RGVE

RGVE

Die Raufutter verzehrende Großvieheinheit (RGV oder RGVE) ist eine Größeneinheit, die in der Land- und Forstwirtschaft und allgemein für ökologische Berechnungen verwendet wird. Sie ermöglicht es, Tiere verschiedener Arten und Altersklassen zusammenzurechnen.

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Anwendung

Begriffserklärungen

Großvieheinheit

Die Raufutter verzehrende Großvieheinheit wird von dem allgemeineren Begriff „Großvieheinheit“ (GV oder GVE, siehe Viehbesatz) abgeleitet. Eine Großvieheinheit entspricht einem Lebendgewicht von 500 Kilogramm (in der Landwirtschaft: bei ganzjährigem Aufenthalt der Tiere im Betrieb.)

Beispiel Kuh:
Eine Holsteiner Milchkuh wiegt etwa 750 Kilogramm. Bezogen auf 500 Kilogramm entspricht das also 1,5 GV.

Um die Tiere nicht ständig wiegen zu müssen, geht man bei der Berechnung ihres Gewichts von Erfahrungswerten für die einzelnen Arten, Rassen und Altersklassen aus.

Raufutter verzehrende Großvieheinheit

Großvieheinheiten werden nach der Hinsicht unterschieden, ob und in welchen Anteilen die betreffenden Tiere Raufutter fressen. Unter Raufutter versteht man im weiteren Sinne alles pflanzliche Futter, das relativ rohfaserreich und energiearm ist, z. B. Gras, Heu und Stroh. Kein Raufutter sind zum Beispiel die energiereichen Früchte der Pflanzen: Getreidekörner, Obst, Hülsenfrüchte u. a.

Die Tiere, die überhaupt Raufutter fressen (alle Wiederkäuer, Pferde und einige andere), unterscheiden sich wiederum darin, welchen Anteil das Raufutter insgesamt in ihrer Nahrung einnimmt. So weiden Rinder fast nur Raufutter, während Rehe überwiegend energiedichtere Pflanzenarten und -teile auswählen. Eine Mittelstellung nehmen Rothirsche oder Pferde ein.

Aus diesem unterschiedlichen Ernährungsverhalten ergibt sich die Differenzierung der Großvieheinheiten in Raufutter verzehrende Großvieheinheiten. Dazu wird die Großvieheinheit mit einem Umrechnungsfaktor für die jeweilige Tierart und Altersklasse multipliziert.

Beispiel Milchkuh:

Eine Milchkuh entspricht 1,5 GV. Der Umrechnungsfaktor für erwachsene Rinder ist 1. Also entspricht eine Milchkuh auch 1,5 RGV.

Beispiel Schaf:

Ein Schaf entspricht 0,1 GV. Als Umrechnungsfaktor kann(!) man 0,7 anwenden. Daraus ergibt sich ein Wert von 0,07 RGV.

Beispiel Lamm:

Ein Lamm im ersten Monat entspricht 0,04 GV. Da das Lamm kein Raufutter frisst, sondern Milch säuft, ist der Umrechnungsfaktor 0. Ein Lamm entspricht also 0 RGV.

Wortfeld

Bedeutungsgleich zur terminologisch etablierten[1] Raufutter verzehrenden Großvieheinheit werden auch die Formen Raufutter fressende Großvieheinheit und Raufutter-Großvieheinheit verwendet. Speziell bei Rindvieh spricht man auch von Rinder-Großvieheinheit (RiGV, RiGVE), bei Dam- und Rotwild in Gattern von Produktionseinheit Damwild (PED) und Produktionseinheit Rotwild (PER).

Der Begriff findet sich auch in anderen Sprachen, z. B: unité de gros bétail-fourrages grossiers (UGBFG), grazing livestock unit (GLU), grazing livestock equivalent (GLE) grazing animal equivalent (GAE) u. a.

