Process and Reality

Process and Reality

Der Essay Prozess und Realität ist ein zuerst 1929 in New York unter dem Originaltitel Process and Reality: An Essay in Cosmology erschienes Werk des britischen Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead (1861–1947). Es ist hervorgegangen aus den 1927/28 an der Universität Edinburgh gehaltenen "Gifford Lectures" [1]. Der "spekulative Gesamtentwurf" [2] gilt - im Zusammenhang mit "Wissenschaft und moderne Welt" (orig. Science and the Modern World, 1925) und "Abenteuer der Ideen" (orig. Adventure of Ideas, 1933) als Hauptwerk Whiteheads. Vorangegangen war eine lange Zusammenarbeit mit Bertrand Russell, dessen Ergebnis Principia Mathematica war. Im Jahr 1979 wurde "Prozess und Realität" ins Deutsche übersetzt. Die äußerst anspruchsvolle Abhandlung befasst sich mit Fragen der Metaphysik, Ontologie und Erkenntnistheorie. Whitehead legt hier das Fundament für sein „ontologisches Prinzip“. In diesem Werk fällt auch Whiteheads berühmtes Zitat von der Philosophie als bloßer Sammlung von Fußnoten zu Platon.


Inhaltsverzeichnis

Anspruch

Im ersten Kapitel („Spekulative Philosophie“) formuliert Whitehead den Anspruch seines Bemühens, „ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann.“ [3]. In diesem Anspruch wird ein weiter Rahmen gesteckt; es ist der Versuch, eine Metaphysik zu entwickeln, die wissenschaftliche, religiöse und philosophische Fragestellungen nicht voneinander trennt, sondern zu einem Begriffssystem zusammenfasst. Er lehnt somit eine Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften ab und betont das Bemühen, in allen Gebieten menschlichen Denkens (z.B. Physik, Physiologie, Psychologie, Ästhetik, Soziologie u.a.)[4] eine „Fundgrube menschlicher Erfahrung“ zu sehen, die zu einer spekulativ-kohärenten Metaphysik beiträgt.

Das Kategorienschema

Charakteristisch für die Philosophie Whiteheads ist ein Kategorienschema, dessen Sinn sich erst aus dem Gesamtzusammenhang erschließt. Es werden hier nicht alle Kategorien und Begriffe aufgeführt, sondern nur einige entscheidende Grundbegriffe und Argumentationen wiedergegeben.

Wirkliche Ereignisse als Pulse des Daseins

Für Whitehead baut sich die Welt aus „Wirklichen Einzelwesen“ (orig.: actual entity) bzw. „Wirklichen Ereignissen“ auf (beide Begriffe werden synonym verwendet): „`Wirkliche Einzelwesen´- auch `wirkliche Ereignisse´genannt - sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Man kann nicht hinter die wirklichen Einzelwesen zurückgehen, um irgendetwas Realeres zu finden.“ [5]. Wirklichkeit bedeutet in jedem Fall, dass etwas geschieht, „Dinge“, die in Ruhe verharren und „da sind“, ohne dass etwas geschieht, gibt es für Whitehead nicht. Zudem umfasst die Wirklichkeit einen großen Raum, wie Michael Hampe in seinen Untersuchungen zu Whitehead beschreibt: „Träume, Affekte, Wahrnehmungen, Gedanken betrachten wir traditionell als weniger wirklich als Tische und Stühle, Steine und Bäume. (…) Wenn wir jedoch unseren Organismus oder die Feinstruktur der Materie genauer betrachten, dann sehen wir, daß das Andauern, die Stabilität dieser vermeintlich so wirklichen Dinge darauf beruht, daß permanent etwas geschieht.“[6]. Der Eindruck eines Andauerns resultiere aus einer steten Wiederholung von Geschehnissen, Materie konstituiert sich also in diesem Sinne aus einer sich wiederholenden Abfolge von Ereignissen (nicht „Dingen“). Diese Wirklichkeitsauffassung lässt sich mit der Vorstellung des dharma im Buddhismus vergleichen (siehe dazu auch: Anatta).

