Pietro Antonio Locatelli

Pietro Antonio Locatelli
Pietro Locatelli ca. 1733
Schabkunstblatt von Cornelis Troost (1696-1750)

Pietro Antonio Locatelli (* 3. September 1695 in Bergamo; † 30. März 1764 in Amsterdam) war ein italienischer Violinist und Komponist.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Bergamo

Über Locatellis Kindheit ist wenig bekannt. In seiner frühen Jugend war er dritter Violinist mit dem Titel „virtuoso“ in der cappella musicale der Kirche Santa Maria Maggiore zu Bergamo.[1] Seine ersten Geigenlehrer waren vermutlich Ludovico Ferronati und Carlo Antonio Marini, beide Mitglieder der Kapelle und anerkannte Musiker. Kompositionslehre konnte ihm der Maestro di Cappella, Francesco Ballarotti, erteilt haben.[2] Im Herbst 1711 entließ ihn die bergamaskische Behörde auf sein Gesuch hin mit der Bemerkung, er gehe „con bona Ligenza [...] a Roma per aprofitare nella sua professione“.[3][4]

Rom

Ab dem Herbst 1711 studierte Locatelli in Rom, wahrscheinlich bei Giuseppe Valentini, vielleicht auch kurz bei Arcangelo Corelli, der im Januar 1713 starb.[5] Ein Brief Locatellis vom 17. März 1714 an seinen „Carissimo signor Padre“ in Bergamo beweist, dass Locatelli zu dieser Zeit fest in der compita accademia di varj instrumenti, der Hauskapelle des Fürsten Michelangelo Caetani, angestellt war.[6] Zwischen 1716 und 1722 war er außerdem Mitglied der Congregazione generale dei musici di S. Cecilia und wurde damit von dem adligen Prälaten Camillo Cybo protegiert.[7] Darüber hinaus gibt es Belege dafür, dass Locatelli Aushilfsdienste für andere römische Adelshäusern erfüllte, so beispielsweise des Öfteren für den Kardinal Pietro Ottoboni in der Kirche San Lorenzo e San Damaso – letztmals bezeugt für den 7. Februar 1723.[8]

In seine römische Zeit fiel Locatellis Debüt als Komponist. 1721 erschienen in Amsterdam seine Camillo Cybo gewidmeten XII Concerti grossi op. 1.[9]

Reisen durch Italien und Deutschland

Von 1723 bis 1728 bereiste Locatelli Italien und Deutschland. Nur Mantua, Venedig, München, Dresden, Berlin, Frankfurt am Main und Kassel sind als Stationen bekannt. Vermutlich stammen die meisten seiner für den Konzertgebrauch geschriebenen und später in Amsterdam verlegten Werke, zumal die Violinkonzerte mitsamt den Capricci, aus dieser Zeit der Künstlerreisen. Ihr Vortrag konnte seinen Ruhm begründen. Ob das so war, ist unbekannt; denn es fanden sich kaum Berichte über seine Auftritte, die belegen können, wie er zu seinem Ruf, ein hochvirtuoser Violinist zu sein, gekommen ist.[10]

Locatellis Wirken am Hof des Regenten von Mantua, des Landgrafen Philipp von Hessen-Darmstadt, ist durch eine Urkunde von 1725 verbürgt, in welcher der Landgraf Locatelli als „Nostro Virtuoso“ bezeichnete. Wie oft und in welcher Eigenschaft Locatelli am Mantuaner Hof als Musiker aufgetreten ist, lässt sich allerdings nicht nachweisen.[11]

Ähnlich ist es in Bezug auf Venedig. Sicher war Locatelli dort, aber auch in diesem Fall weiß man weder den genauen Zeitpunkt, noch weiß man etwas über seine dortigen Tätigkeiten.[12]

Von Locatellis Besuch in München gibt es lediglich eine Notiz: Am 26. Juni 1727 wurde „der fremde Virtuos Locatelli“ durch den „Directeur de la Music“ des Kurfürsten für einen Auftritt mit zwölf doppelten Goldgulden bezahlt.[13]

