Platons Ideenlehre

Platons Ideenlehre
Übersicht zur Ideenlehre

Die Ideenlehre ist ein Kernstück der Philosophie des antiken griechischen Philosophen Platon. Demnach sind bestimmte nur durch die Vernunft zugängliche Entitäten dem Sein und der Erkenntnis nach gegenüber konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenständen vorrangig und stehen als seinsbegründende Urbilder in einer bestimmten Beziehung zu diesen. Die Ideen sind wahrhaft seiende, undingliche bloß denkbare reine Einheiten von Bestimmungen, Prinzipien oder Gegenstandsklassen, die allem Einzelnen, das unter sie fällt, das vermitteln, was es als es selbst sein lässt und wodurch es als bestimmt erkennbar ist.[1] Die Ideen sind deshalb eine Einheit über der Vielheit. Obwohl die später so genannten platonischen Ideen in der Tradition zur zentralen Lehre Platons gerechnet werden, ist die Rede von einer einheitlichen Lehre oder Theorie problematisch, da es in seinen Dialogen keine Stelle mit einer systematischen Erläuterung der Ideenlehre gibt, sondern Platons Ansichten über die Ideen aus vielen verstreuten Bemerkungen rekonstruiert werden müssen. Gleichwohl gelten die Ideen als Grundstein seines Denkens.[2] Als metaphysische Instanzen handelt es sich bei den Ideen um das „wahrhaft seiende Wesen“[3], nämlich „das reine, immer seiende unsterbliche und in sich stets Gleiche.“[4]

Inhaltsverzeichnis

Begriff der Idee

Platon lässt sich kaum auf eine einheitliche Terminologie festlegen.[5] So verwendet er zahlreiche Ausdrücke für das, was in der Tradition Idee genannt wird. Hierzu gehören idéa, morphē, eîdos, parádeigma, auch génos, phýsis und ousía, oft auch Ausdrücke wie to x auto, „das x selbst“, oder kath' auto „an sich“.[6] Ausdrücke wie εἶδος (eîdos) und das aus derselben indogermanischen Wurzel <vid> stammende ἰδέα (idéa) verwendet Platon als Erster, um das Wesen einer Sache zu bezeichnen. Dass der Ausdruck Idee in der Tradition den Vorzug erhält, geht vermutlich auf Cicero zurück.[7]

Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist einem unsichtbaren Reich der Ideen nachgeordnet, die nur durch die Vernunft erkannt werden können. Diese noetische Welt besteht aus den die Eigenschaftswelt konstituierenden Wesenheiten, den so genannten Ideen. Platon bestimmt die Idee als wahres Sein oder als Sein im eigentlichen Sinne.[8] Platon spricht den Ideen eine reale Existenz zu. Die Ideen sind in höherem Maße seiend als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, sie sind die einzig wahrhaft seienden Wesenheiten. Darüber hinaus versteht er die konkreten Dinge lediglich als Ausformungen dieser a priori existierenden Ideen. Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände besitzen für Platon aufgrund ihrer Vergänglichkeit und Veränderlichkeit aber nur ein bedingtes und damit defizitäres Sein.

Die Ideen sind in den Dingen anwesend. Dabei ist diese Anwesenheit aber keine im Grunde dauernde Gegenwart. Die Idee als das ruhende Sein hebt sich von dem Seienden als dem Vergänglichen ab. Nur der Idee kommt wahres Sein zu. In diesem Sinne formulierte Ernst Cassirer: „Wahres Sein hat nur das, was wahrhafte Dauer hat. Wahre Dauer aber besitzt nichts Dingliches, sondern nur das geistige Prinzip...“[9]

Platon unterschied streng zwischen der vergänglichen, sinnlich erfahrbaren Welt und dem unveränderlichen, ewigen Reich der Ideen. Alles Denken und Sein wird bestimmt durch die Einheit der Idee. Stets gilt das Primat der Einheit über die Vielheit. Dies darf aber nicht als ein Dualismus von zwei strikt getrennten Welten missverstanden werden. Platons Metaphysik bemüht sich darum, den Menschen, die Gemeinschaft und den Kosmos in einem zu erklären. Die Idee ist deshalb immer das ursprüngliche Eine. Dem steht die Vielheit der Sinnenwelt gegenüber. Ideenwelt und Sinnenwelt verhalten sich dabei wie Muster und Nachbildung. Jede noch so gute Nachbildung ist nur ein schwacher Abklatsch der ursprünglichen Idee. Jede Idee ist einzigartig, und da sie Sein hat, ist sie auch immer mit sich selbst identisch.