Hier zeigt sich, dass, im Gegensatz zu anderen philosophischen Entwürfen, das Bemühen von Whitehead nicht darin besteht, Kategorien wie „Subjekt“ und „Objekt“, „Substanz“ und „Qualität“ scharf voneinander zu trennen.[7]. Im Gegenteil, die Abstraktion der Welt in solche Begriffe beruhe eher auf einer „Abblendung des unmittelbar Wirklichen. Indem sie etwas scharf sehen will, muß sie vieles andere übersehen.“[8]. Die Trennung von "Erscheinung" und "Wirklichkeit" führe zu einer "Gabelung (bifurcation) der Natur"; gegen diese Vorstellung wandte sich Whitehead.[9] Der Grundbegriff des „ontologischen Prinzips“ ist also kein reduktionistischer, sondern ein bereits in sich komplexer; in Whiteheads Sprache: ein „Einzelwesen“ (actual entity): „Jedes wirkliche Einzelwesen ist auf unbegrenzt viele Arten `teilbar´, und jede Art der `Teilung´ ergibt eine bestimmte Quote von erfaßten Informationen.(…): Es bezieht sich auf eine äußere Welt und bekommt in diesem Sinne einen `Vektor-Charakter´ zugesprochen; es impliziert Gefühl, Zwecksetzung, Wertung und Verursachung.“ [10]

"Wirkliche Ereignisse" können auch als "Pulse der Erfahrung" beschrieben werden [11]. Doch sollte man sich vor Augen halten, welche Vorstellung wir gewohnheitsgemäß mit dem Begriff "Erfahrung" verbinden. Dies sei an einem Beispiel erläutert.

Man stelle sich eine Person vor, die einen Stein betrachtet. Diese Situation wäre eine "Erfahrung". Wir sind gewohnt, eine klare Abgrenzung zwischen der Person, die wir uns zudem als mit Bewusstsein ausgestattet vorstellen, und dem Stein vor zu nehmen. Person (a) betrachtet die Sache "Stein" (b). Aufgabe der Philosophie wäre es nun, zu beschreiben, was da genau vor sich geht. In dieser Denkweise befinden wir uns ganz in der Tradition Descartes und trennen Geist und Materie, stellen uns darüber hinaus den Stein als "dauerhaft" vor - und ebenso die Person als konsistent (wenn auch mit nicht ganz so langer Lebensdauer); zudem unterstellen wir ein Datum und eine klare kausale Beziehung von a (Betrachter) nach b (Stein). Genau diese Vorstellung meint Whitehead jedoch nicht, wenn er von "wirklichen Ereignissen" (bzw. "Pulsen der Erfahrung") spricht. Versuchen wir, im Sinne Whiteheads die Situation zu beschreiben.

Person und Stein sind in einem Rahmen zu sehen, sie bilden gewissermaßen das "wirkliche Ereignis" - ihre Beziehung ist die kleinstmögliche Einheit: es wäre Konstruktion, beide wieder scharf voneinander zu trennen. Die Person "erfasst" den Stein ebenso wie der Stein die Person "erfasst" - mit je unterschiedlicher Intensität. Bestimmt wird die Intensität der Erfahrung durch die Geschichte der Person (und des Steines). Ist die Person ein Bildhauer, wird sie andere Dimensionen im Stein wahrnehmen, als wenn sie Maurer oder Bäcker ist: insofern gehört die Vorgeschichte der Person und die Vorgeschichte des Steins in den prozessualen Gesamtkontext der "Erfahrung". Die Erfahrung setzt eine Gesamtstruktur: sie konstituiert sich sozusagen selbst. Zudem ist sie in komplexer Weise mit allen anderen "Ereignissen" verbunden, die zu ihr geführt haben und die durch sie in der Zukunft beeinflusst werden. Und: die "Erfahrung" ist nur ein Pulsschlag und verschwindet sofort wieder - im Verschwinden macht sie jedoch einer neuen Erfahrung Platz. Und in diese neue Erfahrung wiederum geht die vorangegangene auf.