Ein knappes Jahr später, im Mai 1728, gastierte Locatelli am preußischen Hof zu Berlin. Wahrscheinlich war er zusammen mit August dem Starken und dessen Geleit von etwa 500 Personen – darunter Johann Georg Pisendel, Johann Joachim Quantz und Silvius Leopold Weiss – von Dresden nach Potsdam gekommen.[14] Ein Bericht über Locatellis Auftreten vor König Friedrich Wilhelm I. hat anekdotische Züge und schildert Locatelli als einen selbstbewussten und eitlen Musiker in prunkvoller, diamantenverzierter Kleidung. Das adelige Publikum soll freilich das Geigenspiel Johann Gottlieb Grauns dem Locatellis vorgezogen haben.[15]

Ein Eintrag Locatellis in das Stammbuch eines reichen Autographensammlers dokumentiert, dass Locatelli am 20. Oktober 1775 in Frankfurt am Main weilte.[16][17]

Letzte bekannte Station der Reisejahre war Kassel. Wegen „gethaner Auffwartung“ am Hofe des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel am 7. Dezember 1728 erhielt Locatelli die sehr hohe Vergütung von 80 Reichstalern. Der Organist Wilhelm Lustig berichtete 1786 von diesem Auftritt. Locatelli habe „große Schwierigkeiten krächzend“ aus seiner Violine herausgeholt, um die „Zuhörer zum Verwundern zu bringen.“[18]

Amsterdam

1729 zog Locatelli nach Amsterdam, wo er sesshaft wurde und bis zu seinem Lebensende wirkte. Er komponierte wenig, gab Dilettanten Violinunterricht und edierte seine Opera 1 bis 9 und Werke anderer Musiker. Aus einem Briefwechsel zwischen Locatelli und Giovanni Battista Martini weiß man, dass er Martinis op. 2 druckfertig machte.[19] Seine wenig belegten öffentlichen und halböffentlichen Auftritte waren nur Musikliebhabern, nicht aber professionellen Musikern zugänglich. "[...] he is so afraid of People Learning from him, that He won't admit a Professed Musician into his Concert"[20], schrieb ein Engländer, der ihn 1741 hören durfte.[21]Wohlhabende Musikliebhaber ermöglichten dem in Amsterdam unüberbotenen Virtuosen ein überdurchschnittlich gut situiertes Leben. Diese Gesellschaftsschicht reicher Kaufleute und städtischer Beamter bildete ein neues Mäzenatentum heraus. Anders als der europäische Adel waren diese Bürger nicht darauf aus, ein prunkvolles, repräsentatives Hofleben zu schaffen und dazu Musiker in Dauerstellung zu beschäftigen. Sie verlangten auch nicht nach sich jeweils spektakulär überbietenden neuen Kompositionen, sondern begnügten sich mit Anerkanntem, beispielsweise mit dem verhältnismäßig kleinen Oeuvre Locatellis, an dessen Aufführungen sie als begeisterte Dilettanten mitwirkten. Im Salonleben des gehobenen städtischen Bürgertums war Locatelli als Virtuose und Komponist eine anerkannte, bewunderte und geförderte Größe.[22] 1741 richtete er in seinem Haus einen Betrieb für den Verkauf von Saiten ein.[23] 1742 wurde sein Einkommen in einer erhalten gebliebenen Schätzung der Personalsteuern mit 1500 Gulden jährlich eingestuft. Es war das höchste Einkommen aller Amsterdamer Musiker.[24] Warum sich über ihn von 1744, als er op. 8 veröffentlichte, bis 1762, als er op. 9 veröffentlichte, keinerlei Berichte von Lexigraphen und Zuhörern sowie von einheimischen und internationalen Musikjournalisten fanden, ist bisher nicht zu erklären.[24]

Am 30. März 1764 starb Locatelli in seinem Haus in der Prinsengracht.

Der Nachlass

Der amtliche Nachlass-Inventar Locatellis ergänzt das Bild, das die wenigen Dokumente über sein Leben nur andeuten. Eine Bibliothek mit über eintausend Titeln zeigt Locatellis Interesse an Literatur und Wissenschaft. Es finden sich auch ornithologische, theologische, kirchengeschichtliche, politische, geographische, kunsttheoretische und mathematische Werke. Die musiktheoretische Literatur reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert. Ab Dante sind alle wichtigen literarischen Autoren mit Gesamtausgaben vertreten. Aus den vielen gedruckten und ungebundenen Musikalien ragt eine Gesamtausgabe der Werke Corellis hervor. Eine große Sammlung von Bildern vor allem niederländischer, italienischer und französischer Meister zeugen von Locatellis Kennerschaft auch auf diesem Gebiet. Insgesamt spiegelt sich in Locatellis Nachlass ein Mann von umfassender Geistesbildung. All das Genannte, auch seine Instrumente und vieles darüber hinaus, wurde schließlich im August 1765 versteigert.[25][26]