Merkmale der Ideen

Die Ideenlehre Platons bleibt immer ein Rekonstruktionsversuch, da es im Werk Platons keine Hauptstelle gibt, in der er die Ideen behandelt. In den Dialogen werden sie meistens „wie alte Bekannte begrüßt“, die man weder einführen muss noch abweisen kann.[10] Die Sinneswahrnehmung kann nach Platon nicht zu Wissen führen. Die Sinne können täuschen[11] und die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, die konkreten Einzelgegenstände, verändern sich fortwährend. Von ihnen ist demnach kein Wissen, sondern nur Meinung (dóxa) möglich. Entsprechend nimmt Platon Entitäten an, die Wissen ermöglichen. Diese Entitäten, die in der Tradition platonische Ideen genannt werden, weisen folgende Merkmale auf:[12]

  • Ideen stehen als Urbilder in einer bestimmten Beziehung zu konkreten Einzeldingen, die unvollkommene Abbilder von ihnen sind. (Die einzelnen konkreten Menschen haben Anteil an der Idee des Menschen).
  • Ideen sind existenziell unabhängig von diesen konkreten Einzeldingen. (Die Idee des Schönen existiert unabhängig von der Existenz einzelner schöner Dinge).
  • Ideen sind unvergänglich und unveränderlich.
  • Die Idee F ist Ursache oder formaler Grund dafür, dass die vielen konkreten Einzeldinge X1, X2, X3 etc., die in einer Beziehung zu ihr stehen, als unvollkommene Realisierungen der Idee die jeweiligen Eigenschaften f1, f2, f3 etc. aufweisen. (Die Idee des Gerechten ist Ursache oder formaler Grund dafür, dass einzelne Objekte gerecht sind). In Platons Parmenides [13] argumentiert der ansonsten hoffnungslos unterlegene junge Sokrates gegenüber Parmenides mit der Lichtsymbolik: Wenn die Idee von einer Qualität wie das Tageslicht ist, wird sie sich in mehrere Dinge gleichzeitig versenken können, ohne zersplittert zu werden oder sich selbst zu verlassen. Dem jungen Sokrates fehlt es aber noch an Verständnis für die volle Tragweite seiner Aussage. Parmenides vermag deshalb im Bild vom Segeltuch das Ganze umzudrehen und zu vergegenständlichen, ohne auf Widerstand zu stoßen.[14]
  • Ob man Platon Selbstprädikationen (die Idee F hat selbst die vollkommene Eigenschaft F, also z.B. die Idee des Gerechten ist selbst gerecht) zuschreiben kann, ist in der Literatur heftig umstritten.[15] Das Problem der Selbstprädikation ist Teil einer Vergegenständlichungstendenz, die Platon wohl für unangemessen hält. Werden Ideen als Attribute aufgefasst, ist dieses Prinzip absurd. Ein Prädikat ist immer von höherer Stufe als seine Argumente, so dass eine Selbstprädikation schon kategorial ausgeschlossen ist. Außerdem wäre es sinnlos, die Eigenschaft der Gerechtigkeit selbst als gerecht und die Eigenschaft der Schönheit selbst als schön zu bezeichnen. Ideen sind für Platon aber nicht Attribute, sondern unveränderliche, ewige Vollkommenheiten. Es lassen sich deshalb viele Beispiele dafür nachweisen, dass er seine Protagonisten das Schöne schön[16], das Gleiche gleich[17] oder die Frömmigkeit fromm[18] nennen lässt.
  • Ideen sind nicht über die sinnliche Wahrnehmung, sondern allein über das Denken zugänglich. Es handelt sich aber nicht um Gedankendinge (noêmata) sondern um in Gedanken Erkennbares (noêta). Die Ideen dürfen deshalb auch nicht als nur formale Allgemeinbegriffe (Universalien) missgedeutet werden.

