Russefeiring

Russefeiring
Russen vor dem Schloss in Oslo
Rødruss und blåruss mit Russmützen und -kleidung in Ålesund

Russ und Russefeiring (Russ und Russfeier) sind ein norwegisches Kulturphänomen, das seinen Ursprung in dänischen Traditionen hat. Sobald Schüler die „videregående skole“ (weiterführende Schule, entspricht der deutschen Oberstufe) beendet haben, nennen sich diese „Russ“ und zeigen dies durch Feiern und spezielle Brauchtümer wie Russmützen, -ausweise und -bilder. Die Feiern erreichen ihren Höhepunkt am 17. Mai, dem Nationalfeiertag Norwegens, wo an vielen Orten im Anschluss an den klassischen Kinderumzug ein Russzug stattfindet. Dieser Umzug markiert das Ende der "russetiden". Weitere Traditionen sind unter anderem die Russrevue und die Russzeitung, die meist am 17. Mai verkauft wird. In Norwegen wird traditionell zwischen den sogenannten rødruss (Rotrussen), den Absolventen der Gymnasien, und den blåruss (Blaurussen), den Absolventen der Handelsgymnasien, unterschieden. Die Aktivitäten zur Russfeier werden nicht von den Schulen, sondern von den Schülern selbst organisiert.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Etymologie und Hintergrund

Das Wort „Russ“ kommt aus der lateinischen Sprache (cornua depositurus), welches auf deutsch frei mit „sich die Hörner abstoßen“ übersetzt werden kann. Die Russfeier selbst reicht zurück bis in das 17. Jahrhundert. Da es damals keine eigene Universität in Norwegen gab, studierten die Norweger überwiegend in Kopenhagen. Die Universität Kopenhagen wurde damals Universitas Hafniensis genannt. Der norwegisch-dänische Schriftsteller Ludvig Holberg schrieb in seiner Komödie Erasmus Montanus von 1722 folgendes:

Der er kommen profecto en hob Russer til Kiøbenhavn. - Hvad mon Russen nu vil bestille her igien? – Det er ikke Moscoviter, Jeppe Berg! Det er unge Studentere, som man kalder Russer.

Ein Haufen Russen ist profecto nach Kopenhagen gekommen. - Was mögen nur die Russen jetzt wieder hier zu bestellen haben? - Das sind keine Moskowiter, Jeppe Berg, das sind junge Studenten, die man Russen nennt.

Um den Zugang zum Studium zu erlangen, mussten die Studierenden ein examen artium (entspr. Abitur) bestehen. Wenn das Examen vorüber war, bekamen diese ein Horn auf den Kopf gesetzt und wurden von den älteren Studenten verspottet. Später, wenn die Resultate bekannt waren, waren die Studenten auf einer Zeremonie, welche examen depositiones genannt wurde. Hierbei stellten diese sich vor die Examinanden; hatten diese bestanden, wurde das Horn als Zeichen der Weisheit und Reife abgenommen. Erst danach konnten die Schüler sich Studenten nennen.

Eine andere Theorie zum Ursprung des Wortes ist, dass es vom lateinischen rus abstammt, welches als „Bauernland“ gedeutet werden kann (siehe auch rustikal). Rus kann daher auch als Schimpfwort für Studenten mit schlechten Manieren gebraucht worden sein. Die Schreibung mit zwei s - also „russ“ - wurde vermutlich zur Abgrenzung des Wortes „rus“ gewählt, welches im norwegischen Rausch bedeutet.

Auch wenn die Feiern sowohl in Schweden wie auch in Dänemark sich heute vorsichtig der norwegischen Feier annähern, hat diese Institution eine starke Tradition, die bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht. Die Russ- und Studentenfeiern im Norden beruhen auf dem hohen Status der Gymnasialausbildung.

In Norwegen

Rødruss und blåruss im Zug am 17. Mai in Ålesund

Die gegenwärtige norwegische Russtradition ist seit 1905 beschrieben, als rote Russemützen erstmals von abgehenden Schülern der Abgangsklasse der höheren Schule in Kristiania (heute: Oslo) benutzt wurden. Diese Mützen wurden zunächst nur von den Jungen benutzt und waren von deutschen Studenten inspiriert, die Norwegen 1904 besuchten. 1916 wurden erstmals die blauen Kappen von Russen des Handelsgymnasiums in Oslo verwendet.

1979 beschloss die Arbeiterpartei, die Examenstage später als den 17. Mai zu legen, um die wilden Russfeiern einzuschränken und den Schülern mehr Zeit für die fachlichen Examensvorbereitungen zu geben.

Lange Zeit war die Russmütze sowie ein einfacher Bambusstock mit einer farbigen Schleife die einzige Ausstattung der Russen. Später kamen eigene Kleidung, große Busse und anderes dazu; die Russfeiern haben heute einen starken Einfluss auf Zubehörlieferanten und Kleidungsimporteure.

