- Somatotopie
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Somatotopik oder Somatotopie (abgeleitet von agrch. σῶμα [soma] = lebendiger Körper, Leichnam und τόπος [topos] = Ort, Stelle, Landstrich, Gegend, Örtlichkeit, Raum) ist eine der relativen Lage der Körperteile entsprechende Gliederung von Nervengewebe im Zentralnervensystem (ZNS) und peripheren Nervensystem.[1] Im ZNS wird diese Gliederung in verschiedenen Abschnitten angetroffen. Am deutlichsten ausgeprägt ist sie im Bereich der somatosensiblen und motorischen Hirnrinde. Dort hat sie zu der Bezeichnung Homunkulus geführt. Man bezeichnet die somatotope Gliederung auch als topographisch-genetische Gesetzmäßigkeit, die neben der funktionellen Gliederung der Nervenbahnen in den sogenannten Tractus oder Leitungsbündeln den Aufbau der Nervensubstanz des ZNS bestimmt. Es handelt sich somit um einen neuroanatomischen Bauplan, wie er nicht nur beim Menschen, sondern auch bei verschiedenen Tierarten, wie z. B. bei Primaten nachgewiesen werden kann.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung des Begriffs
Der Begriff Somatotopik wurde von dem Neurochirurgen Wilder Penfield um 1940–1950 geprägt, um die motorischen und sensiblen Zentren im Bereich des menschlichen Cortex und des Kleinhirns näher zu beschreiben.[2]
Anatomisch bestätigte Somatotopik
Rückenmark
Im Rückenmark führt die somatotopische Gliederung zu einem konzentrischen bzw. lamellär geschichteten Aufbau der weißen Substanz um die zentrale graue Substanz (Schmetterlingsfigur). Die zu höheren (z. B. cervikalen) Abschnitten des Rückenmarks gehörigen Leitungsbahnen liegen dabei der zentralen grauen Schicht an, die zu tieferen (z. B. sacralen) Abschnitten gehörigen Leitungsbahnen liegen weiter außen. Im Gegensatz zu dieser konzentrischen somatotopischen Gliederung ist die funktionelle Gliederung für Leitungsbahnen wie Druck-, Schmerz- und Temperaturempfinden radiär gegliedert.[3]
Pyramidenbahn
Die aus der Hirnrinde austretenden Fasern des sensomotorischen Primärgebiets bilden einen breiten zunächst frontal gestellten Fächer, der sich beim Eintritt in das Marklager der Hemisphäre schnell verschmälert und in die innere Kapsel gelangt. Dabei kommt es zu einer schraubenförmigen Verdrehung der ganzen Faserplatte. Die im frontal ausgerichteten Fächer des Primärgebiets anfänglich am weitesten unten entspringenden Fasern liegen in der inneren Kapsel dann innerhalb der Hirnschenkel medial. Die oben in der Hirnrinde entspringenden Fasern bilden die seitlichen bzw. lateralen Anteile des Bündels.[4]
Sensomotorischer Cortex
Der sensomotorische Cortex ist das Paradebeispiel somatotopischer Gliederung. Er hat die Bezeichnung Homunkulus geprägt. Da die korrespondierende sensomotorische Gliederung mit Wahrnehmungs- und Bewusstseinsqualitäten einhergeht, sind damit notwendig auch neuropsychologische Qualitäten verbunden, siehe Agnosien, Körperschema, Topik (Psychologie), Wahrnehmungspsychologie. Durch Verlagerung primärer Reize durch die sog. sensorischen Projektionsbahnen zu sekundären und tertiären Assoziationszentren entstehen jeweils neue Wahrnehmungsqualitäten. – Die Homunkulustheorien der Wahrnehmung sind sowohl als Gegenstand der Philosophiegeschichte als auch der Psychologiegeschichte anzusehen.
Fossa Sylvii
In der Tiefe der Fossa Sylvii findet sich eine sekundäre motorische Region (Feld II) mit umgekehrter somatotopischer Gliederung.[5]
Kleinhirnrinde
Das Kleinhirn erhält praktisch von allen Teilen des Nervensystems Meldungen und kann seinerseits über seine Efferenzen Einfluss ausüben.
Mittels evozierter Potentiale ließen sich enge somatotopische Verbindungen zum Großhirn nachweisen. Derartige somatotopische Vertretungen wurden im Kleinhirn experimentell bei verschiedenen Tierarten, wie z. B. auch bei Primaten, nachgewiesen, weshalb eine ähnliche Somatotopik in der menschlichen Kleinhirnrinde vermutet wird.[6] [7]
Segmentale Gliederung
Eine Somatotopie ist auch in der segmentalen oder radikulären Gliederung der nervlichen Versorgung von Haut (Dermatome) und Muskulatur (Myotome) zu erkennen. Die segmentale Innervierung bezieht sich auf abschnittsweise gegliederte nervale Versorgung des Körpers entsprechend der embryonalen Verknüpfung der Ursegmente (Somiten) der Chorda dorsalis mit zugeordneten (benachbarten) Abschnitten der – selbst anatomisch fassbar nicht gegliederten – Rückenmarksanalage. Mit radikulär ist die Innervation durch einzelne Spinalnerven gemeint.[8]
Somatotopische Varianten
Die bisher dargestellte Topik der sensorischen Projektionszentren bezieht sich auf den menschlichen Körper und seine äußere Gestalt. Man kann diese äußere Gestalt auch als somatisches Korrelat oder Urbild und die auf somatotopischen Hirnrindenkarten – trotz gewisser Verzerrungen und Sprünge – noch immer erkennbare Form des Körpers als Projektion oder Abbild bezeichnen.
