Auf den Schultern von Giganten

Auf den Schultern von Giganten

Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Riesen (oder: Giganten) ist ein Versuch, das Verhältnis der jeweils aktuellen Wissenschaft und Kultur zur Tradition und zu den Leistungen früherer Generationen zu bestimmen. Aus der Sicht traditionsbewusster Gelehrter erscheinen deren Vorgänger in vergangenen Epochen als Riesen und sie selbst als Zwerge. Die Zwerge profitieren von den Pionierleistungen der Vergangenheit. Indem sie dem vorgefundenen Wissensschatz ihren eigenen bescheidenen Beitrag hinzufügen, kommt Fortschritt zustande. Nur auf diese Art können die Zwerge die Riesen überragen.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Bezeugt ist das Gleichnis erstmals bei Bernhard von Chartres um 1120. Johannes von Salisbury zitiert Bernhard in seinem um 1159 beendeten Werk Metalogicon[1]:

"Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea" (Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können - freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt).

Auch Wilhelm von Conches, ein Schüler Bernhards, überliefert und erläutert die Metapher in seinen vor 1123 entstandenen Glossen zu den Institutiones grammaticae des antiken Grammatikers Priscian, allerdings ohne Bernhard als Urheber zu nennen.[2] Den Anstoß zu dem Gedanken hatte eine Bemerkung Priscians geboten, der schrieb, die Autoren auf dem Gebiet der Grammatik seien "je jünger (später), desto scharfsinniger" (Cuius auctores quanto sunt iuniores, tanto perspicaciores).[3] Das Bild von den Riesen und den Zwergen scheint auf eine Stelle in den Metamorphosen des antiken Dichters Ovid zurückzugehen, wo dem Philosophen Pythagoras die Behauptung in den Mund gelegt wird, er betrachte die vernunftlose Menschheit von den Schultern des mythischen Riesen Atlas aus.[4]

Mit den Riesen meinte Bernhard die Gelehrten der Antike. Er wollte damit einerseits seine tiefe Bewunderung für die Leistungen dieser Vorbilder ausdrücken, andererseits aber auch auf bescheidene Art seine Überzeugung zur Geltung bringen, dass es tatsächlich einen historischen Erkenntnisfortschritt gibt, durch den die Gegenwart der Vergangenheit überlegen ist (was damals nicht selbstverständlich war).

Wirkungsgeschichte

Ab dem 13. Jahrhundert verbreitete sich das Gleichnis bei jüdischen Exegeten, nachdem Jesaja ben Elijah von Trani es als erster aus einer christlichen Quelle übernommen hatte.[5]

Didacus Stella griff das Zitat im 16. Jahrhundert in einem Werk über den Evangelisten Lukas auf: Pigmaei gigantum humeris impositi plusquam ipsi gigantes vident (Auf die Schultern von Riesen gestellte Pygmäen sehen mehr als die Riesen selbst).

Im 17. Jahrhundert zitierte Robert Burton (1577-1640) Didacus Stella:

Though there were many giants of old in physics and philosophy, yet I say with Didacus Stella, 'A dwarf standing on the shoulders of a giant may see farther than a giant himself’; I may likely add, alter, and see farther than my predecessors [...]. (Obwohl es früher viele Giganten der Physik und Philosophie gab, halte ich es doch mit Didacus Stella: „Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Giganten steht, wird weiter sehen können als der Gigant selbst“; ich könnte wahrscheinlich etwas hinzufügen, ändern und weiter sehen als meine Vorgänger ...).[6]

Auch der Dichter George Herbert zitierte 1640 den Spruch in seinem Werk Jacula prudentum.

Isaac Newton (1643-1727) verwendete die Metapher ebenfalls:

If I have been able to see further (than you and Descartes), it is because I have stood on the shoulders of giants (Wenn ich weiter sehen konnte [als du und Descartes], so deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand).[7]

Der Soziologe Robert K. Merton griff das Gleichnis in seinem Buch On the Shoulders of Giants 1965 auf. In dem populären Klassiker der Wissenssoziologie verfolgt er das Zitat zu seinem Ursprung zurück. In seinem Essay geht es ironischerweise u.a. um die soziale Konstruktion von „Wissen“.

Umberto Eco lässt im Roman Der Name der Rose seinen Haupthelden William von Baskerville das Riesen-Gleichnis vortragen (erstes Gespräch mit Bruder Nicolas). Am Ende des Romans wandelt William jedoch resignierend ein Zitat von Ludwig Wittgenstein ab, das die Riesen nur als zeitweilig wertvoll erscheinen lässt:

[Der wissenschaftliche Geist] muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen.