Wir verbinden mit dem Begriff "Erfahrung" gewöhnlich Bewusstsein - diese Verbindung zieht Whitehead nicht. In diesem gedanklichen Gebäude besteht ein Tisch ebenso aus "Erfahrungen" wie ein Mensch oder ein Stern.

Die Komplexität des „Einzelwesens“ bzw. der „wirklichen Ereignisse“

  • Ein wirkliches Ereignis ist kreativ. Es vereinigt in sich alle Ereignisse, die zu ihm geführt haben. Zudem ist es ein Entwurf in die Zukunft.[12].
  • Ein wirkliches Ereignis ist „intern determiniert und extern frei“. Es bezieht extern Stellung zu seiner internen Bedingtheit und erlangt so eine Möglichkeit der Freiheit und wird „causa sui“ d.h. Ursache seiner selbst.[13].
  • Ein wirkliches Ereignis ist nicht eindeutig lokalisierbar: „In gewissem Sinne ist alles immer und überall. Denn jede Lokalisierung schließt einen Aspekt ihrer selbst in jeder anderen Lokalisierung ein. Daher ist jeder raumzeitliche Standpunkt ein Spiegel der ganzen Welt“.[14].
  • Ein wirkliches Ereignis ist niemals autonom, sondern immer auf andere wirkliche Ereignisse bezogen.[15].
  • Ein wirkliches Ereignis ist integrativ („kongreszent“), indem es ein subjektives Ziel hat („subective aim“) und einen Entwurf in die Zukunft („superject“).
  • Ein wirkliches Einzelwesen konstituiert sich durch Erfassen ("prehension")[16].
  • Ein wirkliches Ereignis kann Bewusstsein haben - muss es aber nicht haben.
  • Die wirklichen Ereignisse streben nach Steigerung der Intensität, des Kontrastes und der Erfüllung (satisfaction) - d.h. der größtmöglichen Ausschöpfung ihrer Mannigfaltigkeiten. Diese Erfüllung ist eine Art Individualisierung der Einzelwesen, die wiederum den Grund für zukünftige Ereignisse legen.

Der Nexus

„Ein Nexus ist eine Menge von wirklichen Einzelwesen in der Einheit des Bezogenseins(…), die durch ihre erfaßten Informationen voneinander begründet wird.(…) Der größte Nexus ist die Welt selbst, und alle übrigen Nexus sind im Vergleich zu ihr `untergeordnete Nexus´(subordinate nexuus)"[17].

Wirkliche Ereignisse konstituieren sich durch Erfassen ("prehension") und lassen Neues entstehen ("creative urge"); sie konkretisieren sich, wenn sie ihre Erfüllung ("satisfaction") erreicht haben.

Eine Gruppierung von wirklichen Ereignissen ist ein Nexus.[18].

Das ontologische Prinzip

Das ontologische Prinzip besagt nach Whitehead, dass jedes wirkliche Ereignis den Grund seiner Existenz in sich selbst hat oder in anderen wirklichen Ereignissen.

"Nach dem ontologischen Prinzip gibt es nichts, was aus dem Nirgendwo in die Welt treibt. Alles in der wirklichen Welt läßt sich auf irgendein wirkliches Einzelwesen beziehen, wird entweder von einem wirklichen Einzelwesen in der Vergangenheit übertragen oder gehört zum subjektiven Ziel des wirklichen Einzelwesens, in dessen Konkretisierung es sich befindet.(...) Die Unmittelbarkeit des sich konkretisierenden Subjekts wird begründet durch sein lebendiges Zielen auf seine eigene Selbst-Begründung. Daher ist die Anfangsphase des Ziels in der Natur Gottes verwurzelt, und seine Vervollständigung beruht auf der Selbst-Verursachung des Subjekt-Superjekts.(...) Nach dieser Erklärung ist Selbst-Bestimmung ihrem Ursprung immer etwas Phantasievolles."[19].

