestatteten. Dies habe Bevölkerungsdruck erzeugt und die Kleinbauern in das Landarbeiterproletariat herabgedrückt.

Pauperismus als Folge verschiedener Entwicklungen

Heute ist man sich in der Forschung weitgehend einig, dass es für den Pauperismus keine monokausale Erklärung gibt. Vielmehr war es das schnelle Bevölkerungswachstum bei stagnierendem Produktivitätszuwachs, welches einen bedeutenden Teil der Bevölkerung am Existenzminimum leben ließ. Als sich dann eine Agrarkrise mit Missernten (Getreide, Kartoffeln) mit der ersten neuartigen gesamtwirtschaftlichen Rezession verband, entstand die eigentliche Pauperismuskrise. Ursächlich war demnach also das Zusammentreffen von Krisenerscheinungen alten, vorindustriellen Stils und solcher der gerade aufkommenden Industrialisierung - die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Erst der Aufschwung der industriellen Produktion und damit die Unabhängigkeit der Wirtschaftslage von atmosphärischen Einflüssen brachte eine Besserung der Situation. Letztlich war es aber erst die Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre, welche für die arbeitende Bevölkerung teilweise Verbesserungen brachte.

Literatur

  • Karl Bosl: Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum "Pauperismus" des Hochmittelalters, in: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München 1964, S. 106-134
  • Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der "Sozialen Frage" in Europa seit dem Mittelalter. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1982, ISBN 3-525-33465-6
  • Christine Müller, Der gescheiterte Kleinbürger : Unters. zur Literarisierung e. regressiven Utopie ; Pauperismus u. Proletariat in d. sozialkrit. Publizistik, Prosa u. Lyrik zwischen 1844 u. 1848, Köln : Pahl-Rugenstein, 1981
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44038-X
  • Karl Polanyi: The Great Transformation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, ISBN 3-518-27860-6 -
  • Christoph Sachße, Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Kohlhammer, Stuttgart 1998, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, ISBN 3-17-015290-4
  • Richard Albrecht, Pauper(ismus). Zur Geschichte und Aktualität eines Zentralaspekts von ´Neuer Armut´ und ´Arbeitenden Armen´; in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 6 (2007) 2, S. 19-32 (kostenlose erweiterte Netzversion 2008)

Siehe auch

Quellen

  1. Zitiert nach: Wörterbuch der Sozialpolitik

Weblinks


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