Verzerrungen und Sprünge sind darauf zurückzuführen, dass die exakterweise eigentlich nur räumlich abbildbaren Funktionen im Gehirn auf einer Hirnwindung bandförmig und somit gewissermaßen eindimensional zur Abbildung kommen. So werden z. B. die taktilen Empfindungsqualitäten des Körpers in den primären Projektionszentren des Gyrus postzentralis bandförmig repräsentiert. Diese Organisation erscheint wegen der notwendigen engen topischen Gegenüberstellung von sensorischen und motorischen Arealen im sensomotorischen Cortex erforderlich. Auch der Gehörsinn wird bandförmig auf die Gyri temporales transversi (Heschlsche Querwindungen) projiziert.[9] Entsprechend Tierexperimenten ist die die Basilarmembran in allen Zentren der Hörbahn „aufgerollt“.[10]
Ein Sprung des gestaltlichen Kontinuums besteht z. B. zwischen Daumen und Nacken bzw. zwischen Hand und Kopf. In der Hirnwindung des Gyrus postcentralis und auch des Gyrus praecentralis schließt sich – abweichend von der als Urbild dienenden Körpergestalt – der Nacken unmittelbar an den Daumen an.
Als in ihren Relationen scheinbar verzerrt abgebildet kann man die größenmäßig überproportional repräsentierte Hand ansehen. Die scheinbare Verzerrung einzelner Körperabschnitte auf dem Gyrus postcentralis wie z. B. auch der Zunge hängt mit der topographisch unterschiedlichen Differenzierung des taktilen Auflösungsvermögens zusammen. Dieses wurde bereits 1837 durch Ernst Heinrich Weber mit Hilfe des Tastzirkels experimentell untersucht. Das Auflösungsvermögen ist am größten im Bereich von Zunge, Lippen und Fingern. Die dem unterschiedlichen Auflösungsvermögen der Haut entsprechende unterschiedlich stark ausgeprägte Repräsentanz in der Hirnrinde wird auch als „Feinheit des sensorischen ›Korns‹“ bezeichnet.[11] Körperabschnitte mit hohem taktilen Auflösungsvermögen sind topisch im Vergleich zur realen menschlichen Gestalt scheinbar überproportional im Gyrus postcentalis repräsentiert und erscheinen somit topisch verzerrt, vgl. auch Abb. des Homunkulus.
Die bisher erläuterte Topik basiert somit auf der anatomischen Gliederung der taktilen sensorischen Reizaufnahme und der noch in Ansätzen erkennbaren segmentalen Gliederung nervöser Versorgung der Muskulatur. Bei anderen Sinnesorganen liegen jeweils andere somatische Qualitäten als Urbild zugrunde. Dies versteht sich zumal dann, wenn diese Sinnesqualitäten nicht zum proprioceptiven System gehören (Exterozeption).