Musik

Als sich Locatelli 1729 nach Amsterdam wandte, fand er dort das Zentrum des europäischen Musikverlagswesens vor. Seine Opera 2 bis 6, 8 und 9 sowie eine Neuauflage von op. 1 brachte er in Amsterdam heraus, op. 7 im benachbarten Leiden. Sehr sorgsam kümmerte er sich persönlich um fehlerlose Ausgaben. Die groß besetzten Werke übergab er verschiedenen Verlagen, die kleiner besetzten edierte und vertrieb er selbst. Nicht nur op. 1 stammte aus früheren Zeiten, sondern auch op. 3, und zumindest für Teile der Opera 2 und 4 bis 8 ist das anzunehmen. In Amsterdam konnte Locatelli ein Druckprivileg erwerben, das die dort oder in Leiden verlegten Opera 1 bis 8 in Holland und Westfriesland vor unerlaubten Nachdrucken bewahrte und Importe von Nachdrucken verhinderte. Im Antrag zu diesem Privileg bezeichnete er sich als „Italiaanisch Muziekmeester woonende te Amsterdam“.[27][28] Eine Bedingung dieses Schutzes war, dass Locatelli von jedem Werk ein kostenloses Exemplar an die Leidener Universitätsbibliothek abgab. Dadurch konnten sich Erstdrucke bis heute sicher erhalten. Op. 9 dagegen, das nach Ablauf der Verlängerungsperiode dieses Rechtsschutzes veröffentlicht wurde, ist verschollen.[29]

Locatellis Werke lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:

  • Werke für den eigenen Auftritt als Virtuose
  • repräsentative Werke für größere Ensembles
  • Kammermusik und klein besetzte Werke für das Musizieren im kleinen Kreis
Vergleich von
Locatelli op. 3, Capriccio 7 und
Paganini op. 1, Capriccio 1
"Trillo del Diavolo" aus op. 3, Capriccio 16

Zu den virtuosen Werken gehören die Violinkonzerte op. 3 mit den dazugehörigen Capricci und die Violinsonaten op. 6 mit einem Capriccio. Beide Werke, vor allem aber op. 3, verbreiteten - unter anderem durch Raubdrucke, Nachdrucke und Abschriften - in ganz Europa Locatellis Ruhm als ultimative Standards setzender Virtuose. Die Capricci galten nach seinem Tode als wichtige Werke fürs „Exerzieren“, nicht aber fürs „Produzieren“, d. h. sie dienten professionellen Musikern hauptsächlich als Studien- und Übungsstücke, kaum aber als Vortragsstücke.[30] Wahrscheinlich eher über die französische Violinistenschule als durch italienische Traditionen gelangten Locatellis Errungenschaften auch zu Niccolò Paganini. Dessen Capriccio op. 1, Nr. 1 zeigt eine deutliche Ähnlichkeit mit Locatellis Capriccio Nr. 7.[31]

In den Capricci spiegelt sich Locatellis Virtuosität, die sich auszeichnete durch ein Spiel in den höchsten Lagen, durch Doppelgriffe, akkordisches Spiel und Arpeggien in weiten Griffen und mit einem Überstrecken der linken Hand, durch Flageoletts, Triller im zweistimmigen Spielen (Trillo del Diavolo) und Doppeltriller sowie durch mannigfaltige Stricharten und variable Bogenführung.[32]

Deutlich angelehnt an Corellis op. 6 sind Locatellis Concerti op. 1 und op. 7 sowie diejenigen aus op. 4. Mit diesen Werken geriet die barocke Ensemblekunst in eine manieristische Spätphase. Die Introduttioni teatrali op. 4 folgen dem Typus der neapolitanischen Opernsinfonie.[33]

