Recht auf Widerstand

Recht auf Widerstand

Unter dem Widerstandsrecht wird allgemein ein naturrechtlich bzw. durch ein positives Gesetz statuiertes Recht jedes Menschen verstanden, sich unter bestimmten Bedingungen gegen staatliche Gesetze auflehnen zu dürfen bzw. ihnen den Gehorsam zu verweigern. Die Existenz eines überpositiven, naturrechtlich begründeten Widerstandsrechts wurde und wird – teilweise auch in falscher Gleichsetzung mit dem zivilen Ungehorsam – in der politischen Philosophie, der Rechtsphilosophie und der Staatstheorie kontrovers diskutiert. In Deutschland garantiert Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) das Recht eines jeden Deutschen, gegen jedermann Widerstand zu leisten, der es unternimmt, die in Art. 20 GG niedergelegte Staatsordnung (Föderalismusprinzip, Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip, Gewaltenteilung, Gesetzesbindung der drei Gewalten, Republikprinzip, Freiheitlich Demokratische Grundordnung) zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Allgemein zum Widerstand: → Hauptartikel Widerstand (Politik)

Inhaltsverzeichnis

Rechtliche Einordnung im Hinblick auf die Situation in Deutschland

Das Widerstandsrecht umfasst sowohl passiven Widerstand durch Gehorsamsverweigerung als auch aktiven Widerstand durch Gewalt, steht aber unter absolutem Subsidiaritätsvorbehalt durch die im gleichen Satz genannte Voraussetzung, dass andere Abhilfe nicht möglich ist.

Mit diesem Recht soll verhindert werden, dass eine Machtübernahme durch nichtdemokratische Handlungen der Exekutiven oder Legislativen (insbesondere die Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls) das politische System in Deutschland gleichsam aushebelt und es damit zu einer Diktatur kommen kann, bei der eine wirkliche Kontrolle der ausführenden Organe durch das Volk nicht mehr gegeben ist. Das Widerstandsrecht greift nur, wenn die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG niedergelegten Grundsätze, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die durch Art. 79 Abs. 3 GG der Verfassungsänderung entzogenen Grundsätze eindeutig angegriffen werden und alle anderen legalen Möglichkeiten ausgeschöpft sind (Subsidiarität, ultima ratio). Nach Meinung einiger Staatsrechtler sind Anschläge und Morde (z. B. Tyrannenmord) in diesem Fall legitim, um die grundgesetzliche Ordnung wiederherzustellen.

Das Widerstandsrecht steht in einem bewussten Antagonismus zum Grundsatz des staatlichen Gewaltmonopols. Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG ist eine Positivierung (= Fassung in geschriebenes Recht) des ansonsten überpositiven (ungeschriebenen, über dem geschriebenen Recht stehenden) Rechtsgedankens, dass staatliche Organe durchaus rechtswidrig handeln können, selbst wenn sie durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes handeln: Auch geschriebenes Recht kann Unrecht sein; diese Erfahrung ist in Deutschland direkt aus der Zeit der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 erwachsen und steht am Ende einer langen historischen Entwicklung, die auf absolutistischem oder rechtspositivistischem Hintergrund davon ausging, dass staatliches Handeln nie Unrecht sein könne: "The King can do no wrong".

Das Widerstandsrecht liefert strafrechtlich einen Rechtfertigungsgrund, durch den tatbestandlich verwirklichte, an sich rechtswidrige Taten gerechtfertigt werden, so dass keine Bestrafung erfolgt.

Rechtsphilosophische Entwicklung und Einordnung

Einleitung

Die rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit diesem Gedanken wird seit der Antike betrieben und hatte zunächst seinen Ausgangspunkt in dem Streit um die Legitimation des Tyrannenmordes. Von da an wurde die Diskussion zusehends abstrahiert und es entwickelte sich der abstrakte Gedanke eines allgemeinen übergesetzlichen Widerstandsrechts.

Ein wesentliche Rolle spielte dabei die Auseinandersetzung mit der Legitimation geschriebenen Rechts und die Frage nach einem allgemeinen übergesetzlichen Prinzip, dem sich alles geschriebene Recht unterzuordnen habe. In der Antike erhoben die Sophisten bereits den Einwand, geschriebenes Gesetz sei nur Ausgeburt der Macht und könne für sich gesehen keine Legitimation beanspruchen, nur weil es eben geschrieben stehe. Demgegenüber bildete sich der Rechtspositivismus heraus, der seinerseits die Legitimation von Gesetzen rein in ihrer Positivierung begriff und Legitimation auch nur aus geschriebenem Recht herleiten wollte.

