- Statische Gesellschaft
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Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft Europas gliederte sich in mehrere Stände (lat. statūs, Singular status). Das Ständesystem war ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, wie es für spätere Zeiten die von Marx beschriebenen Klassen oder die von Ralf Dahrendorf, Karl Martin Bolte und anderen in die Gesellschaftslehre eingeführten sozialen Schichten wurden. Die soziale Mobilität war in der Ständeordnung jedoch noch gering. Standesgrenzen bestanden vor allem durch unterschiedliche Herkunft.
Ein großer Teil der Bevölkerung gehörte gar keinem der Stände an. Zu ihrem unterständischen Anteil gehörten z. B. Gesinde, Höker, Fahrendes Volk und Bettler.
Inhaltsverzeichnis
Die Stände in der Gesellschaft
Einteilungen des ständischen Systems
Die einfachste Vorstellung unterschied nur Obrigkeit und Untertanen. Dabei konnte dieselbe Person in ihren Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern der ständischen Gesellschaft gleichzeitig Obrigkeit und Untertan sein. Der Adlige war zum Beispiel Herr über die Bauern seiner Grundherrschaft und ebenso Untertan des Königs.
Verbreitet war die Drei-Stände-Ordnung, wie sie insbesondere für Frankreich charakteristisch war:
- Der 1. Stand umfasste die Gruppe aller Geistlichen, das heißt Angehörige der hohen Geistlichkeit wie des niederen Klerus.
- Im 2. Stand wurde der Adel zusammengefasst. Auch hier spielte es keine Rolle, ob man aus einer höheren Adelsschicht oder aus einer niederen kam und etwa dem oft verarmten Landadel angehörte.
- Der 3. Stand umfasste nominell alle freien Bauern und Bürger.
Eine weitergehende Untergliederung der drei Hauptstände war in fast allen europäischen Ländern üblich. Die Position des Einzelnen hing dabei von verschiedenen Faktoren ab:
- der Art des Broterwerbs – Berufsstand, Bauernstand,
- der Position in einem Familienverband – Ehestand, Hausvater, Knecht, Hausgenosse
- den Rechten, die der Einzelne in der städtischen Kommune (ratsfähige Bürger, Bürger, Einwohner) oder der ländlichen Gemeinde hatte (Erbrichter, bäuerliches Gemeindemitglied, Häusler).
An der Spitze der Ständepyramide standen die Fürsten und der König oder Kaiser bzw. bei den Geistlichen die Bischöfe und der Papst. Im dritten Stand dagegen war die große Mehrheit der Bevölkerung versammelt, die keine oder nur sehr begrenzte Herrschaftsrechte (z. B. gegenüber dem Gesinde) besaß.
Das ständische System galt den Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit als feste, von Gott gegebene Ordnung, in der jeder seinen unveränderlichen Platz hatte. Für den Adel und den dritten Stand galt, dass jeder in seinen Stand hineingeboren wurde. Ein Aufstieg war in der Regel nicht möglich. Verdienst oder Reichtum hatten nur wenig Einfluss darauf, welchem Stand man angehörte. So konnte etwa ein Bürger, der als Kaufmann zu viel Geld gekommen war, wesentlich vermögender sein als ein armer Adliger. Das ständische System ist ein statisches Gesellschaftsmodell. Nicht von ungefähr haben statisch und status, das lateinische Wort für Stand, dieselbe etymologische Herkunft. In der mittelalterlichen Theorie waren den drei Hauptständen bestimmte Aufgaben zugewiesen. Der erste Stand hatte für das Seelenheil zu sorgen, der zweite Stand sollte Klerus und Volk gegen Feinde verteidigen, Aufgabe des dritten Standes war die Arbeit. Entsprechend der Stellung in der Gesellschaft hatte man sich einer standesgemäßen Lebensweise zu befleißigen. Dazu gehörte z. B. auch, dass jeder Stand bestimmten Kleidungsvorschriften unterworfen war.
