Reviktimisierung

Reviktimisierung

Viktimisierung ist ein Fachbegriff, der in der Kriminologie, der Psychologie und den Sozialwissenschaften verwendet wird. Wörtlich bedeutet er „zum Opfer machen“ (lat. victima = Opfer, daraus engl. victim). Seit den 1990er Jahren wird eine Debatte in den Medien, insbesondere über die politischen und sozialen Implikationen des Begriffs geführt.

Seine Verwendung in den Sozialwissenschaften ist nicht eindeutig. Zumeist steht das Wort in Verbindung mit struktureller Benachteiligung. Hier bezeichnet Viktimisierung den Vorgang der Zuschreibung einer Opferrolle an einzelne Mitglieder oder Gruppen der Gesellschaft zumeist durch Mitglieder dominanter gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen oder Ideologien. Der Prozess der Viktimisierung macht Menschen durch Gewalterfahrungen wie Diskriminierung, Missbrauch, Rassismus oder Krieg zum Opfer. Hierbei spielt der Effekt der erlernten Hilflosigkeit eine Rolle. Durch Etikettierung von außen oder durch die Übernahme ins Selbstbild kann aus einer Viktimisierungserfahrung eine Opferrolle, Opferstatus oder ein Opfermythos werden. Teilweise wird der Terminus auch pejorativ verwendet im Sinne der Zuschreibung an bestimmte Forscher (z. B. Pierre Bourdieu), sie würden jedes Phänomen in das Raster Opfer-Täter einordnen und einseitig Stellung zugunsten der Opfer beziehen.[1]

In der Kriminologie beschäftigt sich die Viktimologie wissenschaftlich mit den Opfern von Straftaten. Viktimisierung meint auch hier den Prozess des „Opfer werdens“ und beschreibt die Beziehung zwischen Opfer und Straftäter.

Als Viktimisierung wird auch die Benachteiligung von Opfern, die Klage gegen ihre Diskriminierung eingereicht haben, bezeichnet. Die vier Anti-Diskriminierungs-Richtlinien der EU verbieten diese diese Form der Viktimisierung (Antirassismusrichtlinie RL 2000/43/EG, Rahmenrichtlinie 2000/78/EG, Genderrichtlinie (2002) 2002/73/EG, Genderrichtline (2004) 2004/113/EG). So heißt es beispielsweise in der Einleitung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie: „(30) Die effektive Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes erfordert einen angemessenen Schutz vor Viktimisierung.“[2] In §16 des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG, auch „Antidiskriminierungsgesetz“) wird dieses Verbot weniger missverständlich als „Maßregelungsverbot“ bezeichnet.

In der Psychologie wird als sekundäre Viktimisierung das Phänomen bezeichnet, dass z. B. Opfer von Naturkatastrophen oder Abhängige illegaler Drogen für ihre eigene Lage verantwortlich gemacht werden (das zweite Beispiel ist nicht in dem Maße offensichtlich und umstrittener als das erste, wobei strittig ist, ob der Süchtige für seinen gesundheitlichen Zustand und Beschaffungskriminalität allein selbst verantwortlich ist, oder ob seitens der Legislative die ursprüngliche Schuld an der Schaffung der Voraussetzungen für die zum überwiegenden Teil nach der Prohibition aufgetretenen individuellen und sozialen Probleme, und mit der Ursache auch die Lösung des Problems, zu suchen ist).

Inhaltsverzeichnis

Rassismus und Viktimisierung

Viele rassifizierte Menschen erfahren durch die Zuschreibung einer Opferrolle eine zusätzliche Form der Unterdrückung. Dagegen wehren sich z. B. Organisationen, wie die Theorie und Praxis einer Migrantinnenselbstorganisation (MAIZ) in ihrem anti-eurozentristischen Manifest Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie: „Wir widersetzen uns jeglicher Zuschreibungspraxis, sei es in Form von Viktimisierung oder Exotisierung“. (Luzenir Caixeta (2004), s. Literatur)

