Periculum in mora

Periculum in mora

Gefahr im Verzug (GiV) ist ein Begriff aus dem Verfahrensrecht. Im Rechtslatein steht periculum in moraGefahr bei Verzögerung“.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Historisch

Der ursprünglich lateinische Ausdruck periculum in mora („Gefahr bei Verzögerung“) wird auf den römischen Geschichtsschreiber Titus Livius zurückgeführt. In seiner Römischen Geschichte schrieb er zum Verhalten in einer Schlacht: „Postremo, cum iam plus in mora periculi quam in ordinibus conservandis praesidii esset, omnes passim in fugam effusi sunt[1] („Zuletzt, als schon mehr Gefahr darin lag, noch länger zu warten, als Sicherheit darin, wenn sie in Schlachtordnung blieben, stoben sie alle nach allen Seiten in wilder Flucht davon“).[2]

Mit der Formel Periculum in mora – dépèchez-vous! („Gefahr bei Zögern! Beeilen Sie sich!“) alarmierte am 18. September 1862 Albrecht von Roon in einem berühmt gewordenen Telegramm den preußischen Botschafter in Frankreich, Otto von Bismarck, schleunigst aus Paris nach Berlin zurückzukehren. Dieser folgte sofort und wurde preußischer Ministerpräsident – der Beginn seiner Karriere als Staatslenker.

Gefahrenbegriffe

  • Gefahr: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn durch die Sachlage des einzelnen Falles eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird.
  • Gegenwärtige Gefahr: Eine Gefahr, bei der das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht.
  • Erhebliche Gefahr: Eine Gefahr, die eines oder mehrere bedeutsame Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte oder den Bestand des Staates bedroht.
  • Gefahr für Leib oder Leben: Eine Gefahr, bei der eine nicht nur leichte Körperverletzung oder der Tod einzutreten droht.
  • Gefahr im Verzuge: Eine Sachlage, bei der ein Schaden eintreten würde, wenn nicht an Stelle der zuständigen Behörde oder Person eine andere Behörde oder Person tätig wird.

Beispiel der Verwendung

Das Aufbrechen einer Tür, hinter der man Gasgeruch wahrnimmt, fällt beispielsweise nicht unter den Begriff GiV, denn das Handeln könnte aufgrund einer konkreten Gefahr notwendig sein (siehe Gefahrenbegriffe).

Eine Wohnungsdurchsuchung z. B. darf in Deutschland eigentlich nur der Richter anordnen (Art. 13 Abs. 2 GG). Vernichtet der Täter jedoch bereits Beweismittel, so würden möglicherweise alle Beweismittel vernichtet, bis eine richterliche Durchsuchungsanordnung vorläge. Wegen der gegebenen Dringlichkeit spricht man in diesem Falle von Gefahr im Verzug.

Deutschland

In der deutschen Systematik der verfahrensrechtlichen Zuständigkeit stellt sie einen Unterfall der Eilzuständigkeit dar. Sie liegt vor, wenn ein Zuwarten auf die Entscheidung der zuständigen Behörde oder des zuständigen Gerichts in Anbetracht der Dringlichkeit einer Sachlage nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist. GiV beinhaltet also eine Prognoseentscheidung in Fällen der Dringlichkeit.

Im Grundgesetz ist der Begriff der GiV im Artikel 13 Abs. 2 im Zusammenhang mit der Anordnung der Durchsuchung von Wohnungen genannt.

In einem ihrer Hauptanwendungsgebiete, dem Strafverfahrensrecht, ist GiV ein Instrument, um zeitnah Ermittlungen anzustellen, Maßnahmen zu treffen oder Festnahmen vorzunehmen. Regelungen welche ein Eingreifen bei GiV ermöglichen, finden sich aber auch in anderen Rechtsbereichen, wie dem Polizeirecht oder dem Abgabenrecht.

GiV im Bereich des Strafprozessrechts

Im Falle der GiV können bestimmte Maßnahmen ohne den grundsätzlich vorgeschriebenen Richtervorbehalt durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden. Teilweise wird auch für die Durchführung einer Maßnahme die Eigenschaft als Ermittlungsperson gefordert.

GiV ist gegeben, wenn die Einholung eines vorherigen richterlichen Beschlusses den Ermittlungserfolg ganz oder teilweise vereiteln oder gefährden würde. Somit sind z.B. Anordnungen zur Wohnungsdurchsuchung durch den o.g. Personenkreis auch ohne richterlichen Beschluss möglich.

Regelungen zur GiV sind in der Strafprozessordnung (StPO) normiert.

GiV ist u.a. relevant bei

Beispiel: Eine Person gibt zu, mit Rauschgift zu handeln. Eine befreundete Person (welche einen Wohnungsschlüssel für die Wohnung hat) bekommt dies mit, kann aber nicht festgehalten werden. Daher besteht die Gefahr, dass die Freundin lange vor der Einholung eines Durchsuchungsbeschlusses Beweismittel aus seiner Wohnung entfernt. Hier liegt also eine Gefahr im Verzug vor.

Seit einem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 (BVerfGE 103, 142 ff.) wird der Begriff der GiV im Bereich der Wohnungsdurchsuchung sehr eng ausgelegt und muss einer jeweiligen Einzelfallprüfung standhalten. Die richterliche Anordnung einer Durchsuchung soll demnach die Regel, die nichtrichterliche die Ausnahme sein. GiV muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen für die Prognose der GiV nicht aus.

Gerichte und Strafverfolgungsbehörden haben nach dieser Entscheidung im Rahmen des Möglichen tatsächliche und rechtliche Vorkehrungen zu treffen, damit die in der Verfassung vorgesehene Regelzuständigkeit des Richters auch in der Masse der Alltagsfälle gewahrt bleibt (Vermeidung der Aushöhlung).

Österreich

Sicherheitspolizeiliche Verwendung

Eine Amtshandlung kann zu einem späteren Zeitpunkt nicht mit dem gleichen Erfolg durchgeführt werden.

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Titus, Ab Urbe Condita libri, Liber XXXVIII
  2. Vgl. Dr. Boris Dunsch, "Gefährliches Latein" in: Die Zeit 11/2004

Literatur

  • Folker Bittmann: Gefahr im Verzug. Anmerkung zum Urteil des BverfG, wistra 2001, 137 ff.. In: wistra. Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 20. Jg., 2001, S. 451-456.
  • Matthias Einmal: Gefahr im Verzug und Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 54. Jg., H. 19, 2001, S. 1393-1396.
  • Christoph Krehl: Gefahr im Verzug. Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001. In: Juristische Rundschau (JR), Jg. 2001, S. 491-495.
  • Oliver Lepsius: Die Unverletztlichkeit der Wohnung bei Gefahr im Verzug. Die aktuelle Entscheidung: BverfG, Urt. v. 20. Februar 2001 – 2 BvR 1444/00. In: Jura. Juristische Ausbildung, 24. Jg., 2002, S. 259-266.
  • Christoph Möllers: Gefahr im Verzug. Die Unverletztlichkeit der Wohnung vor vermeintlichen Sachzwängen der Strafverfolgung. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 54. Jg., H. 19, 2001, S. 1397 f.
  • Ursula Nelles: Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozessordnung. Zur organisationsrechtlichen Funktion des Begriffs „Gefahr im Verzug“ im Strafverfahren. Duncker & Humblot, Berlin 1980.
  • Frank Zieschang: Der Gefahrbegriff im Recht: Einheitlichkeit oder Vielgestaltigkeit? In: Goltdammer's Archiv für Strafrecht (GA), 153. Jg., 2006, S. 1-10.

Weblinks

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