Gottesbegriff: "Der werdende Gott"

Das kreative Prinzip des Gottesbegriffes von Whitehead zieht sich durch den Essay. Gott ist mit den wirklichen Ereignissen verbunden, ist selbst ein "wirkliches Ereignis":

"Zunächst darf Gott nicht als eine Ausnahme von allen metaphysischen Prinzipien behandelt werden, eingeführt, um deren Zusammenbruch vorzubeugen. Er ist ihre wichtigste Exemplifikation. Als uranfänglich betrachtet, ist er die unbegrenzte begriffliche Realisierung des absoluten Reichtums an Potentialitäten. Unter diesem Aspekt ist er nicht vor, sondern mit aller Schöpfung."[20].

Gott ermöglicht den Ereignissen in jedem Augenblick "über sich hinaus zu gehen" - er "verleitet" zur Transzendenz - Whitehead gebraucht den Begriff: "lure"[21]. Gott selbst allerdings verändert sich im Beobachten und im Geschehen dieser Transzendenz der wirklichen Ereignisse, die ihre "Erfüllung" finden. Er wird insofern als ein Schöpfergott definiert, der "dauernd schafft" - aber eben auch "sich selbst" [22].

Whitehead grenzt seinen Gottesbegriff im Fünften Teil von drei anderen ab, die nach seiner Auffassung die bisherigen Gottesbilder kennzeichneten:

  • Gott als Reichsherrscher
  • Gott als Personifizierung "moralischer Energie"
  • Gott als philosophisches Grundprinzip [23].

Für Whitehead befindet sich Gott "im Einklang des Werdens mit jedem anderen kreativen Akt"[24]. und in der Folge ist er der einzige Ort in dem "nichts verloren geht" [25].

Gott und die Welt stehen in einem sich gegenseitig bedingenden Begründungszusammenhang:

"Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott die Welt transzendiert, wie zu behaupten, daß die Welt Gott transzendiert. Es ist genauso wahr, zu sagen, daß Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, daß die Welt Gott erschafft."[26].

Diskussion und Einflüsse anderer Philosophen

In Prozess und Realität beschäftigt sich Whitehead ausführlich mit Standpunkten anderer Philosophen; dies jedoch nicht im Sinne eines philosophiegeschichtlichen Zugriffs, sondern dem einer "Transformation" ihrer Begrifflichkeit. Im Einzelnen werden Platon, Aristoteles, Descartes, Berkeley, Hume und Locke diskutiert.[27]

Zur Definition seiner "organistischen Philosophie" als einer der "Form" und nicht der "Substanz" ist die Abgrenzung zum Aristotelischen Substanzkonzept hervorzuheben. [28]

Whitehead selbst schreibt: "Der Terminus >qualitätlose Wirklichkeit< bezieht sich hier auf den Begriff einer res vera ohne subjektivistische Unmittelbarkeit. Diese Zurückweisung ist für die organistische Philosophie von grundlegender Bedeutung (...)."[29]

Die Bezüge der Metaphysik Whiteheads zur Monadologie von Leibniz liegen auf der Hand, nur dass seine "Ereignisse" zwar, ähnlich wie die Monaden bei Leibniz, das gesamte Universum "spiegeln", ihnen jedoch keine dauerhafte Existenz zugesprochen wird.[30]

Besonderen Einfluss auf das Denken von Whitehead hatte William James (1842-1910). Der amerikanische Psychologe und Philosoph (dessen Bruder Henry James als Autor Weltruhm erlangte) formulierte in seinem Werk The Principles of Psychology (New York, 1890)[31] eine "originäre Konzeption des stream of consciousness und entwickelte darin Gedanken, an die Whitehead anknüpfte, so den, dass Bewusstsein keine Entität, sondern eine Funktion sei[32]und den, dass der "Übergang zwischen zwei Sensationen (feeling of transition), etwa zwischen Stille und Donnerschlag, selbst nichts Negatives, sondern das eigentlich Strömende und strömend Verbindende ist(...).[33]

