Savant-Syndrom

Savant-Syndrom

Die Inselbegabung – auch Savant-Syndrom genannt – ist ein Phänomen, bei dem Menschen, oft mit kognitiver Behinderung, in einem kleinen Teilbereich außergewöhnliche Leistungen vollbringen. 50 Prozent der bekannten Inselbegabten sind Autisten. Sechs von sieben Inselbegabten sind männlich. Es gibt keine zuverlässigen Untersuchungen darüber, wie häufig das Savant-Syndrom auftritt. Der Autismus-Forscher Darold Treffert schlug 1989 eine Unterscheidung in erstaunliche und talentierte Savants vor.[1] Während die erstaunlichen Savants wirklich herausragende Fähigkeiten besitzen, weisen die talentierten Savants höchstens durchschnittliche Leistungen auf, die aber in Anbetracht ihrer Behinderung bemerkenswert sind. Zurzeit sind weltweit etwa 100 Menschen bekannt, die man nach dieser Unterteilung als erstaunliche Savants bezeichnen kann. Der Intelligenzquotient der Personen liegt meist unter 70, kann aber auch durchschnittlich, in einigen Fällen auch überdurchschnittlich sein. Die Fähigkeiten sind dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte das Savant-Syndrom unter anderem durch den Film Rain Man.

Inhaltsverzeichnis

Zum Begriff

Der 1887 von dem englischen Neurologen Dr. J. Langdon Down in einer Vorlesungsreihe vor der Londoner Medical Society eingeführte Begriff „idiot savant“ (möglicherweise gedacht als „schwachsinniger Wissender“) ist irreführend und nach heutigen Maßstäben diskriminierend.

Aktuell spricht man von Inselbegabten oder Savants. Besonders herausragende Savants werden von dem amerikanischen Psychiater und Forscher Dr. Darold Treffert als prodigious savants bezeichnet, abgeleitet von prodigy (Wunderkind, Talent). Autistisch veranlagte Inselbegabte werden auch „Autistic Savant“ oder „Savant Autistique“ genannt. Auch der Begriff Savant ist jedoch irreführend, da das Hauptwort „Savant“ in der französischen und in der englischen Sprache in einem umfassenden Sinn „Wissender“ oder „Gelehrter“ bedeutet.

Der Begriff „Inselbegabung“ trifft den Kern des Phänomens am ehesten, da er ausdrückt, dass bei insgesamt schwacher Begabung in einem abgegrenzten einzelnen Fach, einer Insel, eine herausragende Leistungsfähigkeit vorliegen kann, die in bizarrem Gegensatz zur übrigen Persönlichkeit steht. Es handelt sich um „eine isolierte Gabe inmitten von Defekten“ (Douwe Draaisma, 2006).

Ursachen

Die Ursachen von Inselbegabungen sind noch nicht genau bekannt. Die Fallbeschreibungen in der Literatur enthalten die unterschiedlichsten Charakterisierungen. Die weitaus meisten Inselbegabten sind Männer. Einige musikalische Savants sind blind. Kalenderrechner sind mehrheitlich autistisch veranlagt. Inselfertigkeiten sind fast immer angeboren, können jedoch auch später aus einer Hirnschädigung entstanden sein. Bei den meisten Savants ist die Sprache deutlich unterentwickelt; es gibt aber auch solche, die in kürzester Zeit eine Fremdsprache aufnehmen. Zu jeder Regel können genügend Ausnahmen belegt werden. Generalisierungen sind nicht möglich, und dementsprechend differieren auch die Deutungen der Ursachen.

Bei der Suche nach Erklärungen ist zu unterscheiden zwischen dem prüfbaren Können der Inselbegabten und der Frage, warum sie das können. Zuerst geht es um mögliche Strategien, die Inselbegabte anwenden und darum, ob diese Leistungen auf erkennbaren Gedächtnisstützen, Rechenkünsten oder geschickten Faustregeln beruhen. Von Rechenkünstlern unter den Inselbegabten weiß man, dass sie nicht tatsächlich rechnen, sondern aus einem in ihrem Gedächtnis gespeicherten nahezu unendlichen Fundus von Zahlenketten und „Rohbausteinen“ die erforderlichen Elemente abrufen und zu neuen Zahlenketten kombinieren, die dann ebenfalls gespeichert werden und bei erneutem Abfragen der gleichen Aufgabe – und sei es 20 Jahre später – schnell verfügbar sind. Manchmal werden dabei auch ursprüngliche Fehler und deren anschließende Korrektur stereotyp wiederholt, was diese Gedächtnistheorie stützt. Zeichenkünstler wie Stephen Wiltshire haben meist ein fotografisches Gedächtnis, wobei das Gesamtbild mit allen, auch kleinsten Details in einem Akt in das Gedächtnis aufgenommen wird. Inselbegabte behalten, wie schon von Langdon Down beschrieben, die oberflächlichen Fakten, aber nicht die Zusammenhänge und nicht die dahinter liegenden Theorien.