Ob es für Platon Ideen von allen beliebigen Dingen gibt, erscheint zweifelhaft. So bestreitet er beispielsweise, dass es die Idee des bárbaros, des Nichtgriechen, gebe.[19] Zunächst nimmt er Ideen von den verschiedenen Aretai wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Frömmigkeit oder Tapferkeit an. Hinzu kommen Ideen der Gleichheit, des Geraden und Ungeraden sowie von Feuer, Schnee, Wärme, Kälte, Gesundheit, Stärke und Leben. Ob Platon auch Ideen von Artefakten annimmt, ist umstritten, nicht zuletzt, weil sein Schüler Aristoteles dies leugnet.[20] Platon spricht aber von den Ideen des Tischs und der Werkzeuge. Vermutlich gibt es für Platon jedoch von jedem natürlichen Attribut eine Idee.[21]

Zu der Ideenlehre gehört auch die Lehre, dass die Seele eines Menschen vor der Geburt die Ideen geschaut hat. Wissen von den Ideen zu erlangen besteht demnach in einer Wiedererinnerung (anámnesis). Gedankliches Erfassen wird so zu einer unmittelbaren Schau im Sinne eines nicht-diskursiven Ergreifens.[22]

Metaphysik des Absoluten

Die Idee des Guten

Das Gute, die Ideen und die Erscheinungen

Die Ideen untereinander haben insofern teil aneinander, als eine bestimmte Idee allen anderen Ideen übergeordnet ist. Das Gute (agathón) ist die höchste Instanz. Es ist ein Überseiendes und transzendiert das Sein. Es ist die höchste Idee, da die „gewöhnlichen“ Ideen aus ihr hervorgehen. Die Idee des Guten verleiht den Ideen ihr Sein und Wesen. Da alle Ideen auf die eine Idee des Guten zurückgeführt werden, besteht also eine Beziehung zwischen dem Einen und dem Vielen. Das Gute an sich ist eins mit der göttlichen Vernunft[23] und damit eins mit dem Demiurgen, welcher gemäß den Ideen alles aufs Beste gestaltet hat:[24]

Das Göttliche aber ist das Schöne, das Weise, das Gute und was sonst derartig ist. Von diesen nun nährt und kräftigt sich der Seele Gefieder am meisten, vom Häßlichen aber und Bösen und was sonst von jenem das Gegenteil ist, schwindet es und vergeht.[25]

Die Idee des Guten gewährt den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein, und überhaupt allem den Nutzen, sogar der Gerechtigkeit, indem sie Ziel und Sinn von allem ist.[26] Die Idee des Guten ist der Grund der Wahrheit und des Erkennens. Das Gute ist im Reich der Vernunft wie die Sonne im Reich des Sichtbaren. Wie die Sonne den Dingen nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, verleiht, sondern auch ihnen selbst Werden, Wachstum und Nahrung gibt, ohne selbst ein Werden zu sein, so verleiht das Gute dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden, sondern auch sein Sein und Wesen, ohne selbst ein Sein zu sein.[27]

Du wirst wohl einräumen, glaube ich, daß die Sonne den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur das Vermögen des Gesehenwerdens verleiht, sondern auch Werden, Wachsen und Nahrung, ohne daß sie selbst ein Werden ist? ... Und so räume denn auch nun ein, daß den durch die Vernunft erkennbaren Dingen von dem eigentlichen Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil wird, sondern daß ihnen dazu noch von jenem das Sein und die Wirklichkeit kommt, ohne daß das höchste Gut Wirklichkeit ist, es ragt vielmehr über die Wirklichkeit an Hoheit und Macht hinaus.[28]