Ernst Axel Knauf spielt auf das Gleichnis an, wenn er im Blick auf den Umgang mit bestimmten Problemen zu unterschiedlichen Zeiten in der Erforschung des Alten Testaments meint:

Für uns heute kann das biblische Denken, das mit Widersprüchen leben, sie aushalten und ertragen kann, ein hilfreiches und notwendiges Korrektiv zu nach Eindeutigkeit strebenden dogmatischem Denken sein... Vielleicht sind wir etwas besser gerüstet, als die Riesen des 19.Jhs, auf deren Schultern wir stehen, es waren, kulturelle Komplexität, logische und theologische Aporien auszuhalten, ohne sie gleich literar- oder redaktionsgeschichtlich zu beseitigen.[8]

Eric Steven Raymond überträgt das Gleichnis auf die Hackerkultur:

Offensichtliche Parallelen zur Geschenkkultur der Hacker [...] gibt es in der akademischen Welt sehr viele. [...] die wissenschaftliche Forschung [beruht] wie die Hackerkultur auf der Idee [...], daß die Teilnehmer 'auf den Schultern von Riesen stehen', also nicht immer wieder von vorne anfangen müssen, um die grundlegenden Prinzipien selbst zu erarbeiten[9]

Hal Abelson, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wird eine Umkehrung des Gleichnisses zugeschrieben. Sie drückt auf amüsante Weise aus, dass Wissen und Wissenschaft auch immer wieder hinterfragt werden müssen, um wissenschaftliches Neuland betreten zu können und Dogmen zu vermeiden:

If I have not seen as far as others, it is because there were giants standing on my shoulders (Wenn ich nicht so weit sehen konnte wie andere, so deshalb, weil Giganten auf meinen Schultern standen).

Oasis benennen ein Album Standing On The Shoulder Of Giants.

Die unterschiedlichen Verwendungen des Gleichnisses hängen meist mit unterschiedlichen Bewertungen des Verhältnisses zwischen Wissenstraditionen zusammen. Die Aussage kann daran erinnern, dass wissenschaftliche Forschung nie geschichtslos entsteht, sondern immer vor dem Hintergrund frei verfügbaren Wissens. Dies wird auch als Wissenskommunismus der Wissenschaften bezeichnet. In diesem Prozess wird festgehalten und dokumentiert, welche Idee von welchem „Giganten“ stammt und welche neu ist (Ideengeschichte). Damit wird die Entstehung von neuem Wissen transparent, nachvollziehbar und kritisierbar.

Literatur

  • Walter Haug: Die Zwerge auf den Schultern von Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen, in: Walter Haug: Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 86-109
  • Edouard Jeauneau: Nains et géants, in: Entretiens sur la renaissance du 12e siècle, hrsg. Maurice de Gandillac / Edouard Jeauneau, Paris 1968, S. 21-38
  • Tobias Leuker: »Zwerge auf den Schultern von Riesen«. – Zur Entstehung des berühmten Vergleichs, in: Mittellateinisches Jahrbuch 32 (1997) S. 71-76
  • Hillel Levine: Dwarfs on the Shoulders of Giants. A Case Study in the Impact of Modernization on the Social Epistemology of Judaism, in: Jewish Social Studies 40 (1978), S. 63-72
  • Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Syndikat, Frankfurt 1980, ISBN 3-8108-0128-3
  • Albert Zimmermann: »Antiqui« und »Moderni«. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, de Gruyter, Berlin 1974

Anmerkungen

  1. Johannes von Salisbury: Metalogicon 3,4,46-50, hrsg. John B. Hall: Ioannis Saresberiensis metalogicon, Turnhout 1991, S. 116.
  2. Leuker S. 72f.
  3. Priscian: Institutiones grammaticae 1,1.
  4. Ovid, Metamorphosen 15, 143-152.
  5. Jeauneau (1968) S. 30f.
  6. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy (1. Auflage 1621). Burtons Herausgeber glaubten irrtümlich, das Zitat sei auf Lukan („Bürgerkrieg 2, 10“) zurückzuführen; sie verwechselten Lukan mit dem Evangelisten Lukas, von dem Didacus' Werk handelt.
  7. Brief an Robert Hooke, 5. Februar 1675/76.
  8. Ernst Axel Knauf: Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion, in: Bibel und Kirche 53 (1998), S. 118-126, 126, ISSN 0006-0623
  9. Homesteading The Noosphere

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