Entwicklung seit dem Spätmittelalter
In der Praxis war das ständische System aber - vor allem seit dem ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit - nicht ganz so undurchlässig wie als theoretisches Konstrukt. Schon vorher war der Weg in den geistlichen Stand eine wichtige Ausnahme. Auch Bauern- oder Handwerkersöhne konnten gelegentlich bis zum Bischof aufsteigen. Später, vor allem seit dem 14. Jahrhundert, wurde es nach und nach Praxis, dass die Fürsten die Bildung des so genannten Amtsadels förderten, also Angehörige des dritten Standes mit einem speziellen Amt beauftragten und sie mit einem Adelstitel belohnten. Auch innerhalb der drei Hauptstände war ein Aufstieg in der frühen Neuzeit keine Seltenheit, indem man zum Beispiel das Bürgerrecht einer Stadt erwarb. Bildung konnte ebenfalls den Weg über die Standesschranken öffnen. Ein studierter Jurist, der von einer Kommune als Stadtschreiber angestellt wurde, fand nicht selten Eingang in die Gruppe der ratsfähigen Bürger. Ebenso konnte der geistliche Stand in einem begrenzten Maße einen Aufstiegskanal darstellen. Der Abstieg aus dem Geburtsstand konnte erfolgen, wenn man zum Beispiel als Adliger aus finanziellen Gründen nicht mehr zu einer standesgemäßen Lebensweise in der Lage war.
Die Auffächerung des ständischen Systems und die zunehmende Durchlässigkeit der Standesschranken waren der fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft geschuldet. Für viele neue Funktionen und Ämter hatte die ursprüngliche mittelalterliche Ständeordnung keinen rechten Platz. Trotzdem wurde das ständische Gesellschaftsmodell bis ins 18. Jahrhundert hinein nie grundsätzlich in Frage gestellt. Auch die Kirche hielt zäh daran fest. Als Martin Luther über die Freiheit des Christenmenschen schrieb, schränkte er diese ausschließlich auf die Beziehung des Individuums zu Gott ein. Im irdischen Leben habe dagegen jedermann ohne aufzubegehren an seinem Platz in der ständischen Ordnung zu verharren.
Dennoch kann man in der Dreiständelehre Luthers gewisse Modifikationen innerhalb des überlieferten Ständeschemas erkennen. Durch Luthers strikte Trennung des geistlichen vom weltlichen Reich (Zwei-Reiche-Lehre war die alte Frage, wem die Oberherrschaft im weltlichen Bereich (Kaiser oder Papst) zukam, klar für Kaiser und Fürsten entschieden. Der dritte Stand wurde zudem nun vornehmlich als Hausstand definiert, innerhalb dessen der Hausvater über die anderen Hausangehörigen (Ehefrau, Kinder, Gesinde) herrschte. Die Unterordnungsverhältnisse fassten Luther und seine Nachfolger innerhalb des Schemas nicht mehr zwischen den drei Ständen, sondern verlegten sie in die drei Hauptstände hinein: In der ecclesia (Kirche) standen die Prediger der Gemeinde gegenüber, in der politia (weltlicher Regierstand) die Obrigkeit den Untertanen und in der oecononmia (Hausstand) das Elternpaar den Kindern und dem Gesinde. Da auch protestantische Geistliche verheiratet sein sollten, befanden auch sie sich nun im Hausstand. Auf diese Weise wurden alle Menschen zugleich in allen drei Ständen verortet, die deshalb auch als genera vitae (Lebensbereiche) bezeichnet wurden. Theoretisch waren damit die drei Stände nebeneinander und nicht mehr untereinander angeordnet. In der Wirklichkeit wurden die Herrschaftsverhältnisse dadurch jedoch nicht angetastet. Der dritte Stand blieb weiterhin (im Widerspruch zu dem theoretischen Modell) zugleich auch der Untertanenstand.