Die Flötensonaten op. 2, die Triosonaten op. 5 sowie die Violinsonaten und Triosonaten op. 8 bedienten in ihrem gefälligen Ton die musikalische Welt der Amsterdamer Bürger und entsprachen mit ihrem teilweise schon galant wirkenden Habitus den damals neuesten Entwicklungen des Musikgeschmackes.[34]

Werke

  • Opus 1: XII Concerti grossi à Quatro è à Cinque. Amsterdam 1721
  • Opus 2: XII Sonate à Flauto traversiere solo è Basso. Amsterdam 1732
  • Opus 3: L’Arte del Violino; XII ConcertI Cioè, Violino solo, con XXIV Capricci ad libitum. Amsterdam 1733[35]
  • Opus 4: VI Introduttioni teatrali è VI Concerti. Amsterdam 1735
  • Opus 5: VI Sonate à Trè. (Amsterdam 1736)[36]
  • Opus 6: XII Sonate à Violino solo è Basso da Camera. Amsterdam 1737
  • Opus 7: VI Concerti à quattro. Leiden 1741
  • Opus 8: X Sonate, VI à Violino solo è Basso è IV à Trè. Amsterdam 1744
  • Opus 9: VI Concerti a quattro. Amsterdam 1762
  • Opera dubia (zweifelhafte Werke): Violinkonzerte, Sinfonien, Triosonaten, Flötenduette, Violinsonaten, eine Oboensonate, ein Capriccio in E für Violine allein..

Quellen, Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 22
  2. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 26
  3. „mit einem guten Zeugnis [...] nach Rom, um (dort) in seinem Beruf daraus Nutzen zu ziehen.“
  4. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 26-27
  5. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 38ff
  6. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 48f
  7. Fulvia Morabito: Pietro Antonio Locatelli. In MGG Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 11, Kassel et altera 2004, Spalte 357
  8. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 56f
  9. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 58
  10. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 103
  11. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 104-107
  12. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 107
  13. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 109f
  14. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 111
  15. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 111-116
  16. Fulvia Morabito: Pietro Antonio Locatelli. In MGG Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 11, Kassel et altera 2004, Spalte 358
  17. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 116f
  18. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 118f
  19. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 283-304
  20. deutsch: „[...] er fürchtet so sehr, dass Leute von ihm lernen, so dass er keinem professionellen Musiker Zutritt zu seinem Konzert erlaubt.“
  21. Locatellis Sorge, jemand könne seine Spielweise übernehmen, bestand zu Recht. So ist beispielsweise Heinrich Wilhelm Ernst seinem Vorbild Niccolò Paganini nachgereist, hat ihn mehrfach gehört und hat die Stücke danach in Paganinis Manier aus der Erinnerung gespielt.
  22. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 315
  23. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 310 u. 320f
  24. a b Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 306
  25. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 325ff
  26. Albert Dunning, Buren 1981, Band II, S. 141-195
  27. deutsch: Italienischer Musikmeister, wohnhaft in Amsterdam
  28. Arend Koole: Pietro Antonio Locatelli. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Erste Ausgabe, Band 8, Kassel et altera 1960, Spalte 1076
  29. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 358
  30. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 178
  31. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 172ff, 180ff, 186-189-304
  32. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 134-146-304
  33. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 233ff
  34. Albert Dunning, Buren 1981, Band I, S. 207, 210f u. 229
  35. vermutlich sein wichtigstes Werk, eine Sammlung von 12 Violinkonzerten, die 24 technisch anspruchsvolle „Capricci“ (ausgeschriebene Solokadenzen) enthalten
  36. Triosonaten, dem Amsterdamer Stadtsekretär M. Leveston, einem seiner Schüler und Gönner, gewidmet

Literatur

  • Albert Dunning (Hrsg.): Pietro Antonio Locatelli, Opera omnia, Kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden, London/Mainz 1994, ISBN 978-0-946535-49-1
  • Albert Dunning (Hrsg.):Pietro Antonio Locatelli, Catalogo tematico, lettere, documenti & iconografia(= Supplementband der Kritischen Gesamtausgabe), Mainz 2001, ISBN 978-0-946535-40-8
  • Albert Dunning: Pietro Antonio Locatelli. Der Virtuose und seine Welt. Buren 1981, ISBN 90-6027-380-X
  • Fulvia Morabito: Pietro Antonio Locatelli. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 11, Kassel et altera 2004, Spalte 357-362

Weblinks


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