Die zweite Frage lautet, warum Inselbegabte solche Strategien entwickeln können und andere nicht. Eine einheitliche Theorie ist noch nicht in Sicht. Gerade wegen der Vielfalt der Erscheinungsformen haben die meisten Hypothesen, die aus einzelnen Phänomenen abgeleitet wurden, nur einen begrenzten Aussagewert.

Die älteste Theorie vermutete in den Inselbegabten verunglückte Genies, bei denen durch einen Geburtsschaden alle Begabungen außer einer einzigen irreparabel beschädigt wurden. Nach heutigem Kenntnisstand ist diese Hypothese nicht haltbar. Eine andere Überlegung sucht die Erklärung des Phänomens in der Kompensation. Inselbegabte haben, bedingt durch eine sinnliche Störung oder durch autistische Anlagen, kompensatorisch eine Neigung zur Beschäftigung mit trivialen und bizarren Tätigkeiten und lassen sich durch nichts von dieser one track mind abbringen. Nach Douwe Draaisma ist der Savant das Produkt aus Konzentration, Einseitigkeit und endloser Wiederholung.[2]

Eine Hypothese der Harvard-Neurologen Norman Geschwind und Albert Galaburda beruht auf Erkenntnissen der Hirnforschung, wonach zwischen der zehnten und der achtzehnten Woche der embryonalen Phase ein beschleunigtes Wachstum des Gehirns eintritt. Störungen dieser explosionsartig beschleunigten Neuronenverbindungen führen zu massiven Gehirnschäden. Einer der möglichen Störfaktoren ist das männliche Hormon Testosteron, das im Körper zirkuliert, während die Hoden des Embryo angelegt werden. Ein hoher Testosteronspiegel wirkt hemmend auf das Wachstum der Hirnrinde. Diese Theorie könnte die männliche Überrepräsentanz unter den Inselbegabten erklären [3][4].

Auch der Hirnforscher Michael Fitzgerald vom Trinity College (Dublin) sieht die herausragende Kreativität der Inselbegabten als Folge der bei den Autisten bestehenden neuronalen Fehlschaltungen. Seiner Meinung nach waren bei vielen Genies wie Albert Einstein, Isaac Newton und Mozart mehr oder minder starke Ausprägungen von Autismus vorhanden. Allan Snyder von der Universität Sydney geht davon aus, dass man bestimmte Gehirnareale ausschalten muss, um die Reserven der anderen Bereiche freisetzen zu können. Seine Versuchsergebnisse mit starken Magnetfeldern (rTMS) und die daraus abgeleiteten Thesen sind jedoch umstritten.

Eine weitere gängige Theorie besagt, dass bei Inselbegabten die Filtermechanismen des Gehirns gestört seien. Dadurch würden nur ausgewählte Informationen des Unbewussten und nur einzelne, für relevant gehaltene, Informationen des Gedächtnisses dem bewussten Bereich des Gehirns zugeführt, um dessen Überforderung zu verhindern und den Menschen im Alltag schneller und intuitiver entscheiden zu lassen. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass jeder Mensch ausnahmslos alle Sinneseindrücke in seinem Gedächtnis speichert, aber nur Zugriff auf die Wichtigen hat, während ein Savant in einem Teilbereich auf jede Information zugreifen kann, unabhängig von ihrer Relevanz oder emotionalen Bedeutung.

Wichtig ist sich vor Augen zu führen, dass es nicht den einen Savant gibt, sondern ein breites Spektrum von Inselbegabten mit sehr unterschiedlichen Hirnstörungen und Teilbegabungen. Deshalb ist es auch schwierig, den Savant-Zustand zu „simulieren“ und normal begabte Menschen vorübergehend in „autistische Genies“ zu verwandeln, wie es der australische Forscher Allan Snyder versucht.[5][6]