Kritik und Rezeption

Kritik

Obwohl sich Whitehead vom Sensualismus abgegrenzt hat [34] und seine "organistische Philosophie" dem Subjektivismus zuordnete ,[35] warf ihm James W. Felt einen "naiven Realismus" und epistomologische und ontologische Redundanzen vor:[36] Es sei z.B. nicht erklärbar, wie Begriffe wie die der "Farbe" "in" den Dingen sei und dieselben Begriffe durch die Wahrnehmung erst "entstünden".[37] Die Kritik krankt jedoch bei näherer Analyse daran, dass das eigentliche begriffliche System von Whitehead offenbar nicht begriffen wurde, sondern von einem dualistischen Standpunkt aus argumentiert wird. Nun nimmt Whitehead eine dualistische Position aber gerade nicht ein.

Rezeption (R) und Analogien (A) Überblick

  • Geschichtsschreibung, Kybernetik

Heinz von Foerster (A)

  • Panpsychismus

Harald Atmanspacher (A)

  • Prozesstheologie

John B. Cobb (R), David Ray Griffin (R), Charles Hartshorne(R)

  • Symbolphilosophie

Ernst Cassirer (A), Nelson Goodman (A), Susanne K. Langer (R), Oswald Schwemmer (R)

  • Kulturanthropologie, Sozialwissenschaften und Systemtheorie

Dorothy Emmet (A), Niklas Luhmann (A), Talcott Parsons (A)

  • Ökologie, ANT (Aktor-Netzwerk-Theorie), feministische Philosophie

Bernhard Gill (R), Bruno Latour (R), Donna Haraway (R), Isabelle Stengers (R)

  • Physik und Biologie

David Bohm (A), Werner Heisenberg (A), Shimon Malin (R), Erwin Schrödinger (A)

  • Pragmatismus und Zeichentheorie

John Dewey (A), Charles S. Peirce (A), George Santayana (A), George Herbert Mead (A), Gilles Deleuze (R)

  • Religion, Mystik

Jiddu Krishnamurti (A), Sri Aurobindo (A)

Beschreibung der Rezeptionslinien und Analogien

In der Rezeptionsgeschichte wurde Whitehead lange Zeit nicht in seinem Gesamtspektrum gewürdigt, sondern nur in Teilen. In der Geschichtsschreibung der Philosophie trat er bisher weitgehend hinter Sprachphilosophen wie Ludwig Wittgenstein zurück; in den letzten zwanzig Jahren hat sich die zurückhaltende Rezeption gewandelt; es ergeben sich vielfältige Bezüge, die jedoch zumeist nur Teilaspekte der Gedanken von Whitehead weiter verfolgen[38]: "Entsprechend ist Whitehead fast nur als natürlicher Theologe oder nur als Theoretiker der Geometrie oder Physik oder allein als subjektivistischer Naturphilosoph der den Materialismus kritisiert, rezipiert worden. Kaum jedoch gab es Bemühungen, in einer Gesamtansicht des Oeuvres die Zusammenhänge in seinem Leben nachzuvollziehen." [39].

Besondere Beachtung fanden die religiösen Anteile seiner Metaphysik; das Gottesbild von Whitehead wurde in der Prozesstheologie besonders von David Ray Griffin und Charles Hartshorne diskutiert und modifiziert.

Darüber hinaus ergeben sich Berührungspunkte zur Prozessmetaphysik, Symbolphilosophie, der Sozialanthropologie und der Kulturtheorie [40]. Zwar nicht explizit an Whitehead anknüpfend, aber als ihm verwandt kann die pluralistische Symboltheorie von Nelson Goodman betrachtet werden[41].