Auf der Suche nach einem allgemeinen übergesetzlichen Rechtsprinzip prägte Aristoteles den Begriff des Höchsten Guts, von anderen (z.B. der Stoa) wurde das Naturrecht als Legitimationsquelle bemüht, auch das göttliche Recht (jus divina) wurde herangezogen.

Das Postulat eines allgemeinen Widerstandsrechts ist eine Folge dieser Erkenntnisse: Geschriebenes Recht und Gesetz muss sich an der Freiheit (die nicht als bloße Abwesenheit von Zwang verstanden werden will) messen lassen können. Wer also die Freiheit beseitigen will, beseitigt den allgemeinen Maßstab, nach dem nur Recht recht(ens) sein kann (dieses Wortspiel ist in der Tat in der Rechtsphilosophie immer wieder bei der Frage "qui sit iuris" gespielt worden). Im deutschen Verfassungsrecht wird diese Freiheit als Freiheitlich Demokratische Grundordnung beschrieben und fußt ihrerseits nach dem Grundgesetz auf den in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten, eingangs genannten Grundsätzen. So steht also jedem Deutschen - das Widerstandsrecht ist eben nicht als Menschenrecht konzipiert, sondern als Bürgerrecht - das Recht zu, Widerstand in den genannten Formen zu leisten, wenn diese Grundsätze beseitigt werden sollen und andere Abhilfe nicht möglich ist.

Von der Herleitung denkbar verschieden, aber im Ergebnis gleich hat es auch andere philosophische Ansätze gegeben. Montesquieu formulierte das 1721 in den Persischen Briefen so: Wenn ein Fürst, weit davon entfernt, seine Untertanen glücklich leben zu lassen, sie unterdrücken und vernichten will, so endet die Grundlage des Gehorsams; nichts bindet sie mehr, nichts knüpft sie mehr an ihn; und sie kehren wieder in ihre natürliche Freiheit zurück. 1776 wird in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Loslösung von der britischen Krone mit dem Widerstandsrecht begründet.

Das Widerstandsrecht in der philosophischen Diskussion der frühen Neuzeit

Immanuel Kant und das Widerstandsrecht

Immanuel Kant lehnt in seinen veröffentlichten Werken ein Widerstandsrecht des Volkes und des einzelnen – auch gegen evident ungerechte Gesetze – ab. Er beschäftigt sich vor allem in zwei Veröffentlichungen explizit mit der Problematik des Widerstandsrechts: In der Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793) und in seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk Die Metaphysik der Sitten (1797). Kant begründet seine Ablehnung des Widerstandsrechts mit Hilfe von drei Argumenten: Dem logischen Argument, dem Rückfallargument und dem Glückseligkeitsargument.[1] Das Glückseligkeitsargument benutzt Kant lediglich im Gemeinspruch, geht jedoch im vier Jahre später erschienenen rechtsphilosophischen Hauptwerk Die Metaphysik der Sitten nicht mehr darauf ein. Kant wirft Widerständlern in diesem Zusammenhang vor, die eigene Glückseligkeit auf Kosten der obersten Maximen eine Staates durchsetzen zu wollen. Während die eigene Glückseligkeit, auf die es die Widerständler stets abgesehen hätten, lediglich einen sehr unsicheren Maßstab biete – der sich im Lauf der Zeiten ändern könne – entspringe jede Rechtsnorm der reinen Vernunft und sei bereits aus diesem Grunde uneinschränkbar.[2] Von zentraler Bedeutung ist das logische Argument: Die Staatsmacht sei nicht teilbar. Indem jeder, der im Namen eines Widerstandsrechts auftrete, sich die Stellung des Souveräns anmaße, entstehe ein logischer Widerspruch zum wirklichen Souverän.

Denn um zu demselben [Anm.: dem Widerstand] befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches den Widerstand des Volkes erlaubte, d.h. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein [...]; welches sich widerspricht.[3]

Das Rückfallargument begründet Kant mit dem unabdingten Vorrang eines „Rechtszustandes unter öffentlichen Gesetzen" vor dem „Naturzustand“. Jeder Widerstand bedeutet nach Kant einen Schritt zurück in Richtung Naturzustand. Lediglich in einem gesicherten rechtlichen Zustand könne jedem Menschen das Seine verlässlich zugeteilt werden.[4] Daher gilt Kant zufolge jedes positive Gesetz als heilig und darf nicht angezweifelt werden. Man müsse es (das Gesetz) so betrachten, als habe nicht irgendein Gesetzgeber, sondern Gott selbst das Gesetz erlassen.[5] Erlaubt ist Kant zufolge lediglich eine Form des Widerstandes, nämlich „der Gebrauch der Feder“, d.h. die Freiheit, seinen Gedanken über die Gesetzgebung öffentlich Ausdruck verleihen zu dürfen.[6]. Jedoch lässt er auch diese Form des Widerstands nur eingeschränkt gelten. Insbesondere gestattet er den Bürgern nur solche Formen der Kritik, die sich noch im Rahmen der geltenden Ordnung halten.[7]

