- Präterito-Präsentia
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Präteritopräsentia sind eine spezielle Gruppe von Verben in den germanischen Sprachen. Sie entstanden aus den Präteritum(= ideu. Perfekt)-Formen einiger starker Verben, haben sich aber von diesen abgelöst und bilden nun eigene lexikalische Einheiten. Ein neues schwaches Imperfekt wurde durch Anfügen eines dentalen Suffixes gebildet (im Deutschen -t-). Sie überschneiden sich teilweise mit den Modalverben, und teilen auch viele Kriterien mit diesen.
Das wohl beste Beispiel ist das Verb wissen, das auf die indoeuropäische Perfektform *woyda, „ich habe gesehen“ zurückgeht (vgl. lat. videre, „sehen“).
Gotisch Altenglisch Deutsch Altnordisch Dänisch Schwedisch Infinitiv witan witan wissen vita vide veta Präsens 1. und 3. Sg. wait wāt weiß veit ved vet Präsens 3. Pl. witun witon wissen vitu ved (veten) Präteritum 1. und 3. Sg. wissa wisse wusste vissa/vissi vidste visste Partizip Präsens witands witende wissend vitandi vidende vetande Partizip Präteritum witans gewiten gewusst vitat vidst vetat Als weiteres gutes Beispiel für die Entstehung eines Präteritopräsens dient im Deutschen das Verbpaar *kennen und können, um diesen historisch komplexen Prozess zu veranschaulichen:
Dabei handelt es sich bei *kennen um ein rekonstruiertes Verb mit der Bedeutung „erfahren, erlernen“, welches jedoch nicht mit dem Verb kennen des heutigen Neuhochdeutschen übereinstimmt (das seine Vergangenheit schwach, also durch Anfügen eines Dentalsuffix -t- an den Verbstamm bildet). Dennoch ist unser Verb kennen von diesem Verb abgeleitet (siehe dazu jan-Verben).
Konjugierte dieses Verb *kennen stark (wie z. B. werden – ich ward – wir wurden), so lauteten seine Vergangenheitsformen folgendermaßen:
Präsens Singular Plural Imperfekt Singular Plural 1. Person: ich kenne wir kennen 1. Person: *ich kann *wir kunnen 2. Person: du kennst ihr kennt 2. Person: *du kannst *ihr kunnt 3. Person: er kennt sie kennen 3. Person: *er kann *sie kunnen Bei näherem Betrachten wird deutlich, dass die alten Vergangenheitsformen des Verbs kennen ein neues Verb gebildet haben, nämlich das heutige können (der Lautwandel u > ö ist dabei allerdings ungesetzmäßig).
Dabei vermitteln die Vergangenheitsformen dieses Verbs, welches „erfahren, erlernen“ bedeutete, die Bedeutung des abgeschlossenen Erfahrungs- bzw. Erlernensprozesses, also „erfahren, erlernt haben“ – und werden dadurch präsentisch (gegenwärtig), denn was man erfahren oder erlernt hat, das „kann“ man fortan.
Die beiden Tempusparadigmen des Verbs (das Präsens und das Präteritum) werden infolgedessen immer mehr als zwei voneinander getrennte Lexeme wahrgenommen; deshalb wurde es notwendig, dass können als eigenes Verb lexikalisiert wurde und eine eigene (und zwar schwache) Vergangenheit bildete: können – ich konnte.
Die Geschichte des Verbs „wollen“ ist komplizierter, da es auf einen indoeuropäischen Optativ zurückgeht, aber das Resultat in den modernen germanischen Sprachen folgt demselben Prinzip wie die Präteritopräsentia.