Viktimisierung und Jugoslawienkonflikt

Der Philosoph Slavoj Zizek, der in Jugoslawien Kriegsopfer therapeutisch begleitete, warnte davor, dort einen ethnischen Konflikt zu sehen. Stattdessen sollten die tatsächlichen machtpolitischen Zusammenhänge wahrgenommen werden. Erst die von außen hineingelegte Interpretation, es ginge um einen rassistischen Zusammenhang, trüge dazu bei, den Konflikt zu einem „ethnischen Ding“ (Zizek) zu machen. Grund für diese Wahrnehmung sei eben auch die Viktimisierung, die hier als eine Art der Hilfe sich nur dann der Opfer annimmt, wenn sie „Opfer sind“. Sobald der Opferstatus nicht mehr hergestellt werden kann, bleibt die Unterstützung aus. Eine Unterstützung der Betroffenen findet nur deshalb statt, weil die Unterstützenden die Betroffenen in ihrer Opferrolle benötigen. Die Wahrnehmung des Konflikts auf einer rassistischen Folie ist dem Prozess der Viktimisierung also zuträglich. (Vgl. Zizek, Slavoj (1991) s. Literatur)

Viktimisierung im narzisstischen Selbstverhältnis des postmodernen Subjekts

In seinem Buch „Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!“ beschreibt Slavoj Žižek den Prozess der Viktimisierung als ein gesellschaftliches Identitätsbildungsmerkmal der Postmoderne. Das postmoderne Subjekt neigt zu einem narzisstischen Selbstverhältnis, bei dem es sich gern in einer selbstgewählten Opferrolle darstellt. (Žižek, 1991 s. Literatur)

Max Horkheimer spricht von der pathischen Projektion.

Viktimisierung im Umgang mit der Vergangenheit

Ähnlich beschreibt der Kultursoziologe Jonas Pfau das Verhältnis vieler Deutsche in ihrem Umgang mit der Vergangenheit: „Die Täter machten sich zu Opfern. Teil dieser Viktimisierung war die gemeinsam entwickelte und individuell realisierte Schuldabwehr bezüglich der nationalsozialistischen Vernichtungsrealität. Die Strategien dafür reichten von Ignorieren über Verleugnen zur Universalisierung der Shoah.“ (Pfau, Jonas (2004) s. Literatur)

Das Buch „Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird.“ des Autor Norman G. Finkelstein führte in den deutschen Medien zu Reaktionen, die mit der Walser-Debatte von 1998–1999 vergleichbar sind. Die Debatte zeigte, dass die Viktimisierung von Juden wie auch die Kritik an der Viktimisierung jeweils mit Erinnerungsabwehr und antisemitischen Vorstellungen verbunden werden können: Er verleiht der bei Antisemiten beliebten These akademische Weihen, nach der jüdische Eliten verdächtigt werden, mit der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden ein Geschäft und pro-israelische Politik zu machen.[3]

Literatur

Allgemein

  • Slavoj Zizek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Institut für Neue Medien an der Städelschule. Frankfurt/M. 1991.
  • Pascal Bruckner: Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne. Aufbau, Berlin 1997.
  • Jonas Pfau: Die Viktimisierung der Deutschen. In: Phase 2. 10/2004
  • Luzenir Caixeta: Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie Oder: Wie die Mehrheitsgesellschaft feministische Migrantinnen schlucken ›muss‹. In: Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag, Münster 2004, ISBN 3-89771-425-6.
  • Mona Chollet: Wem Gerechtigkeit peinlich ist. Über das reaktionäre Gerede vermeintlich aufgeklärter Geister. In: Le Monde diplomatique. (deutsche Ausgabe), Okt. 2007, S. 22f (Aus d. Franz. von Michael Adrian)

Kriminalprävention

  • Dieter Hermann, Dieter Dölling: Kriminalprävention und Wertorientierungen in komplexen Gesellschaften. Analysen zum Einfluss von Werten, Lebensstilen und Milieus auf Delinquenz, Viktimisierung und Kriminalitätsfrucht. Weisser Ring, Mainz 2001.

Weblinks

  • HonProf. Dr. Udo Jesionek, Präsident des Weissen Ringes Österreich zur „sekundären Viktimisierung“ [2]

Quellen

  1. in diesem Sinne beispielsweise Guillaume Erner: La société des victimes. Paris 2006, (d. h. Die Gesellschaft der Opfer)
  2. Richtlinie 2000/78/EG
  3. Martin Dietzsch, Alfred Schobert: Ein „jüdischer David Irving“? Norman G. Finkelstein im Diskurs der Rechten – Erinnerungsabwehr und Antizionismus. [1]

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