Steyerl

Steyerl
UNTER UNS Linz 09, Installation

Hito Steyerl (* 1966 in München) ist Filmemacherin und Autorin, die sich in essayistischen Dokumentarfilmen und Texten mit Fragen postkolonialer Kritik und feministischer Repräsentationskritik auseinandersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Steyerl studierte von 1987 bis 1990 Kinematographie und Dokumentarfilmregie an der Academy of Visual Arts in Tokio bei Imamura Shohei und Hara Kazuo. 1990/91 arbeitete sie im Team von Wim Wenders als Regieassistentin und technische Koordinatorin für den Film Until the End of the World in Australien, Japan, Frankreich, USA, Italien, Portugal und Deutschland. 1992 bis 1998 studierte sie an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München Dokumentarfilmregie; 2003 promovierte in Philosophie an der Akademie der Bildenden Künste, Wien. Neben ihrer künstlerischen Arbeit war sie im Bereich der Lehre tätig an der Universität der Künste Berlin (Gender und Cultural Studies), sowie am Center for Cultural Studies des Goldsmiths College London.

Ihre Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Film und bildender Kunst, sowie von Theorie und Praxis. Tätigkeit im Kunstbereich als Kommentatorin, Kritikerin und Lehrende – seit 2007 als Gastprofessorin für experimentelle Film- und Videogestaltung (Neue Medien) an der Berliner Universität der Künste. Ihre Filme werden weltweit bei zahlreichen Filmfestivals und Kunstausstellungen[1] gezeigt, zuletzt war sie Teilnehmerin an der documenta 12 in Kassel.

Werke

Ihre ersten kurzen und mittellangen Dokumentarfilme – Deutschland und das Ich (1994), Land des Lächelns (1996) und Babenhausen (1997) – thematisierten Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus im wiedervereinigten Deutschland. Steyerls erster langer Essayfilm Die leere Mitte[2] von 1998 machte den Potsdamer Platz in Berlin als symbolischen Kreuzungspunkt historischer und aktueller Konflikte lesbar. Das frühere Zentrum der Hauptstadt der Weimarer Republik und des NS-Staates wurde während des Kalten Krieges zum verminten Grenzterritorium. Steyerls Film verfolgt, wie verschiedene AkteurInnen – BesetzerInnen, frühere AnwohnerInnen, transnationale Firmen – nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 um die Deutungsmacht über den wieder ins Zentrum gerückten Ort konkurrierten. Die leere Mitte macht den Prozess urbane Restrukturierung im Zeichen der ökonomisch-politischen „Wiedervereinigung“ Deutschlands und globaler Machtverschiebungen an einem konkreten Ort sichtbar. Dort, wo letztlich die Firmenleitung von Mercedes-Benz symbolisch dominiert, verzeichnet der Film Geschichten, auf deren Ausschluss die dominante Repräsentation aufgebaut wurde – etwa die von deutschen JüdInnen und ImmigrantInnen. Montage von Footage-Sequenzen, langsame Überblendungen, halb-dokumentarische Inszenierungen und ein reflexiver Kommentar bildeten das Instrumentarium von Steyerls filmischer Archäologie.

Der Episodenfilm Normalität 1–10 entstand zwischen 1999 und 2001 und stellt eine Chronologie meist antisemitischer Gewalttaten im Nachwendedeutschland (und Österreich) dar. „Dabei bezieht Steyerl politisch eindeutig Position: Es gilt, die stille Akzeptanz zu durchbrechen, den opportunen rassistischen Konsens. Normalität zeigt aber auch, wie MigrantInnen – die es nicht zuletzt aufgrund von Europas Engagement im globalen Kapitalismus hierher verschlägt – selbst ihre Rechte einfordern und uns erinnern: ‚Your silence is encouraging fascism, telling the fascists that it’s okay what they are doing’.“ (Thomas Korschil) [3] Die Kompilation wurde 2005 überarbeitet.