Beim Sehvermögen z. B. ist die Gliederung der Nervenbahnen räumlich an einem in 4 Quadrenten geteilten Gesichtsfeld orientiert, einem zunächst abstrakt zu denkenden Koordinatensystem des Bildes der sichtbaren Außenwelt („Fadenkreuz“, siehe die Abb.). Entsprechend den vier Quadranten eines solchen gedachten Koordinatensystems gibt es jedoch konkret vier funktionell verschiedenartige Leitungsbahnen vom Auge zum Gehirn, die sog. Opticusfasern. Ähnlich wie beim sensomotorischen Rindengebiet ist auch beim Sehvermögen die Abbildung der Sinnesreize in den primären Sinneszentren des Sulcus calcarinus (Area striata) bandförmig, wenn auch zweidimensional repräsentiert, d. h. als flächenhaftes Bild. Das dreidimensionale räumliche Sehen ist eine Leistung der höheren visuellen Sinneszentren, die durch Fusion der beiden in jeder Hirnhälfte empfangenen zweidimensionalen Bilder entstehen.[12]
Beim Gehör ist die exakte Wahrnehmung einer Schallquelle einschließlich ihrer Lokalisierung zwar auch ein primär räumliches Problem der Orientierung (Stereognosie bzw. ein räumliches Hören). Wesentlich ist jedoch auch die Erkennung der Tonhöhe und der Unterschiede in der Tonhöhe einer Schallquelle. Wie es bereits der Begriff der Tonhöhe als solcher nahelegt, wird auch dem Hören von Tonhöhen ein räumliches Schema zugrundegelegt, nämlich das von hohen und tiefen Tönen. Im Folgenden wird dargestellt, dass ein spiralförmiges geometrisches Urbild für die Wahrnehmung der Tonhöhe konkret im Cortischen Organ zu finden ist. Dem entspricht zumindest der aktuelle Stand der Wahrnehmungstheorie beim Hören. Hermann von Helmholtz (1821–1894) ist der Begründer der Resonanztheorie des Hörens (1863, 1870). Diese Theorie besagt, dass die Basilarmembran der Schnecke (Cortisches Organ) die Rolle von Saiten einer Harfe einnimmt, die durch entsprechende äußere Tonquellen gezielt zur Resonanz gebracht werden können. Mit der Vorstellung eines Saiteninstruments wurde somit ein räumliches Schema als Urbild der Erkennung von Tonhöhen angenommen. Auch wenn diese Theorie inzwischen in einzelnen Teilen widerlegt wurde, so bleibt die von Helmholtz begründete Ein-Ort-Theorie des Hörens dennoch weiterhin gültig. Heute wird angenommen, dass die durch den Steigbügel auf das ovale Fenser der Schnecke übertragenen Schwingungen eine Wanderwelle erzeugen, deren Energie sich entsprechend den Elastizitätsverhältnissen für verschiedene Wellenlängen auf verschiedene Stellen der Basilarmembran überträgt. Je höher die Frequenz ist, desto näher liegen diese Stellen an der Schneckenbasis. Dort ist die Basilarmembran – entsprechend der Resonanztheorie und der damit verbundenen Saitenanalogie – am schmalsten, während sie zur Spitze des Helicotremas hin an Breite zunimmt. Für diese heute weitgehend akzeptierte sog. Dispersionstheorie des Hörens erhielt 1961 Georg von Békésy (1899–1972) den Nobelpreis.[13]
Als Variable in der grundsätzlich aufrecht gehaltenen, natürlichen somatotopischen Organisation ist außerdem das Prinzip der Neuroplastizität anzusehen. Hierunter versteht man die Fähigkeit des Gehirns, sich beständig entsprechend den Erfordernissen des Gebrauchs anzupassen. Nervenzellen können also unter geänderten äußeren Bedingungen ihre Funktionen umstellen. Sie können umtrainiert werden, so z. B. bei Phantomerlebnissen, also nach Verletzungen, die das topische Kontinuum verändern. Hierdurch ist eine starre Bezogenheit auf feste Hirnkarten nicht gegeben. Das Prinzip der Somatotopie ist also nicht starr, sondern plastisch.[14]
Siehe auch
- Körperschema
- Motorcortex
- Neuronale Plastizität
- Lemniskales System
- Geschichte der Hirnforschung
- Wahrnehmung
- YNSA
Einzelnachweise
- ↑ Boss, Norbert (Hrsg.): Roche Lexikon Medizin, Hoffmann-La Roche AG und Urban & Schwarzenberg, München 2. Auflage 1987, ISBN 3-541-13191-8, S. 1592
- ↑ Wilder Penfield, Theodore Rasmussen: The Cerebral Cortex of Man. A Clinical Study of Localization of Function. New York, The Macmillan Comp. 1950.
- ↑ Benninghoff, Alfred u. a.: Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhänge. 3. Bd. Nervensystem, Haut und Sinnesorgane. Urban und Schwarzenberg, München 1964, S. 133 f.
- ↑ Bennighoff: a.a.O., S. 247 ff.
- ↑ Bennighoff: a.a.O., S. 250
- ↑ Duus, Peter: Neurologisch-topische Diagnostik. 5. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1990, ISBN 3-13-535805-4, S. 239
- ↑ Kahle, W.: Taschenatlas der Anatomie. Thieme 1979, Bd. 3.
- ↑ Boss: a.a.O., S. 1556, 1441
- ↑ Hofstätter, Peter R. (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1972, ISBN 3-436-01159-2, Stichwort Gehörsinn, (bandförmige Repräsentation des Kontinuums der Tonhöhen), Seite 142
- ↑ Benninghoff, Alfred u. a.: Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhänge. 3.Bd. Nervensystem, Haut und Sinnesorgane. Urban und Schwarzenberg, München 1964, Kap. Das Acusticussystem, Seite 267
- ↑ Hofstätter: a.a.O., Stichwort Gehirn (Verzerrung des homunculus), Seite 133; Stichwort Hautsinne (taktiles Auflösungsvermögen), Seite 176
- ↑ Benninghoff: a.a.O., Kap. Die Sehbahn, Seite 264 f.
- ↑ Hofstätter:a.a.O., Stichwort Gehörsinn, Seite 143
- ↑ Spitzer, Manfred: Geist im Netz, Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1996, ISBN 3-8274-0109-7. Seite 148–182
Weblinks
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