Bekannte Menschen mit Inselbegabung

Außergewöhnliches Erinnerungsvermögen

  • Solomon Schereschewski, 1886 in Russland geboren, war ein Gedächtnisphänomen, dessen umfassendes Erinnerungsvermögen anscheinend keinem der üblichen Gedächtnisgesetze unterworfen war, der jedoch seine Erinnerungen keine Minute ausschalten konnte, was ihm den Schlaf raubte und ihn letztlich in den Wahnsinn trieb. Er starb in einer Heilanstalt. Der russische Neuropsychologe Alexander Romanowitsch Lurija beobachtete Schereschewski 30 Jahre lang mit regelmäßigen Experimenten. 1965 veröffentlichte er eine Fallstudie, die 1968 in englischer Übersetzung erschien.[7][8]
  • Kim Peek, der laut eigenen Angaben den Inhalt von etwa 12.000 Büchern auswendig kennt. Diese Menge an Büchern las er mittels einer außergewöhnlichen Fähigkeit: er kann zwei Seiten gleichzeitig lesen und zwar eine mit dem linken und eine mit dem rechten Auge. Außerdem benennt er für jede US-amerikanische Stadt die Postleitzahl, Vorwahl und den Highway, der dorthin führt.
    Kim Peek ist das Vorbild des Raymond Babbitt im Film Rain Man.
  • Orlando Serrell wurde mit zehn Jahren von einem Baseball am Kopf getroffen und erinnert sich seither an jedes einzelne Detail seines Lebens seit dem Unfall inklusive jedes gegessenen Cheeseburgers und jedes einzelnen Regengusses.

Musikalische Begabungen

  • Leslie Lemke (blind), der einmal gehörte Musikstücke nachspielen kann.
  • Tony DeBlois (blind), der etwa 8000 Stücke auf dem Klavier spielen kann, sowie 13 weitere Instrumente beherrscht.
  • Derek Paravicini (blind), der mit neun Jahren sein erstes Konzert gab.
  • Matt Savage (Autist), 1992 geborener Ausnahme-Jazzpianist hat sich mit sechs Jahren über Nacht das Klavierspielen selbst beigebracht. Mit sieben Jahren komponierte er bereits eigene Stücke und brachte seine erste CD heraus.
  • Brittany Maier (blind, Autistin), die mit 18 Jahren inzwischen über ein Musikrepertoire von über 15.000 Stücken verfügt. Sie spielt nur mit sechs Fingern, obwohl sie alle bewegen kann.

Mathematische Begabungen

  • Daniel Tammet hat im März 2004 die Kreiszahl pi innerhalb von fünf Stunden bis auf 22.514 Stellen nach dem Komma aus der Erinnerung wiedergegeben und könnte es sofort wieder tun.[9] Daniel hatte im Alter von drei Jahren einen heftigen epileptischen Anfall. Er kann jedoch ausgezeichnet sprechen und die Vorgänge beim Lösen der mathematischen Aufgaben beschreiben. Weiterhin hat er in einem Experiment bewiesen, dass er Fremdsprachen in etwa einer Woche erlernen kann.[10]

Bildende Künstler

  • Alonzo Clemons, der Tierskulpturen aus Ton nach Abbildungen in Büchern detailgetreu herstellen, jedoch weder lesen noch schreiben kann.
  • Richard Wawro, der Gesehenes mit Wachskreiden detailgetreu nach wenigen Sekunden kurzer Betrachtung anfertigen konnte.
  • Stephen Wiltshire, der ein Bild nach einmaligem Betrachten detailgetreu und perspektivisch korrekt zeichnen kann. Im Rahmen zweier Experimente zeichnete er nach Rundflügen über London und Rom detaillierte Panoramaansichten beider Städte. Dies wiederholte er mit der Skyline von Frankfurt im Rahmen einer Fernsehshow von RTL. Wichtige Zeichnungen Wiltshires sind dargestellt in „S. Wiltshire, Floating Cities. Venice, Amsterdam, Leningrad and Moscow“, London 1991.
  • Gilles Trehin, der seit 20 Jahren eine fiktive Stadt namens Urville auf dem Papier „erbaut“. Er hat Geschichte studiert, um seiner Stadt eine Historie zu geben.