Politische Stände
Charakter
Im Unterschied zum demokratischen Staat waren im ständischen Gemeinwesen nicht alle Landesbewohner zur politischen Mitwirkung berechtigt, sondern nur jene, die gewisse Leistungen erbrachten oder bestimmte Privilegien besaßen. Die Repräsentanten des Landes wurden nicht gewählt, sondern sie saßen aufgrund ihrer Geburt (der Adel) oder qua Amt (z. B. Äbte) im Landtag. Dort vertraten sie nicht ihre Untertanen sondern sprachen für sich selbst. Wer die Standschaft besaß, hatte das Recht in eigener Person auf dem Landtag zu erscheinen. Grundsätzlich handelte es sich um ein dualistisches System, bei dem sich die Gesamtheit der Stände und der Landesfürst gegenüberstanden.
Struktur
Die Struktur dieser ständischen Vertretungen und ihre Befugnisse waren historisch bedingt von Land zu Land verschieden und sie änderten sich auch im Laufe der Zeit. Je nachdem waren unterschiedliche Stände politisch berechtigt und im Landtag vertreten. Fast immer war der Adel dabei, der sich häufig noch in Herren und Ritter gliederte (Herren- und Ritterstand). Die hohe Geistlichkeit galt auch unter den politischen Ständen meist als der erste, allerdings wurde ihr dieser Platz gelegentlich von den Herren streitig gemacht. Einen eigenen Stand formierten häufig die Städte. Selten waren auch Landgemeinden als politisch berechtigter Stand in den Landtagen vertreten (z. B. die Täler und Gerichte in Tirol). Die verschiedenen Ständegruppen bildeten auf den Landtagen eigene Kurien. Der Erwerb der Landstandschaft war stark reglementiert. Meist legten die Stände selbst die Bedingungen für die Aufnahme neuer Mitglieder fest; mancherorts redete dabei auch der Fürst mit. Der Landesherr gehörte in politischer Hinsicht nicht zu den Ständen.
Die Abstimmungen im Landtag fanden fast überall nach Kurien statt. Das heißt, zuerst einigte man sich innerhalb des eigenen Standes - dabei kam in der Regel das Mehrheitsprinzip zur Anwendung -, dann verglich man die Voten der einzelnen Stände. Ein Landtagsbeschluss kam zustande, wenn Einstimmigkeit der Kurien erzielt wurde. Nur wenige Länder ließen hier ebenfalls das Mehrheitsprinzip gelten. Zu entscheiden hatten die Stände vor allem über Steuerbewilligungen, vielerorts auch über interne Angelegenheiten.
Neben der Teilnahme an den Landtagen gelang es den Ständen auch, wichtige Ämter ausschließlich für ihre Mitglieder zu reservieren. Vor allem die Finanzverwaltung des Landes war lange in ständischer Hand, ehe sie von den nach absoluter Macht strebenden Fürsten übernommen werden konnte.
Der Höhepunkt ständischer Macht lag in den meisten europäischen Ländern in der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In manchen evangelisch gewordenen Territorien verschwanden die Klöster und Stifte im Laufe des 16. Jahrhunderts aus dem ständischen System, in anderen (z. B. Württemberg) nahmen evangelische Prälaten die Rechte ihrer katholischen Vorgänger wahr.
Regionale Besonderheiten
In den Niederlanden gelang es den Ständen, die politische Macht ganz in die eigenen Hände zu nehmen und die Herrschaft sowohl des Landesfürsten als auch des Kaisers zu beseitigen. Die Bezeichnung Generalstaaten (Generalversammlung der Stände) für die Niederlande im 17. Jahrhundert weist darauf hin. In der Schweiz wurden die Kantone als Stände bezeichnet (ihre parlamentarische Vertretung nennt sich noch heute Ständerat), in den Niederlanden die Provinzen. Adel und Klerus waren als politische Stände verschwunden.
In den Ländern der iberischen Halbinsel wurden die Versammlungen der politischen Stände Cortes genannt.