In Dänemark und Schweden

Die Tradition, die Aufnahme in der Universität zu feiern, findet sich auch in Dänemark und Schweden. Die neuen Studenten werden dort „rus“ (Dänemark) bzw. „russ“ (Schweden) genannt und tragen eine „Russmarkierung“ in den ersten Wochen ihres Studiums. Diese Feiern fallen je nach Studententyp sehr unterschiedlich aus. In Schweden kann das zum Beispiel eine Studentenrevue, in Dänemark kann das eine Tour mit dem Pritschenwagen sein, der mit Birkenreisig geschmückt ist.

Die Studenten in Dänemark, Schweden und Finnland kleiden sich mit weißen Mützen, einer Tradition aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese Studenten werden studenterhue (dänisch) und studentmössa (schwedisch) genannt. Einzelne schwedische Russ tragen darüber hinaus spezielle, farbige Kostüme. Da das alte Studentenexamen in Schweden 1969 abgeschafft wurde, sind die Studentenfeierlichkeiten dort mittlerweile sehr zurückhaltend. Früher konnten zum Beispiel examinierte Gymnasiasten ihre weiße Studentenmütze den ganzen Sommer über tragen, bis sie im Herbst zu studieren begannen.

Die Studentenfeiern in Schweden haben nichtsdestoweniger in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren. Nun werden diese normalerweise mit dem sogenannten mösspåtagning, einer Art „Russtaufe“, eingeleitet.

Auch in Schweden variieren die Gebräuche mittlerweile von Ort zu Ort.

Russ heute

Abhängig davon, wo man im Land studiert, beginnen die Russfeiern im Herbst des letzten Jahres auf der weiterführenden Schule oder gegen Ende April/Anfang Mai und dauern bis zum 17. Mai oder sogar noch länger. Die Russen erhalten ihre abschließenden Examen nach der Feier; so kann es sein, dass nicht bestandene Schüler im nächsten Jahr wieder Russ sein können. Ein zu wildes und ausuferndes Feiern kann natürlich zu schlechteren Noten im Examen führen, welches erst nach den Russfeiern stattfindet.

Russ-Typen

Grønnruss aus Hamar

Es gibt mehrere Arten von Russen mit verschiedenen lokalen Varianten, dies sind die gebräuchlichsten:

  • Rødruss (Rotruss) sind Schüler im allgemeinen Gymnasium.
  • Blåruss (Blauruss) sind Schüler in Wirtschaftsgymnasien.
  • Svartruss (Schwarzruss) sind Berufsschüler.
  • Grønnruss (Grünruss) sind seit ca. 2005 Berufsschüler im Bereich Land- und Forstwirtschaft (bis dahin Svartruss). Die Grønnruss waren ursprünglich Realschüler, bis die Realschule 1968 abgeschafft und durch die ungdomsskole ersetzt wurde.
  • Oransjeruss (Orangeruss) sind die (drei Jahre jüngeren) Abgangsschüler der ungdomsskole (vergleichbar mit dem Abschluss der Mittelstufe).
  • Rosaruss (Rosaruss) ist ein Kind, das den Kindergarten abschließt.

Die Tradition der letzten drei Typen ist allerdings nicht sehr weit verbreitet.

Russtracht, -mütze und „Knuteregler“

In Verbindung mit den Russereignissen, meistens im Frühjahr, kleiden sich die Russen in rote oder blaue „Uniformen“, zum Beispiel Blaumänner oder Tischlerhosen in Russfarbe, oft mit Abzeichen dekoriert. Lange Tradition haben mittlerweile Mützen mit langem Büschel. In diesem Büschel sind verschiedene Knotentypen geknüpft, oft mit kleinen Gegenständen. Diese Knoten sind ein Symbol für die Durchführung der sogenannten „Knutregler“ (Mutproben). Dieses wird oft kritisiert, weil sie Straftaten (wie Entblößung) und potentiell gefährliche Handlungen (wie Einnahme großer Mengen Alkohol in kurzer Zeit) beinhalten können. Die ersten Knutregler entstanden in den 1940er Jahren.

Die Russfeier wird an einzelnen Orten mit einer Russtaufe im Mai begonnen. Dort kann der Schirm der Russmütze mit dem Rufnamen des Besitzers bemalt werden. Die Mützen sind eine nichtfestliche Variante der traditionellem, schwarzen Mütze, welche die Schüler bei der abschließenden offiziellen Examensfeier tragen. Diese schwarze Mütze ist dann das eigentliche Zeichen für das bestandene Examen.

Russautos

Die Tradition der eigenen „Russautos“ entstand in den 1960er Jahren. Die Russen kauften oder übernahmen alte Autos, welche rot oder blau angemalt und mit Nonsenstexten sowie Werbung versehen wurden. Mit aufkommendem Druck und besseren wirtschaftlichen Verhältnissen hat sich diese Sitte heute zum teuren Russbus entwickelt, welche jahrelang geplant werden. Die Russbusse können eine spezielle Einrichtung sowie sowie große Sound- und Lichtanlagen auf dem Dach haben, in Einzelfällen werden dort mehrere Hunderttausend Kronen investiert. Dies gilt besonders in Oslo und Akershus.