Inhaltsverzeichnis
Präteritopräsentia im Urgermanischen
Die für das Urgermanische nachgewiesenen Verben:
Infinitiv Bedeutung Klasse Präsens Präteritum *witana wissen I wait wissa *lisana wissen I lais lissa *aigana haben, besitzen I aig aihta *dugana nützen II daug duhta *unnana gewähren III ann unþa *kunnana wissen (wie man etwas tut), später können III kann kunþa *þurbana brauchen III þarb þurfta *dursana wagen III dars dursta *skulana müssen, später sollen IV skal skulda *munana denken IV man munda *gamunana erinnern IV gaman gamunda *binugana V binag binuhta *ganugana genügen V ganag ganuhta *magana können, später mögen VI mag mahta *ōgana fürchten VI ōg ōhta *mōtana mögen, später müssen VI mōt mōsta *gamōtana Platz haben VI gamōt gamōsta Präteritopräsentia im Deutschen
Althochdeutsch
Art des Verbes Form Bedeutung starkes Verb Präteritum: reit – ritun Präteritum: ritt – ritten Präteritopräsentia Präteritum: weiz – wizzun Präsens: weiß – wissen Die Präteritumsform weiz hat ursprünglich „ich habe gesehen, ich sah“ entsprochen. Sie bezeichnete also ein Geschehen, welches zum Zeitpunkt des Sprechens abgeschlossen ist, dessen Resultat jedoch direkt auf die Gegenwart Einfluss hat. Dies ergibt für die Präteritumsform die Präsensbedeutung „mir ist bekannt, ich kenne, ich weiß“, da das Ergebnis bzw. die Erkenntnis als noch immer andauernd bezeichnet werden kann.
In althochdeutscher Zeit hatten diese Verben nur mehr eine präsentische Bedeutung.
Das Präteritum dieser Verbenklasse wird schwach durch Anhängen eines Suffixes gebildet.
Präteritopräsentia zeigen Ablaut und Flexion eines ablautenden Präteritums, weswegen sie den entsprechenden Ablautreihen zugeordnet werden.
Anmerkung: Leere Zellen lassen auf nicht mehr vorhandene Formen schließen.
Ablautreihe Präs. Ind. 1.,3. Sg. Präs. Ind. 2. Sg. Präs. Ind. 1.,3. Pl. Infinitiv Prät. Ind. Bedeutung I weiz weist wizzun wizzan wissa wissen, erkennen I eigun haben, besitzen II toug tugun tohta taugen III an unnun unnan onda gönnen III kann kanst kunnun kunnan konda kennen, können III darf darft durfun durfan dorfta bedürfen, brauchen III gitar gitarst giturrun gitorsta wagen IV scal scalt sculun sculan scolta sollen, müssen IV ginah im Überfluss haben V mag maht magun, mugun magan, mugan mahta, mohta vermögen, können VI muoz muost muozun muosa gönnen Mittelhochdeutsch
Ablautreihe Präs. Ind. 1.,3. Sg. Präs. Ind. 2. Sg. Präs. Ind. 1.,3. Pl. Inf. Part. Präs. Prät. Ind. Part. Prät. I weiz weist wizzen wizzende wisse, wesse, wiste, weste, wuste gewissen (fast nur adjektivisch), gewist, gewest, gewust I eigen eigen (ist aber schon Adjektiv) II touc tugen, tügen tugende tohte III gan (< ge-an) ganst gunnen, günnen gunde gegunnen, gegunnet (, gegunst) III kan kanst kunnen, künnen konde III darf darft durfen, dürfen dorfte (bedorft) III tar tarst turren, türren torste IV sol, sal (, schol, schal) solt, salt soln, suln, süln solte, solde V mac maht magen, megen, mugun, mügen megende, mügende mahte, mohte VI muoz muost muozen, müezen muose, muoste Anmerkungen:
- zu tuoc: die Umwandlung zum schwachen Verbum tougen beginnt schon im 13. Jahrhundert
Neuhochdeutsch
Die meisten Grundverben der heutigen Präteritopräsentia des Deutschen sind ausgestorben; dagegen sind von ihnen sechs abgeleitete Präteritopräsentia in der neuhochdeutschen Sprache erhalten: dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wissen. Ihre Kennzeichen, die sie von anderen Verben unterscheiden, sind folgende:
- Vokalwechsel von Singular zu Plural im Präsens Indikativ
- fehlende Endung -t in der 3. Person Singular im Präsens Indikativ
- Dentalsuffix -t- und sogenannter Rückumlaut im Imperfekt Indikativ
- zwei Möglichkeiten der Partizip II-Bildung: schwach (gekonnt) bei Gebrauch als Vollverb oder stark (können) bei Gebrauch als Modalverb
Die meisten dieser Merkmale teilen sie sich mit dem Modalverb wollen; allerdings ist dieses historisch betrachtet kein Präteritopräsentium – es ist eine Optativform (Wunschform) –, obwohl es sich heute weitgehend so verhält. Dagegen hat sollen als einziges Präteritopräsentium im Deutschen keinen Vokalwechsel. Außer wissen dienen alle Präteritopräsentia im Deutschen als Modalverben.