Die Zusammensetzung der politischen Stände in verschiedenen Ländern (im 16. Jahrhundert) Land Stände Bemerkungen Böhmen Herren, Ritter, Städte Seit der hussitischen Revolution gab es keinen geistlichen Stand mehr. Mähren Herren, Ritter, Städte dazu noch der Bischof von Olmütz Niederlausitz Herren, Ritter, Städte Die Äbte von Neuzelle gehörten seit der Reformation zum Herrenstand. Oberlausitz „Land“ und Städte Der Landstand besteht aus Prälaten und Adel mit einer gemeinsamen Stimme. Niederösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte – Oberösterreich Prälaten, Herren, Ritter, Städte – Tirol Prälaten, Adel, Städte, Bauern Die Bauern waren über die ländlichen Gerichtsgemeinden vertreten. Kurfürstentum Sachsen Adel und Städte Der Adel war unterteilt in Amtssassen und Schriftsassen. Mecklenburg Grundherren (Ritterschaft), Prälaten und Städte (Landschaft) Die Prälaten entfallen 1549 mit der Reformation. „Ständestaat“
Ein ideologischer Rückgriff auf die Ständeordnung bilden Ideen des Ständestaates, wie sie vor allem von katholischen Politikern und Sozialreformern seit dem späteren 19. Jahrhundert vertreten wurden und die auch in der Enzyklika Quadragesimo Anno von Papst Pius XI. auftauchen. Begrifflich handelt es sich um einen Bastard, da ja die Ständeordnung moderner Staatlichkeit vorausgeht und durch diese abgelöst wurde. Die Idee, die Gesellschaft nach Berufsgruppen oder „Ständen“ zu gliedern entstand als Protest gegen den liberalen Kapitalismus und der ihm inhärenten Gefahr sozialen Abstiegs. Mit dieser antiliberalen Stoßrichtung verwandelte sich diese Idee nach und nach zu einem Deckmantel für antidemokratische Tendenzen, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. „Ständestaat“ nannte sich vor allem das zumindest teilweise an den Faschismus angelehnte autoritäre Regierungssystem im Bundesstaat Österreich von 1934 bis 1938 (Austrofaschismus).
Literatur
- Hartmut Boockmann (Hrsg.): Die Anfänge der ständischen Vertretungen in Preußen und seinen Nachbarländern, München 1992, ISBN 3-486-55840-4.
- Günther R. Burkert: Landesfürst und Stände. Karl V., Ferdinand I. und die österreichischen Erbländer im Ringen um Gesamtstaat und Landesinteressen, Graz 1987.
- Silvia Petrin: Die Stände des Landes Niederösterreich, (=Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich, Band 64), St. Pölten u. Wien 1982.
- Dietrich Gerhard (Hrsg.): Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, (2. Aufl.) Göttingen 1974, ISBN 3-525-35332-4.
- János M. Bak: Königtum und Stände in Ungarn im 14.-16. Jahrhundert, Wiesbaden 1973.
- Johann Jacob Moser: Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünften, Frankfurt u. Leipzig 1769.
- Jost Amman (Bilder) und Hans Sachs (Verse): Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden hoher und nidriger, geistlicher und weltlicher, aller Künsten, Handwerken und Händeln …, (erstmals Frankfurt am Main 1568).
- Martin Luther, "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr gehorsam schuldig sei (1523), Weimarer Ausgabe 11, 245–281.
- Rainer Walz, Stände und frühmoderner Staat. Die Landstände von Jülich-Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Schmidt, Neustadt/ a. d. Aisch 1982.
- Gerhard Oestreich: Ständetum und Staatsbildung in Deutschland, in: Der Staat 6 (1967), S. 61–73.
- Otto Gerhard Oexle, Werner Conze, Rudolph Walther: Artikel: Stand, Klasse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 155–284.
- Otto Gerhard Oexle: „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewusstseins.“ Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung. In: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Hsg. v. Jürgen Miethke und Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 45–70.
- Reinhard Schwarz: Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen 3 Stände-Theorie. In: Troeltsch Studien. Bd.3. Protestantismus und Neuzeit, hsg. v. Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf. Gütersloh 1984, S. 78–88.
Siehe auch
Weblinks
- Landtag und Landstände - Vorformen des Parlamentarismus Vortrag von Prof. Dr. Ernst Schubert, Institut für Historische Landesforschung der Georg-Universität Göttingen
- Ständische Ordnungen am Anfang des 18. Jahrhunderts und das Braunauer Parlament
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