Die Russautos wurden ursprünglich im Paradezug am 17. Mai benutzt, waren aber für viele auch ein praktisches und notwendiges Verkehrsmittel, oft aber auch nur ein gemeinschaftsbindendes Hobby in der Russzeit. Die Autos werden meist mit Reklame finanziert.

Russkarte

Eine "kinderfreundliche" Russkarte

Jeder einzelne Russ hat eine Russkarte. Dies ist eine persönliche Visitenkarte mit aufgedrucktem Russmotto, Namen und Bild. Diese sind meist standardisiert, haben aber oftmals ein verrücktes Aussehen. Diese Karten werden zwischen den Russen getauscht oder auch an Familienmitglieder und Kinder verteilt.

Russzeitung

1919 erschien die erste Russzeitung.

Russeruf

Der Stammruf Chickelacke ist 1934 in Oslo nach dem Vorbild eines dänischen Pfadfinderrufes entstanden. Dieser wird weiterhin unter anderem bei den Russezügen am 17. Mai benutzt:

Chickelacke, chickelacke, show, show, show
Bummelacke, bummelacke, bow, bow, bow
Chickelacke, bummelacke, jazz bom bøh
Julekake, julekake, hjembakt brød

(Nonsenstext ohne Inhalt; die letzte Zeile heißt übersetzt: „Weihnachtskuchen, Weihnachtskuchen, hausgebackenes Brot“)

Kritik

Die Russfeiern werden regelmäßig in den Massenmedien, aber auch von einzelnen Schulrektoren wegen ihrer gefährlichen Russautos, Geldverschwendung, übertriebenen Feiern mit gesundheitsschädlichem Alkoholkonsum, sexuellen Übergriffen, Vandalismus und Mobbing jüngerer Mitbürger kritisiert. Die meisten Russ empfinden die Kritik als ungerechtfertigt und weisen darauf hin, dass es sich nur um Einzelfälle handelt.

Das Benehmen der Russ erklärt sich normalerweise als Auswirkung des jugendlichen Tatendrangs und des Bedürfnisses nach Freiheit und Spaß nach 12 (nach der Schulreform 13) Jahren Schulzeit. Außerdem spielen Gruppenzwang, Drogenkonsum, Unreife und fehlende Erfahrung eine große Rolle.

Russkultur als Übergangsritus

Rødruss aus Hamar am 17. Mai 2006 mit Wasserpistolen und Plakaten mit ironischen Texten

Allan Sande von der Hochschule Bodø behandelte in seiner Doktorarbeit die Russzeit als liminale Phase des Lebens. Das bedeutet, daß die Russetid ein Übergangsritus ist, in dem man sich abklärt und gegen die gesellschaftlichen Normen opponiert, um als erwachsenes, verantwortliches Individuum herauszukommen. Parallele Phänomene finden sich in vielen Kulturen. Dieses gilt zum Beispiel für den Karneval in Rio, ein uraltes Stammritual in Afrika und frühere Gemeinschaftfeste in Verbindung mit Beerdigung oder Hochzeit. Allan Sande meint außerdem, dass die Russfeiern als Parodie oder Karikatur der Gemeinschaft betrachtet werden können. Gleichzeitig behauptet er, dass diese der Jugend neue Erfahrungen ermöglichen und diese in Selbstständigkeit, Planung, Struktur und Zusammenarbeit trainieren[1].

Heutzutage gibt es Meinungen, die eine deutliche Popularitätssteigerung der Russfeiern in der Zukunft voraussagen und damit die klassischen Rituale wie Konfirmation, Wehrdienst und der Beginn des Arbeitslebens an Bedeutung verlieren könnten.

Sonstiges

Der Ausdruck blåruss wird auch in politischen Debatten und Reden als herabsetzende und ironische Bezeichnung für Politiker gebraucht, welche ein einseitiges Gewicht auf ökonomisch-rationelle Beurteilungen legen. Das Wort wird oft von den extremen Parteien verwendet.

Referenzen

  1. Allan Sande: Russefeiring und Nationalismus in Norwegen. Das Verhältnis von Alkoholkonsum, Jugendintegration und dem 17. Mai. Norrøna 42, 2008

Literatur

  • Jan Johannessen: Lenge leve russen – en seriøs humor- og kavalkadebok om russens historie. Oslo, eget forlag, 1982. ISBN 82-990854-0-3
  • Anne-Sofie Hjemdahl: Kledd i russetid – en samtidsstudie av rødrussens klær. Hovedoppgave i etnologi ved Universitetet i Oslo, 1999
  • Allan Sande: RUSsefeiring – om meningen med rusmiddelbruk sett gjennom russefeiring som et ritual. Høgskolen i Bodø, 1999. ISBN 82-7314-286-8. Avhandling (dr. polit.) ved Universitetet i Tromsø, 2000

Weblinks


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