Als höchste, absolute Idee hat das Gute sein Sein und Wesen aus sich heraus (Aseität), nicht erst durch Teilhabe. Auf Grund der ursächlichen Funktion der Idee des Guten ist es das höchste Ziel des Philosophen, die Idee des Guten zu erkennen, und laut der Politeia Voraussetzung dafür, Philosophenherrscher zu werden. Wer einmal die Einsicht in das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider besseres Wissen handeln. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das praktische Handeln. Das überseiende Gute stiftet als absoluter Urgrund[29] das Reich der Ideen und ist dabei selbst jenseits des Seins, jenseits aller Bestimmungen[30] und schlechthin unbedingt[31]. In Platons ungeschriebener Lehre wird das Wesen dieses Urprinzips auch als das Eine bezeichnet.[32] Aus der Idee des Guten als des hén, des Einen, leitete Platon zunächst die Zweiheit (dyás) des Einheitlichen und des Mannigfaltigen (tautón und tháteron) oder des Maßes und des Unendlichen (péras und ápeiron, das heißt ungerade und grade) ab, um dann weiter das System der übrigen Ideen und Zahlen so anzufügen, dass sie eine Stufenfolge des Bedingenden und des Bedingten bilden. Die Erfassung der Idee des Guten ist deshalb als Ausgangspunkt von allem die höchste Erkenntnis (mégiston máthēma).[33] Als solche ist sie aber auch nur mit Mühe zu schauen (mógis ophtheisa).

Das Reich der Ideen

Im Licht des überseienden Guten erkennt die Vernunft das Reich der Ideen, die werdelos über allem Werden stehen. Es ist der ewige Bestand eines Reiches der Wesenheiten: die Gerechtigkeit an sich, die Schönheit an sich, das Pferd an sich. Diese reinen Wesensbestimmtheiten sind als solche an sich selbst und bestehen für sich selbst jenseits der Welt der Erscheinungen.[34] Die Ideen bilden untereinander ein einiges und in sich selbst gegliedertes Ganzes, das frei ist von Zufall und Veränderung. Das Reich der Ideen setzt deshalb die Einheit der intelligiblen Welt voraus, es ist von seiner Struktur her eine Einheit in Vielheit.[35] Die Ideen sind die Ur- und Musterbilder (parádeigma), dessen Abbilder (eídola, homoiómata) die vergänglichen Dinge sind, in denen die Ideen gegenwärtig sind. Insoweit besteht zwischen diesen eine Gemeinschaft (koinōnía). Die platonische Dialektik ist das Mittel zur Ideenerkenntnis zu gelangen. Das Ziel besteht darin, das Wesen von etwas zum einen zusammenschauend zu erfassen und begrifflich zu bestimmen und zum anderen es auch wieder nach Begriffen, aus denen es zusammengesetzt ist, zerteilen zu können.[36]

Die Welt der Erscheinungen

Methexis: Die Teilhabe der vergänglichen Dinge an den wahrhaft seienden Ideen

Zwischen der höheren Ideenwelt der unveränderlichen Dinge und der niederen Sinnenwelt der veränderlichen Dinge fand Platon ein Verhältnis, wie es zwischen Urbildern und ihren Nachbildungen besteht. Die vergänglichen Dinge haben ihr wahres Sein durch die Teilhabe (méthexis) an der jeweiligen Idee. Der Demiurg als der Vater der Welt[37] hat aus der Materie die dingliche Welt gemäß der ewig seienden Idealwelt gestaltet. Die jeweilige vorgelagerte Idee ist in den durch sie ausgeformten real existierenden Dingen gegenwärtig (parousía). Die Materie für sich allein existiert nicht. Zur Wirklichkeit wird sie erst durch die Ideen erweckt, die in ihr anwesend sind.[38] Der Bestand und der Wesensgehalt der erscheinenden Wirklichkeit wird durch das Reich der Ideen bestimmt. Die Erscheinungen bleiben dabei aber hinter der vollen Bestimmung ihres Wesens zurück.[39]

In schroffem, unausgeglichenem Gegensatz stehen sich gegenüber das „reine“, schlechthin unwandelbare Sein der Idee, und das fortwährend wechselnde, „auf alle Weise sich verhaltende“ Pseudo-Sein der Erscheinung: jenes das „Sein, welches immer ist“, dieses „umhergetrieben vom Werden und Vergehen“.[40]

Das defizitäre Sein der Erscheinungen steht also dem wahren Sein der Ideen trotz ihrer Teilhabe gegenüber. Die ontologische Aufgabe des Sinnendings ist es, sich seiner Idee anzunähern. Es handelt sich also bei den Ideen nicht um bloße gedankliche Abstrahierungen bzw. Generalisierungen aus dem vergänglichen Vielerlei der diesseitigen Realität. Vielmehr geht das Ideal der vergänglichen Weltwirklichkeit voraus. Plastisch vor Augen führt Platon diese idealistische Sicht der Dinge in seinen drei Gleichnissen: Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis.