Sprachliche Begabungen

  • Emil Krebs, der 68 Sprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte und sich mit 120 Sprachen befasste.
  • Christopher Taylor, der 25 Sprachen verstehen, schreiben, lesen und zehn davon mehr oder weniger fließend sprechen kann. Im Tomographen gibt es keinerlei Besonderheiten. Autistic Savants sind sonst sprachlich nicht besonders begabt, sodass Christopher Taylor heraussticht. Es ist unklar, warum er bei allgemeinen Intelligenztests schlecht abschneidet, bei Sprachtests jedoch Universitätsniveau erreicht. Es scheint, dass die autistische Motivation eine andere ist, sodass er Vokabeln und Sätze nur sammelt und Sprache als bloßes (erlernbares) System betrachtet, der Gebrauch dieser zur Kommunikation mit anderen Menschen ist dagegen unwichtig.
  • Daniel Tammet verfügt neben seiner mathematischen Begabung und einem herausragenden Gedächtnis auch über außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten. In der 2005 produzierten TV-Dokumentation The Boy With the Incredible Brain wurde ihm die Aufgabe gestellt, binnen einer Woche Isländisch zu lernen und danach dem isländischen Fernsehen ein Interview zu geben. Tammet bewältigte diese Aufgabe ohne größere Schwierigkeiten. Aktuell beherrscht Tammet angeblich neun Sprachen fließend, darunter sogar eine, die er selbst erfunden hat (Mänti), welche sich an die skandinavischen Sprachen anlehnt.[11]
  • Ziad Fazah, der Libanese spricht 58 Sprachen fließend, darunter Chinesisch, Thailändisch, Griechisch, Indonesisch, Hindi und Persisch. Die meisten dieser Sprachen hat Fazah sich selbst beigebracht. Dafür brauche es aber sehr viel Ausdauer und Disziplin, erklärt der Multilinguale, der es mit seinem Talent sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hat.
  • Giuseppe Mezzofanti, italienischer Kardinal. Er lebte von 1774 bis 1849, verstand rund 70 Sprachen, sprach von diesen zwölf fließend und hält somit den Weltrekord für Vielsprachigkeit.

Sonstige Begabungen

Literatur

  • Darold A. Treffert, Gregory L. Wallace: Inselbegabung. Spektrum der Wissenschaft, Sep. 2002
  • Darold A. Treffert, Gregory L. Wallace: Islands of Genius. Artistic brilliance and a dazzling memory can sometimes accompany autism and other developmental disorders. Scientific American, Juni 2002
  • Bas Kast: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. Fischer Verlag, 2007
  • Daniel Tammet: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Patmos Verlag, 2007.
  • Douwe Draaisma: Der Profit eines Defekts: das Savantsyndrom. In: „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird – Von den Rätseln unserer Erinnerung“. Piper, 2006, ISBN 3-492-24492-0 (mit weiteren Quellenangaben).
  • Rüdiger Gamm: Train your Brain. Heyene Verlag, 2008
  • Leon K Miller: Musical Savants. Exceptional Skill in the Mentally Retarded, Erlbaum, Hillsday NJ, 1989

Film, DVDs

  • Petra Höfer und Freddie Röckenhaus: Expedition ins Gehirn; Teil 1: Gedächtnis-Giganten; Teil 2: Der Einstein-Effekt; Teil 3: Der große Unterschied. (DVD, deutsch/englisch, ca. 156 Minuten) Wissenschafts-Dokumentation über Inselbegabte und Autisten mit Savant-Fähigkeiten. ARTE und Radio Bremen. TR-Verlagsunion, 2006, ISBN 3-8058-3772-0

Einzelnachweise

  1. Treffert, Darold A.: Extraordinary People. Understanding "Idiot Savants", New York 1989, ISBN 0-06-015945-6
  2. Douwe Draaisma: Der Profit eines Defekts: das Savantsyndrom In: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird - Von den Rätseln unserer Erinnerung, Piper 2006, ISBN 3-492-24492-0 (mit weiteren Quellenangaben)
  3. Heinz Hättig – Sprachlateralität und Händigkeit, HU Berlin
  4. „Cerebral Lateralization: biological mechanisms, associations, and pathology“ von N. Geschwind und A. M. Galaburda (1987), Cambridge, MA: MIT Press, ISBN 0-262-07101-0
  5. Norddeutscher Rundfunk, Sendereihe „Expedition ins Gehirn“ (2006)
  6. Bas Kast: Die Kraft der Intuition (2007)
  7. „The mind of a mnemonist“ von A. R. Lurija (1968), ISBN 0-674-57622-5
  8. „Die absoluten Gedächtnisse von Funes bis Schereschewski“ in Douwe Draaisma, Warum das leben schneller vergeht, wenn man älter wird, Piper 2006
  9. Daniel Tammet Artikel in der Wikipedia (englisch)
  10. Daniel Tammet: Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Patmos, 2007, ISBN 978-3-491-42108-0.
  11. Artikel von The Guardian, vom 12. Februar 2005

Siehe auch

Weblinks


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