Susanne K. Langer, eine Schülerin von Whitehead, "verwendet in ihren Betrachtungen ausführlich empirisches Material aus den Kunstwissenschaften, der Kulturanthropologie und der Psychologie. In mancher Hinsicht leistet sie eine konkrete Anwendung Whiteheadscher Spekulationen." [42]. Aktuell werden diese Untersuchungen von Oswald Schwemmer weitergeführt.[43].

Eine aktuelle Diskussion der Thesen von Whitehead findet im Umfeld der Aktor-Netzwerktheorie statt. Vertreter dieser Theorie wie Bruno Latour, Donna Haraway und Isabelle Stengers beziehen sich explizit auf Whitehead. Eine empfehlenswerte Zusammenfassung der Thesen liefert der Artikel von Dr. Bernhard Gill, Dozent an der Universität München:[44] In der ANT werde eine Mittelposition zwischen Intentionalität und Materialität der Forschung formuliert und damit das Umfeld empirischer Forschung in einem Gesamtkontext begriffen; eine "Entdeckung" gewisser "Erkenntnisse" sei z.B. immer auch eine "Gesamtkonstruktion" der Ereignisse.[45] Zugleich relativiert er in dem Aufsatz die Möglichkeiten der ANT vor dem Hintergrund globaler ökologischer Krisen, die sich in ihren Auswirkungen z.T. emergent akkumulierten, raum-zeitlich verzögert auftreten und ihnen von daher nur schwer ohne eine "makrologische" Dimension und damit auch eines "vorhandenen theoretischen Inventars" zu begegnen sei.[46]

Der Kybernetiker Heinz von Foerster sei in diesem Umfeld erwähnt:[47]Er akzentuiert kybernetische und konstruktivistische Elemente der Geschichtsschreibung (Geschichtsschreibung als story-telling) und definiert die Geschichte generell als dynamisches Geflecht (Konnex von Verbindungen); Argumentationen, die Prozesse auf eindeutige Kausalitäten zurückführten (single-cause-Argumentation) seien Vereinfachungen.[48].

David Bohm bezieht sich zwar nicht explizit auf Whitehead, formuliert jedoch in seinem Werk Die implizite Ordnung ähnliche Thesen: Abgrenzung vom Dualismus, Vorstellung einer impliziten Leitwelle und damit der Bezogenheit aller Ereignisse. Sein als "holistische Ontologie" [49] bezeichnetes System ähnelt der prozessualen Denkweise Whiteheads.

Ähnliches gilt für Werner Heisenberg, der sich intensiv mit philosophischen (und auch sprachlichen) Fragestellungen der Physik auseinandergesetzt hat[50]. In einem Gespräch mit der Philosophiestudentin Grete Hermann sagte er: "(...)daß also, um es auf eine einfach Formel zu bringen, Atome keine Dinge oder Gegenstände mehr sind.´- `Aber was sind sie dann?´ - `Dafür wird es kaum einen sprachlichen Ausdruck geben, denn unsere Sprache hat sich an den täglichen Erfahrungen gebildet, und die Atome sind ja gerade nicht Gegenstände der täglichen Erfahrung.´"[51].

Shimon Malin, Professor für Physik an der Colgate University in Hamilton/New York greift in seinem populärwissenschaftlichen Buch "Dr. Bertlmanns Socken" [52] Gedanken von Whitehead auf. Besonders für elementare Ereignisse auf der Quantenebene liefere das Modell eines "wirklichen Ereignisses" als Umschreibung des "Quantenkollapses" - also einer sich "blitzhaft" und sehr kurzzeitig konstituierenden Organisation, die zudem keine dauerhafte Identität aufweise - ein mit den physikalischen Beobachtungen erstaunlich übereinstimmendes Bild[53].