Herleitung der Ideenlehre

Die sokratische Definitionsfrage

Platon entwickelte Überlegungen zu einer Existenz von Ideen vermutlich ausgehend von der sokratischen Was ist X?- Frage (Was ist das Schöne?, Gerechte? etc.), die im Zusammenhang der Entwicklung des Konzepts der Definition steht. Bereits Platons Lehrer Sokrates hatte sich intensiv darum bemüht, das absolut und für jedermann Geltende auf dem Gebiet der Ethik zu finden. Er wollte die Unhintergehbarkeit moralischer Normen aufzeigen. Wenn ein einzelner Mensch gerecht ist, so kann dies erfahren und erkannt werden. Was ist aber das allgemein Gerechte? Die Gestalt oder Idee hinter den vielen Einzelerscheinungen kann nur durch eine Erkenntnis a priori gefasst werden. Schon Sokrates suchte nach dem Allgemeinen und nach dessen Definitionen. Damit hat er für Platon einen wesentlichen Anstoß zur Entwicklung der Ideenlehre gegeben:

Sokrates hatte die Frage angeregt: »Wie ist das Wissen möglich?« (Parmenides, Republik.) Er antwortete: »Nur durch allgemeine Begriffe.« Platon steigt nun die Frage auf: »Ist durch das Wissen eine Beziehung zum Sein gegeben? Wie verhält sich der allgemeine Begriff zur Realität?« Darauf antwortet Platon: »Es kann der allgemeine Begriff kein Wissen enthalten, wenn sein Gegenstand nicht etwas Reales wäre. Er muß ein noêma tou ontos und nicht tou mê ontos (des Seienden und nicht des Nicht-Seienden) sein. Die Ideen (eidê) sind also real.« Eidos (allgemeiner Begriff) und Ousia (substanzielles Dasein) sind hiernach der Kern der Ideen.[41]

Heraklit und die Eleaten

Es wäre aber zu einfach gedacht, die Wurzeln der Ideenlehre ausschließlich bei Sokrates zu suchen. Ihre Entstehung verdankt sich vielmehr einem weit umfassenderen philosophischen Kontext:

Zu seiner Ideenlehre ist Platon außer durch den Einfluß der orphischen Mysterien und der pythagoreischen Philosophie dadurch gekommen, daß er die Lehre des Herakleitos vom Wechsel der Dinge und die Lehre der Eleaten vom unveränderlichen Sein miteinander verband (Theaetet). Die Gegenstände der Erfahrung zeigen stetige Veränderung, Verwirrung und beständiges Schwanken. Während wir noch von einer Erfahrungsvorstellung sprechen, verschwindet sie und weicht einer anderen entgegengesetzten; die Dinge der Wahrnehmung besitzen also keine Realität. Dagegen sind die allgemeinen Begriffe, durch die wir das Wahrgenommene denken, nicht der Veränderung und Verwirrung unterworfen. Diese allgemeinen Begriffe sind also das Reale.[42]

Die Mathematik

Einfluss auf die Entwicklung der Ideenlehre hatten zudem die Gegenstände der Mathematik, insbesondere der Geometrie. In der sinnlich wahrnehmbaren, diesseitigen Realität gibt es nur mehr oder weniger unvollkommene einzelne kreisförmige Dinge, die definierende Beschreibung des Kreises ist ein Akt des mathematischen Verstandes, die Erkenntnis des Kreises an sich geht über die sinnliche Wahrnehmung hinaus:

Aber soviel verstehe ich doch, du willst durch diese Gegenüberstellung feststellen, daß demjenigen, was durch die auf das Seiende und Gedachte gerichtete Wissenschaft der Dialektik betrachtet wird, größere Sicherheit und Deutlichkeit zukommt als dem von den mathematischen Fächern, also den sogenannten Künsten Erkannten, denen die Voraussetzungen zugleich das Erste und Oberste sind, und bei denen die Betrachtenden ihren Gegenstand zwar mit dem Verstand, nicht mit den Sinnen zu betrachten genötigt sind, aber, weil ihre Betrachtungsweise sie nicht aufwärts zu dem Ersten und Obersten führt, sondern sich auf bloße Voraussetzungen stützt, es dir nicht zu rein vernünftiger Einsicht über ihre Gegenstände zu bringen scheinen, obschon auch sie einer Vernunfterkenntnis mit Einschluß des Ersten und Obersten zugänglich sind. Mathematische Verstandeserkenntnis aber, und nicht Vernunfterkenntnis scheinst du mir das von den geometrischen und den ihnen verwandten Wissenschaften eingehaltene Verfahren zu nennen, da du sie für etwas Mittleres hältst zwischen bloßer Meinung und Vernunft.[43]

Platons spätere Kritik an der Mathematikerzunft entsteht aus dem Gedanken heraus, dass die Mathematiker von Dingen, wie einer Gleichung oder Ungleichung, ausgehen, ohne diese Begriffe genauer zu hinterfragen und ihre Voraussetzungen näher zu untersuchten. Die Mathematiker interessieren sich nicht für den Kreis, den sie mehr oder weniger unvollkommen in der Natur finden oder selbst zeichnen. Bei der Geometrie handelt es sich nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände. Die Vollkommenheit der Kreisform beruht demnach nicht auf einem tatsächlichen, sondern auf einem geistigen Prinzip. Diesem kommt eine höhere Wahrheit zu als dem in der Natur gefundenen Abbild eines Kreises.[44] Dieses Verhältnis von Idee zu Abbild wird dann von Platon zunächst herangezogen, wenn es um das Sein an sich geht: das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte und das Fromme.[45] Schließlich wird dieses Verhältnis von Platon so weit verallgemeinert, dass hinter zahlreichen einzelnen empirischen Erscheinungen als Urbild eine Idee angenommen wird. Die Mathematik gewinnt so gegenüber der Philosophie eine propädeutische Funktion.[46]

Kritik der Ideenlehre

Platons Schüler Aristoteles hat die Ideenlehre als poetische Metapher und leeres „Gewäsch“ kritisiert und die Ideen als nicht seiende reine Abstrahierungen von den vielerlei existierenden Dingen bezeichnet.[47]

Aristoteles aber bestimmte das Seiende als das sich in den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen selbst Verschiedenes (eine zweite Welt) als ihre Ursache auszudenken, und er lehrte, daß das im Begriff erkannte Sein der Dinge keine andere Wirklichkeit besitze, als die Gesamtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. So betrachtet, nimmt das Sein (ousia) erst vollständig den Charakter des Wesens (to ti ên einai) an, welches den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen bildet, aber nur in diesen selbst wirklich ist: und alle Erscheinung wird zur Verwirklichung des Wesens.[48]

Diese Kritik des Aristoteles wurde dann wieder in scharfer Form von Giordano Bruno zurückgewiesen:

Aristoteles unter den anderen, der das Eine nicht fand, fand auch das Wesen nicht und nicht das Wahre. Denn er erkannte das Wesen nicht als Eines; und obgleich er freie Hand hatte, die Bedeutung des der Substanz und dem Accidenz gemeinsamen Wesens zu erfassen und dann weiterhin seine Kategorien mit Rücksicht auf die Vielheit der Gattungen und Arten durch ebenso viele Unterschiede zu bestimmen, so ist er nichts desto weniger in die Wahrheit deshalb so wenig eingedrungen, weil er nicht bis zur Erkenntniss dieser Einheit und Ununterschiedenheit der bleibenden Natur und des bleibenden Wesens hindurch gedrungen ist, und als ein recht seichter Sophist mit boshaften Auslegungen und wohlfeilen Ueberredungskünsten die Meinungen der Alten verdreht und sich der Wahrheit widersetzt hat, vielleicht nicht so sehr aus Schwäche der Einsicht, als aus Missgunst und Ehrsucht.[49]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Dirk Cürsgen, in: Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon,2007, S. 102, mit zahlreichen Nachweisen auf Platons Dialoge
  2. Cherniss, Die ältere Akademie, 1966, S. 13
  3. Platon, Phaidros, 247c
  4. Platon, Phaidon, 79d
  5. Michael Erler: Platon, Basel 2007, S. 31. Beispiele: Pol. 261e, Rep. 533d-e.
  6. Christian Schäfer: Idee/Form/Gestalt/Wesen, in: ders. (Hg.): Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 157.
  7. Und zwar in Cicero: Brutus 3, 10; zu Ciceros Rolle: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, S. 55.
  8. Werner Beierwaltes, Identität und Differenz, Klostermann, Frankfurt a. M. 1980, S. 142
  9. Ernst Cassirer, Aufsätze und Kleine Schriften (1902-1921), Meiner 2001, S. 507
  10. Dorothea Frede, Platons „Phaidon“. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele, Darmstadt 1999, S. 22.
  11. Platon, Politeia, 602c-603a
  12. Vgl. dazu z.B. Franz von Kutschera: Platon III. Die späten Dialoge, Paderborn 2002, S. 177 ff.
  13. Platon, Parmenides, 131b f.
  14. Vgl. dazu Egil A. Wyller, Platons Parmenides, 2 Aufl. 2006, S. 70
  15. Vgl. dazu z.B. Franz von Kutschera, Platons Parmenides, 1995, S. 30; Andreas Graeser, Platons Parmenides, 2003, S. 70
  16. Platon, Symposion, 210e
  17. Platon, Phaidon, 74d
  18. Platon, Protagoras, 330c f.
  19. Platon, Politikos, 262d
  20. Aristoteles, Metaphysik, 1070a18; Franz von Kutschera: Platon III. Die späten Dialoge, Paderborn 2002, S. 184
  21. Franz von Kutschera: Platon III. Die späten Dialoge, Paderborn 2002, S. 184 f.
  22. Christian Schäfer, in: Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 159: „... wie mit den Augen Gottes.“
  23. Platon, Philebos, 22
  24. Platon, Timaios, 28 ff.
  25. Platon, Phaidros., 246 E
  26. Marcel van Ackeren, Das Wissen vom Guten, B.R. Gruner, Amsterdam Philadelphia, 2003, S. 171
  27. Jaspers, Plato, Augustin, Kant, S. 51
  28. Platon, Politeia, Buch VI., 509 St.
  29. Platon, Politeia, Buch VI., 510 B 7
  30. Platon, Parmenides, 137 C - 142 A
  31. Platon, Politeia, Buch VI., 511 B 6
  32. Vgl. den Bericht bei Aristoteles, Metaphysik 1091 b 13-15
  33. Platon, Politeia, 505a ff.
  34. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 222
  35. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 223
  36. Platon, Phaedr., 265d-e.
  37. Platon, Timaios, 28c f.
  38. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, Artikel Platon
  39. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 222
  40. Natorp, Platos Ideenlehre, S. 18
  41. Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Artikel Idee
  42. Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Artikel Idee
  43. Platon, Politeia, Buch VI., 510b ff.
  44. Vgl. Platon, Politeia 510d
  45. Vgl. Platon, Phaidon 75c f.
  46. Christiam Schäfer, in: Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 159
  47. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, S. 312 f.
  48. Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1912, S. 115 f.
  49. Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Leipzig 1902, S. 102

Literatur

  • Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 1904
  • Michael Erler: Platon. Basel 2007
  • Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91911-2
  • Andreas Graeser: Platons Parmenides. Mainz 2003
  • Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2. Aufl. Saur, München 2006 ISBN 3-598-73055-1
  • Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. München 2002
  • Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl., Leipzig 1907
  • Franz von Kutschera: Platon 3 Bde, Paderborn 2002; insb. zusammenfassend: Bd. III Die späten Dialoge, Kap. 8.2 Ideen, S. 177-193.
  • Franz von Kutschera: Platons „Parmenides“. Berlin 1995
  • Torsten Menkhaus: Eidos, Psyche und Unsterblichkeit: Ein Kommentar zu Platons "Phaidon". Frankfurt am Main/London 2003
  • Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Meiner, Leipzig 1921
  • Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe, Basel 1971 bis 2007
  • Christian Schäfer (Hrsg.): Platon-Lexikon. WBG, Darmstadt 2007
  • Egil A. Wyller: Platons Parmenides. 2 Aufl., Würzburg 2006
  • Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 1912
  • Nicholas P. White: Plato's metaphysical epistemology, in: Richard Kraut (Hg.): The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, S. 277-310

Weblinks


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