Möglichkeit des Entstehens neuer Präteritopräsentia
Es ist möglich, dass auch in der neuhochdeutschen Sprache neue Präteritopräsentia entstehen. Bei einem Verb ist die Neubildung in vollem Gange, wenn auch nicht die Indikativ- sondern die Konjunktivform des Imperfekts zur Bildung einer neuen Präsensform herausgebildet wird:
- So wird die Verbform ich möchte von vielen deutschen Muttersprachlern nicht mehr als Konjunktiv-Imperfekt-Form, sondern als Indikativ-Präsens-Form angesehen. So könnte in nicht allzu ferner Zukunft ein neues Verb *möchten entstehen, zu dem dann neue Konjugationsformen gebildet würden.
Präteritopräsentia im Englischen
Altenglisch
Im Altenglischen gibt es folgende Präteritopräsentia, die nicht in allen Formen dokumentiert sind .
Konjugation Pronomen können, etwas beherrschen (heute "can, could") können, die Möglichkeit haben etwas zu tun (heute "may, might") sollen (heute "shall, should") wissen haben, schuldig sein (heute "to owe") nützen wagen (heute "to dare") sich erinnern brauchen müssen (heute "must") Infinitiv cunnan magan sculan witan āgan dugan durran munan mōtan Präsens Indikativ ic cann mæg sceal wāt āh deah dearr man þearf mōt þū canst meaht scealt wāst āhst dearst manst þearft mōst hē/hit/hēo cann mæg sceal wāt āh deah dearr man þearf mōt wē/gē/hīe cunnon magon sculon witon āgon dugon durron munon þurfon mōton Präteritum Indikativ ic cūðe meahte sceolde wisse, wiste āhte dohte dorst munde þorfte mōste þū cūðest meahtest sceoldest wissest, wistest āhte dohte dorst munde þorfte mōste hē/hit/hēo cūðe meahte sceolde wisse, wiste āhte dohte dorst munde þorfte mōste wē/gē/hīe cūðon meahton sceoldon wisson, wiston Präsens Konjunktiv ic/þū/hē/hit/hēo cunne mæge scule wite āge dyge, duge durre myne, mune þyrfe, þurfe mōte wē/gē/hīe cunnen mægen sculen witaþ Präteritum Konjunktiv ic/þū/hē/hit/hēo cūðe meahte sceolde wisse, wiste wē/gē/hīe cūðen meahten sceolden Anmerkung:
- Ebenso wie cunnan wird geunnan "erlauben" konjugiert.
Modernes Englisch
Im modernen Englisch erkennt man die Prätertopräsentia am Fehlen des -s Suffixes in der 3. Pers. Sg. Präs., bspw. „he can“ (er kann) im Vergleich zu „he sings“ (er singt, Prät. „he sang“); das Präsensparadigma von „can“ ist folglich identisch mit den Formen des Präteritums starker Verben. Außerdem ist es nicht möglich, infinite Verbformen zu Präteritopräsentia zu bilden, z.B. Infinitiv *to can, Partizip/Gerund *canning.
Siehe auch
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