Erwin Schrödinger formuliert in seinem Buch "Was ist Leben?": "Wir nehmen also wahr, daß eine waltende Ordnung die Kraft besitzt, sich selbst zu erhalten und geordnete Vorgänge hervorzurufen." [54]. In seinen Überlegungen zur Strukturbildung genetischer Informationen formuliert er damit einen Gedanken, der auch Whiteheads Entwurf bestimmt: den einer sich selbst stets neu organsierenden Einheit von "Ereignissen".

Einzelnachweise

  1. Kindlers Neues Literatur Lexikon S. 605
  2. vgl. Kindlers Neues Literatur Lexikon, S. 605
  3. Kapitel I, Prozess und Realität
  4. Kapitel I, Prozess und Realität
  5. Kapitel II, Prozess und Realität
  6. Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, S. 110
  7. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 582
  8. Störig, S. 582
  9. vgl. Geschichte de Philosophie, J. Rehmke/F. Schneider, a.a.O. S. 373 f.
  10. Kapitel II, Prozess und Realität
  11. vgl. Malin, Shimon: Dr. Bertlmanns Socken, S. 306 ff
  12. vgl.Prozess und Realität, II. Teil S.101
  13. vgl. Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, S. 122 f
  14. Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S.112
  15. vgl. Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, S. 121
  16. vgl. Kindlers Neues Literatur Lexikon S. 606
  17. Hauskeller, Martin: Alfred North Whitehead, S. 48
  18. vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon, a.a. O. S. 606
  19. Alfred North Whitehead: Prozess und Realität, III. Teil, Kapitel III, S. 446 f
  20. Alfred North Whitehead, a.a.O. Fünfter Teil, 2. Kapitel, S. 613 f.
  21. Hampe, Michael, a.a.O., S.125
  22. vgl. Hampe, Michael, a.a.O. S. 126
  23. Alfred North Whitehead, a.a.O. S. 612
  24. Alfred North Whitehead, a.a.O. S. 616
  25. Alfred North Whitehead, a.a.O. S. 618
  26. Alfred North Whitehead, a.a.O. S.621
  27. vgl. Hampe, Michael, a.a.O. S.105 f.
  28. vgl. Hampe, Michael, a.a.O. S. 106
  29. Alfred North Whitehead: Prozess und Realität, a.a. O., Kapitel II,4. S. 75
  30. vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, a.a.O. S. 583
  31. vgl. Kindlers Neues Literatur Lexikon, a.a.O. S. 604
  32. vgl. Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, a.a.O. S. 168
  33. Kindlers Neues Literatur Lexikon, a.a.O., S. 604
  34. vgl.:Alfred North Whitehead, Prozess und Realität, S. 354
  35. vgl.: Alfred North Whitehead, Prozess und Realität, S. 312
  36. vgl.:Hauskeller, Martin, a.a.O. S. 68 f.
  37. vgl.: Hauskeller, Martin, a.a.O. S. 69
  38. vgl. Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, S. 180 f.
  39. Hampe, Michael, a.a.O. S. 180
  40. vgl. Hampe, Michael, a.a.O. S. 181 f.
  41. vgl. Hampe, Michael, a.a.O. S. 184
  42. Hampe, Michael, a.a. O. S. 185
  43. Hampe, Michael, a.a.O. S. 185
  44. Bernhard Gill: "Über Whitehead und Mead zur Aktor Netzwerk-Theorie: Die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie - und der Preis, der dafür zu zahlen ist" (2007), siehe unter Weblinks
  45. Gill, Bernhard, a.a.O. S.11 f.
  46. Gill, Bernhard, a.a.O. S. 16/17
  47. "Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte, siehe unter weblinks
  48. "Im Goldenen Hecht", a.a.O. S. 142
  49. vgl Bauberger, Stefan: Was ist die Welt? S. 166
  50. vgl: Heisenberg, Werner:Physik und Philosophie
  51. Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze, a.a.O. S. 147 f.
  52. vgl: Malin, Shimon, a.a.O. S. 306 - 352
  53. Malin, Shimon, a.a.O. S. 322 ff.
  54. Schrödinger, Erwin: Was ist Leben, a.a.O. S. 135