Denn darin besteht eben das Ansehen der Regierung, daß sie den Untertanen nicht die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt über Recht und Unrecht zu urteilen.[8]

Kant verwirft die Vorstellung eines Widerstandsrechtes gegen staatliche Normen kategorisch: Er erkennt weder im Hinblick auf ungerechte Gesetze, noch aus sonstigen Gründen Ausnahmen an. Jede Rechtsordnung – und sei sie auch aus nackter Gewalt entstanden – verdiene unabhängig von ihren Inhalten den unbedingten Vorrang vor jeder Form des Naturzustandes.[9] Diese Rigorosität unterscheidet Kant von Hobbes. Hobbes zufolge schulden die Staatsbürger dem Souverän gegenüber nur so lange Gehorsam, wie dieser in der Lage ist, ihnen ein Mindestmaß an Sicherheit zu garantieren. Bereits unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung der „Metaphysik der Sitten“ hatte der Rezensent Friedrich Bouterwek Kant vorgeworfen, eine paradoxe Position zu vertreten. Kant fordere von seinen Lesern, den

paradoxesten aller paradoxen Sätze [anzuerkennen], den Satz, daß die bloße Idee der Oberherrschaft mich nötigen soll, jedem, der sich zu meinem Herrn aufwirft, als meinem Herrn zu gehorchen, ohne zu fragen, wer ihm das Recht gebe, mir zu befehlen.[10]

In der Sekundärliteratur wird Kants kategorische Ablehnung des Widerstandsrechts daher überwiegend als problematisch angesehen. Kritisiert wird vor allem, dass Kants diesbezügliche Konzeption nicht mit seinem kategorischen Imperativ und seiner aus diesem entspringenden Begründung des allgemeinen Menschenrechts auf Freiheit übereinstimme.[11]Aus diesem Grunde ist immer wieder versucht worden, Kants Position als inkonsistent darzustellen und zu zeigen, dass die Anerkennung des Rechts auf Widerstand – entgegen Kants ausdrücklich vertretener Position – mit seinem übrigen philosophischen System vereinbar sei.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Karl Friedrich Bertram: Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes . 1970, ISBN 3-428-01800-1
  • Karl Friedrich Bertram: Widerstand und Revolution. Ein Beitrag zur Unterscheidung der Tatbestände und ihrer Rechtsfolgen. 1964, ISBN 3-428-00109-5
  • Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage, Heidelberg 1999, ISBN 3-8114-7499-5, Rn 757ff.
  • Arthur Kaufmann: Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. 1991, ISBN 3-8226-1391-6
  • Bodo Missling: Widerstand und Menschenrechte. Das völkerrechtlich begründete Individualwiderstandsrecht gegen Menschenrechtsverletzungen. 1999, ISBN 3-932694-64-3
  • Klaus Peters: Widerstandsrecht und humanitäre Intervention. Köln u. a. 2005, ISBN 3-452-26066-6
  • Klaus Roth, Bernd Ladwig: Recht auf Widerstand? Ideengeschichtliche und philosophische Perspektiven. (= Studien zu Grund- und Menschenrechten; 12). Universitäts-Verlag, Potsdam 2006, ISBN 978-3-937786-84-1 (Volltext)
  • Josef Spindelböck: Aktives Widerstandsrecht. Die Problematik der sittlichen Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit ungerechter staatlicher Macht. Eine problemgeschichtlich-prinzipielle Darstellung. St. Ottilien 1994, ISBN 3-88096-470-X

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, Baden-Baden 1995, S. 199
  2. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VIII, 1908, S. 273-313
  3. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372
  4. vgl. Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, Baden-Baden 1995, S. 200
  5. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372, S. 319
  6. vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372, S. 319
  7. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit – Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a.M. 1993, S. 471
  8. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VII, 1902 ff., S. 1-116, S. 25
  9. vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372, S. 318
  10. zitiert nach: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372, S. 371. Siehe auch: Bouterweks Rezension im Volltext auf den Seiten der Universität Bonn
  11. vgl. statt vieler Bernd Ludwig, Kommentar zum Staatsrecht (II), in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Reihe „Klassiker Auslegen“, Bd. 19, Berlin 1999, S. 173-194, S. 189 f.
  12. vgl. nur: Werner Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie, Berlin 1926
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