In der DDR benutzte man für futterwirtschaftliche Berechnungen den Begriff grobfutterverzehrende Großvieheinheit (RGV [sic!]), der sich nicht von der Großvieheinheit ableitet, sondern von der futterbedarfsbezogenen Großvieheinheit (fGV).[2]

In den Tropen und Subtropen gilt als Basiseinheit die tropical livestock unit (TLU), die sich auf ein Lebendgewicht von 250 kg bezieht.[3] Vermutlich existiert also die Bezeichnung grazing tropical livestock unit.[4]

Beziehungen zwischen GV und RGV

Für verschiedene Zwecke und Ansprüche werden unterschiedliche Umrechnungsschlüssel zwischen Großvieheinheiten und Raufutter verzehrenden Großvieheinheiten benutzt. Zum Beispiel verwendet das Sächsische Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft einen einfachen GV-Schlüssel, in dem die RGV lediglich als solche markiert sind [5], während das Ministerium für Landwirtschaft des Königreiches Bhutan einen verfeinerten Schlüssel anwendet, in dem der unterschiedliche Weidedruck der Tierarten beachtet wird: Rinder, Büffel und Maultiere werden darin mit dem Faktor 1 verrechnet, Yaks und Pferde mit 0,8, Esel mit 0,4, Schafe und Ziegen mit 0,16. [6]

Ein in Deutschland verbreiteter Umrechnungsschlüssel zur Futterbedarfsermittlung geht von folgenden Faktoren aus: 1 GV Rind = 1,0 RGV, 1 GV Schaf, Ziege = 0,7 RGV, 1 GV Pferd = 0,5 RGV, 1 GV Zuchtschwein = 0,2 RGV, 1 GV sonstiges Schwein = 0,1 RGV.[7]

Es ist auch üblich, Schweine überhaupt nicht in RGV zu messen, sondern in Schweine-Großvieheinheiten (SGV).[8]

Praktische Anwendung

Im Zuge der Verwissenschaftlichung und Ökonomisierung der Landwirtschaft wurde schon im 19. Jahrhundert mit Großvieheinheiten zu 500 kg (bzw. 1000 Pfund) gerechnet.[9] Zudem wurden auch schon die Raufutterfresser gesondert betrachtet und ihre Haltung der Größe der Futterflächen angepasst.[10]

Während jedoch in vergangenen Epochen immer eine Ertragssteigerung beabsichtigt war (mehr Futter und Vieh auf gleicher Fläche), werden heute, zumindest in Europa, auch Ziele der Extensivierung verfolgt und finanziell gefördert. Eine Kennzahl für die Intensität der Grünlandbewirtschaftung ist das Verhältnis der Raufutter verzehrenden Großvieheinheiten zu einem Hektar Hauptfutterfläche (HFF). Die Eckwerte für staatliche Fördermittel sind oft 0,3 RGV/ha HFF und 1,4 RGV/ha HFF.[11] Der höhere Wert soll die extensive Grünlandwirtschaft von intensiveren Wirtschaftsformen abgrenzen. Der untere Wert ist auch außerhalb der Landwirtschaft von Bedeutung.

Nach verschiedenen ökologischen Theorien, z. B. der Megaherbivorentheorie und dem Mosaik-Zyklus-Konzept, geht man davon aus, dass ein Besatz ab etwa 0,3 RGV/ha eine vollständige dichte Bewaldung verhindert. In der Forstwirtschaft wird also eine Wilddichte von unter 0,3 RGV/ha angestrebt, um die Verbiss-Schäden im Wald gering zu halten, und in der Landwirtschaft ein Viehbestand von mehr als 0,3 RGV/ha, damit die Wiesen und Weiden nicht verbuschen.

Die Raufutter verzehrende Großvieheinheit als modernes Ammenmärchen

Der sperrige Fachausdruck Raufutter verzehrende Großvieheinheit erlangte auch außerhalb der Fachkommunikation eine bislang ungebrochene Popularität als vermeintliches Beispiel für Amtsdeutsch und speziell für DDR-Deutsch. Obwohl Bauern sich selten in Amtsstuben unterhalten und die Benutzung des Begriffs nachweislich nicht auf die DDR beschränkt war, finden sich immer wieder Journalisten und Germanisten, die ihr Missverständnis, die Raufutter verzehrende Großvieheinheit sei ein Synonym zu Kuh, als mittlerweile modernes Ammenmärchen verbreiten.

