- Schriftsinn
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Mit vierfachem Schriftsinn ist die buchstäbliche, allegorische, moralische, anagogische Auslegung von Bibelstellen gemeint. Sie war die vorherrschende religiöse Textinterpretationsgrundlage im gesamten Mittelalter. Luther wandte sich von dieser Sichtweise ab.
Paulus (Galaterbrief 4,24) begründete die allegorische Deutung des Alten Testaments und Neuen Testaments (Allegorie), sie wurde als möglicher mehrfacher Schriftsinn vor allem von Origenes im 3. Jahrhundert entwickelt, wenngleich auch seither bestritten (schon bei Basilius dem Großen, Johannes Chrysostomos und der antiochenische Schule, die den literarisch-historischen Sinn der Bibeltexte betonten).
Entsprechend der klassischen philologischen Schule in Alexandria stellte Origenes (etwa 185 - 254) für die Bibel die Theorie vom „mehrfachen Schriftsinn“ auf. Die Kirchenväter entwickelten die Lehre vom „vierfachen Schriftsinn". Demzufolge reichte nicht die rein literarisch-philologische Analyse des Textes. Dem einfachen Gläubigen genügte dieser geschichtliche Sinn, jedoch sollte die Exegese für Geübtere auch den seelischen Sinn erheben und für Vollkommene der geistig-geistliche Sinn festgestellt werden.
Dieser Dreischritt somatische - psychische - pneumatische Exegese wurde dann durch Johannes Cassianus im 5. Jahrhundert zur Theorie vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut, die für das gesamte Mittelalter prägend war. Ähnlich wie in der jüdischen Tradition der Bibelauslegung (siehe PaRDeS) tritt zur historisch-literalen Exegese nun ein Dreischritt, der sich am Schema Glaube-Liebe-Hoffnung orientiert.
- Literalsinn (wörtliche, geschichtliche, biblisch-historische Auslegung)
- Allegorischer Sinn (Interpretation „im Glauben“) = dogmatische, mythologische, zeitlose Auslegung
- Tropologischer Sinn (Interpretation „in Liebe“) = moralische Sinnebene, gegenwärtige Wirklichkeit einer Einzelseele
- Anagogischer Sinn (Interpretation „in Hoffnung“) = endzeitliche, eschatologische Ebene
Cassian bringt als Beispiel für den vierfachen Schriftsinn vier Bedeutungen von Jerusalem. So steht Jerusalem für
- die historische Stadt Jerusalem,
- die Kirche Christi,
- die menschliche Seele,
- das zukünftige, himmlische Jerusalem.
Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die heute wieder im Katechismus der Katholischen Kirche (109-119) vertreten wird, ist in einem mittelalterlichen Zweizeiler zusammengefasst:
Littera gesta docet, Der Buchstabe lehrt die Ereignisse, quid credas allegoria, was du zu glauben hast, die Allegorie, moralis quid agas, die Moral, was du zu tun hast, quo tendas anagogia. wohin du streben sollst, die Anagogie (Führung nach oben). Siehe auch
Literatur
- Reichert, Klaus: Vielfacher Schriftsinn, Suhrkamp, Frankfurt, 1989. ISBN 3-518-11525-1
- Ernst von Dobschütz: Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie; in: Harnack-Ehrung: Beiträge zur Kirchengeschichte ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem siebzigsten Geburtstag (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921
- Über theologische Fachkreise hinaus hat Henri de Lubac weithin Bedeutung für die Patrologie und Mediävistik erlangt durch sein monumentales Kompendium zur Geschichte des vierfachen Schriftsinns (Exégèse médiévale: les quatre sens de l'écriture, Paris 1959-1964), das an eigene Vorstudien seit der Zeit der ausgehenden 40er-Jahre anknüpft.
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