Literatur

Quellen

  • Alfred North Whitehead, Abenteuer der Ideen (orig. Adventures of Ideas, New York 1933) Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, 1. Auflage 2000, aus dem Englischen übersetzt von Eberhard Bubser, ISBN 3-518-29098-3
  • Alfred North Whitehead: Prozess und Realität, (orig. Process and Reality. An Essay in Cosmology, Macmillan Publishing Co.,Inc. 1929) Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979; 1. Auflage 1987, aus dem Englischen Übersetzt von Hans Günter Holl, ISBN 3-518-28290-5)
  • Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, (orig. Science and The Modern World, Cambridge University Press, 1925 Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, Erste Auflage 1988, aus dem Englischen übersetzt von Günter Holl, ISBN 3-518-28353-7


Zusammenfassende Darstellungen (Lexika)

  • Die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Biographisches Lexikon (Hrsg. Bernd Lutz), dtv München 1999, ISBN 3-423-32517-8, S. 454 f.
  • Die Philosophie Westeuropas, Hermann Noack, Darmstadt 1967, S. 266 - 268
  • dtv-Atlas zur Philosophie, 2. Auflage, München 1992, ISBN 3-423-03229-4, S.222 f.
  • Geschichte der Philosophie, J. Rehmke/F. Schneider, VMA Verlag Wiesbaden, (orig. Grundriss der Geschichte der Philosophie, 1959 Bonn, S. 373-377
  • Geschichte der Philosophie, Ernst von Aster, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1958, S. 375 ff.
  • Kindlers Neues Literatur Lexikon, München 1988, ISBN 3-463-43200-5, S.373-377
  • Philosophie-Lexikon, (Hrsg.: Anton Hügli/Paoul Lübcke), 4. Auflage, Hamburg 2001, ISBN 3-499-55453-4, S. 674 f.
  • Russell, Bertrand: Denker des Abendlandes, Eine Geschichte der Philosophie, 3. Auflage, 1992 dtv München, ISBN 3-423-30019-1, S.402 f.
  • Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 1990, ISBN 3-596-11142-0, S. 581-585

Einführungen zu Whitehead

  • Hampe, Michael: Alfred North Whitehead, München 1998, ISBN 3-406-41947-X
  • Hauskeller, Michael: Whitehead zur Einführung, Hamburg 1994, ISBN 3-88506-895-8

Sonstige

  • Bauberger, Stefan: Was ist die Welt? Zur philosophischen Interpretation der Physik, 2. Auflage, Stuttgart 2005, ISBN 3-17-018982-4
  • Gill, Bernhard: Über Whitehead und Mead zur Aktor-Netzwerk-Theorie: Die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie - und der Preis, der dafür zu zahlen ist (2007) siehe unter weblinks
  • Heinz von Foerster (Albert Müller, Karl H. Müller): Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte, Aufzeichnung eines 1996 in Heidelberg stattgefundenen Gesprächs, siehe unter weblinks
  • Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze, Gespräche im Umkreis der Atomphysik, 5. Auflage, München 2003, ISBN 3-492-22297-8
  • Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, 6. Auflage, Stuttgart 2000, ISBN 3-7776-1024-0
  • Malin, Shimon: Dr. Bertlmanns Socken, Wie die Quantenphysik unser Weltbild verändert, (orig.: Nature Loves to Hide Oxford University Press, U.S.A) Reclam Leipzig 2003, aus dem Amerikanischen übersetzt von Doris Gerstner, ISBN 3-379-00809-5
  • Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? (orig. What is Life?, Cambridge 1944), Piper Verlag 2003, 6. Auflage, aus dem Englischen übersetzt von Ernst Peter Fischer, ISBN 3-492-21134-8

Siehe auch

Chaostheorie, Panpsychismus, Prozessphilosophie, Prozesstheologie, Systemtheorie, Pragmatismus, Schmetterlingseffekt

Weblinks


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