Dieses Phänomen beschrieb der Philologe und einflussreiche Sprachkritiker Horst Dieter Schlosser im Vorwort seines Werkes Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie so:

"Ob es nun die rauhfutterverzehrende Großvieheinheit war, die in der DDR angeblich das alte deutsche Rindvieh verdrängt haben sollte, oder die Bezeichnung Erdmöbel, die an die Stelle von Sarg getreten wäre – die Sprache 'der' DDR war für manche Journalisten ein beliebtes Thema, mit dem sie einer eigenen Nachprüfung kaum fähigen Leserschaft so gut wie alles bieten zu können glaubten."[12]

Nicht nur unter Journalisten, auch im mit der politischen Volksbildung verquickten Wissenschaftsbetrieb war und ist DDR-Deutsch ein beliebtes und staatliche Fördermittel versprechendes Thema. Als Beispiel sei das von manchen als wissenschaftliches Standardwerk angesehene Wörterbuch Sprache in der DDR von Birgit Wolf zitiert:

"rauhfutterverzehrende Großvieheinheit
Kurzf.: RVE Wortverbindung, die nichts weiter als 'Kuh' bedeutete und die ein hervorragendes Beispiel für sprachliche Entgleisungen der DDR-Bürokratie abgab. Allerdings drang sie nie in die Allgemeinsprache ein, sondern fristete nur in offiziellen Statistiken ihr Dasein. Eine Großvieheinheit entsprach 5000 kg Lebendmasse, d. h. die Nutztiere wurden nicht zahlen- sondern gewichtsmäßig erfaßt."[13] (Auch in der DDR entsprach eine GV natürlich nicht 5000 kg, sondern 500 kg Lebendmasse - wie bereits ein Jahrhundert zuvor.)

In einer gemäßigten Variante wird das Ammenmärchen weitergetragen von Sprachwissenschaftlern, die zwar wissen, dass der Gebrauch des Fachbegriffs nicht auf die DDR beschränkt war, den Terminus jedoch für ein abzulehnendes Synonym zu Kuh missverstehen. Zum Beispiel stellt Franz Planatscher den Ausdruck 1986 in Der Sprachdienst als Neologismus so vor:

"[...] oder es können neue Zusammensetzungen sein, z. B. die "rauhfutterverzehrende Großvieheinheit" (EG-Deutsch). Wie schlicht, wie einfach ist dagegen unsere gute alte Kuh (nur drei Buchstaben!)."[14]

Literatur

Hans Herrmann, Ulrich Meyer-Ötting u. a.: Grundstufe Agrarwirtschaft : Fachtheorie für Boden, Pflanze, Tier, Biologie, Chemie, Physik, Ökologie, Ökonomie, Technik, Betriebslehre, Buchführung, kaufmännische Grundlagen. Neuausg. Auflage. BLV-Verl.-Ges., München 1998, ISBN 3405150922, S. 407 f.. 

Verband der Landwirtschaftsberater in Bayern (Hrsg.): Wirtschaftslehre : Volkswirtschaft, Agrarpolitik, Marktlehre, Umweltschutz, Agrarrecht, Buchführung, Steuer und Soziales, Hauswirtschaft, Betriebslehre. In: Die Landwirtschaft : Lehrbuch für Landwirtschaftsschulen. 10., völlig neubearb. Auflage. Bd. 4, BLV-Verl.-Ges., München 1993, ISBN 3405142822, S. 506. 

Ekkehard Wiesner, Regine Ribbeck (Hrsg.): Wörterbuch der Veterinärmedizin. 2., neubearb. Auflage. A-K, Fischer, Jena 1983 (Lemmata Großvieheinheit; Großvieheinheit, grobfutterverzehrende (RGV); Großvieheinheit, rauhfutterverzehrende (RGV)). 

Einzelnachweise

  1. Nicht verbindlich, aber maßgebend ist dafür die Interaktive Terminologie-Datenbank für die Institutionen der Europäischen Union (IATE).
  2. Für detaillierte Erläuterungen siehe:
    Ekkehard Wiesner, Regine Ribbeck (Hrsg.): Wörterbuch der Veterinärmedizin. 2., neubearb. Auflage. A-K, Fischer, Jena 1983 (Lemmata Energetische Futtereinheit (EF); Großvieheinheit; Großvieheinheit, grobfutterverzehrende (RGV); Großvieheinheit, rauhfutterverzehrende (RGV)). 
  3. Keya Choudhury, Louisa J. M. Jansen: Terminology for Integrated Resources Planning and Management. FAO, Rom 1998 (ftp://ftp.fao.org/agl/agll/docs/landglos.pdf). 
  4. Beleg fehlt.
  5. Sächsisches Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft (Hrsg.): Programm Umweltgerechte Landwirtschaft. (http://www.smul.sachsen.de/de/wu/landwirtschaft/agrarumweltmassnahmen/downloads/Reg08_Anh07_2002_09.pdf ; Stand: 2008-01-20). 
  6. [Ministerium für Landwirtschaft des Königreiches Bhutan] (Hrsg.): Renewable Natural Resources Development Indicators for 10th Five-year Plan Preparations. (http://www.moa.gov.bt/moa/downloads/downloads/Indicators%20for10th%20FYP-070806.pdf ; Stand: 2008-01-19). 
  7. Zum Beispiel in:
    Ekkehard Wiesner, Regine Ribbeck (Hrsg.): Wörterbuch der Veterinärmedizin. 2., neubearb. Auflage. A-K, Fischer, Jena 1983 (Lemma Großvieheinheit, rauhfutterverzehrende (RGV)). 
    Gerhard Niese u. a.; Josef Enzmann, Brigitte Krumbiegel ; Ingeborg Zerling (Hrsg.): Kleine Enzyklopädie Land, Forst, Garten. Verlag Enzyklopädie, Bibliographisches Institut, Leipzig 1959, S. 841. 
  8. Verband der Landwirtschaftsberater in Bayern (Hrsg.): Wirtschaftslehre : Volkswirtschaft, Agrarpolitik, Marktlehre, Umweltschutz, Agrarrecht, Buchführung, Steuer und Soziales, Hauswirtschaft, Betriebslehre. In: Die Landwirtschaft : Lehrbuch für Landwirtschaftsschulen. 10., völlig neubearb. Auflage. Bd. 4, BLV-Verl.-Ges., München 1993, ISBN 3405142822, S. 506. 
  9. Der Begriff der Großvieheinheit findet sich z. B. in:
    Wilhelm Knop: Der Kreislauf des Stoffs. Lehrbuch der Agrikultur-Chemie. Haessel, Leipzig 1868, S. 894. 
  10. Für eine konkrete Berechnung siehe z. B:
    Johann Adam Schlipf: Schlipfs populäres Handbuch der Landwirtschaft. 20. neubearb. Auflage. Parey, Berlin 1918, S. 563f.. 
  11. Die meisten Bundesländer haben eigene Förderrichtlinien erlassen. Sie beruhen auf der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 zum Europäischen Landwirtschaftsfonds (ELER).
  12. Horst Dieter Schlosser: Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie : historische, politische und kommunikative Bedingungen. 2. Auflage. Verl. Wiss. und Politik, Köln 1999, ISBN 3804688616, S. 9 (mit einem aktualisierenden Nachw. vers.). 
  13. Birgit Wolf: Sprache in der DDR : ein Wörterbuch. de Gruyter, Berlin, New York 2000, ISBN 3110164272 (Lemma rauhfutterverzehrende Großvieheinheit). 
  14. Franz Planatscher: Die Dokumentation zur deutschen Gegenwartssprache. In: Der Sprachdienst. Nr. 30, Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden 1986, ISSN 0038-8459, S. 74. 

Siehe auch


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