November[4] (2004) ist eine essayistische Betrachtung über „reisende Bilder“ (Steyerl): „In den achtziger Jahren drehte Hito Steyerl auf Super-8-Material einen feministischen Martial-Arts-Film. Ihre beste Freundin Andrea Wolf spielte darin die Hauptrolle einer kämpferischen Frau in Lederkluft und mit Motorrad. Das Engagement, das damals in der Formensprache des Exploitationfilms zum Ausdruck kam, wurde bei Andrea Wolf später ganz zur politischen Praxis: Sie ging als Kämpferin auf Seiten der PKK in die kurdischen Gebiete zwischen der Türkei und Nordirak, wo sie 1998 getötet wurde. In kurdischen Kreisen wird sie als ‚unsterbliche Revolutionärin’ verehrt, ihr Bild wird auf Demonstrationen mitgetragen. Steyerl untersucht in ‚November’ die Wechselbeziehungen zwischen territorialer Machtpolitik (wie sie die Türkei mit Unterstützung aus Deutschland in Kurdistan betreibt) und individuellen Formen des Widerstands. Die Erinnerung an die Freundin und die Zeugnisse ihres Lebens provozieren die Filmemacherin zu einer grundsätzlichen Reflexion: Sie begreift, wie im globalen Diskurs die faktischen und fiktionalen Zusammenhänge ineinander übergehen. Das Bild der Freundin als revolutionäres Pin-Up ist anschlussfähig an asiatisches Genrekino und private Videodokumente gleichermaßen. Wenn der ‚Oktober’ die revolutionäre Stunde ist, dann ist der ‚November’ die Ernüchterung danach, aber auch die Zeit des Wahns – aus dieser Position denkt Hito Steyerl über eine Beziehung nach, an deren Anfang eine Pose stand, deren Implikationen Andrea Wolf so ernst nahm, dass sie sich mit symbolischer Praxis nicht mehr begnügen wollte. Andrea Wolf wählte das Andere des Filmemachens, und wurde erst recht zu einer ‚Ikone’.“ (Bert Rebhandl) [5] Der Film wurde auf der manifesta 5 in San Sebastian uraufgeführt und erlangte schnell Kultstatus.

Im kurzen Essayfilm Journal No. 1 – An Artist's Impression geht es um eine grundsätzliche Reflexion des Status des historischen Dokuments, sowie um die Rolle des Zeugen in der Geschichtsschreibung. Das Motto dieses Films lautet: „Ein Zeuge ist kein Zeuge“, ein alter römischer Rechtgrundsatz, der dem Zeugen erst Glauben schenkt, wenn sich ein zweites übereinstimmendes Zeugnis findet. Dieses Motto wird im Laufe des Films einer experimentellen Prüfung unterzogen: „Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Sarajewo das ‚Film-Journal No. 1’ veröffentlicht, vier Jahre nach dem Ende des kommunistischen Blocks ging diese Wochenschau, die nur auf Nitrofilm überliefert wurde, in den Wirren des Jugoslawienkriegs verloren. Hito Steyerl versucht in ‚Journal No. 1 – An artist’s impression’, herauszufinden, was auf diesem Filmdokument aus dem Sutjeska-Studio von Sarajewo zu sehen war. Sie lässt dazu Augenzeuginnen und Augenzeugen sprechen, und den Künstler Arman Kulasic nach ihren Angaben mehrere Zeichnungen anfertigen, die wie Storyboards zu einem verlorenen Film wirken. In der Parallelprojektion von ‚Journal No. 1 – An artist’s impression’ wird das Unerreichbare eines historischen Nullpunkts der nationalen Identität konkret: Was in der Rückschau als Moment des Aufbruchs erscheint (die Wochenschau handelte von einer Alphabetisierungskampagne, die muslimischen Frauen nahmen selbstbewusst ihren Kopftücher ab, das kommunistische Jugoslawien unter Tito feiert in seinen frühen Filmen ein Modernisierung durch Bildung), bleibt unter dem Vorbehalt der subjektiven Erinnerung. Stattdessen gewinnt der Zeichner, der doch eigentlich nur als ‚Medium’ für die Stimmen aus dem Off dienen sollten, selbst eine Stimme: Er war auch von den ethnischen Säuberungen im Jugoslawienkrieg betroffen. Spielfilmbilder des Sutjeska-Studios (den antifaschistischen ‚Walter rettet Sarajewo’ oder ‚Erinnerst du dich an Dolly Bell?’ von Emir Kusturica) setzt Hito Steyerl dort ein, wo das dokumentarische Bild fehlt, ohne jemals auf eine komplette Rekonstruktion zu zielen: Das multiethnische Jugoslawien bleibt historisch wie filmhistorisch ein Fragment, ein Land zwischen den Bildern.“ (Bert Rebhandl) [6] Der Film wurde auf der documenta 12 uraufgeführt und lief seither auf etlichen Filmfestivals und in verschiedenen Ausstellungen in Toronto, Linz, Amsterdam, Marseille und anderen Orten.

In Lovely Andrea (2007) setzte Steyerl ihre in November begonnene Bildreflexion fort: „Wenn alle Bilder gegenwärtig werden, indem sie vorübergehen und dabei, elegant oder obszön, durch Übersetzung oder Assoziation, miteinander verknüpfbar sind – wie lässt sich dann ein Bild festmachen? Um elegant-obszönes Festmachen durch Verknüpfung geht es in Hito Steyerls fröhlichen Bild-Übersetzungen: In Tokyo sucht sie nach einer Fotoserie, für die sie 1987 als ‚Rope Bondage’-Model posiert hat. Auf Recherche bei Kennern und Meistern der (heute vor allem im Netz vermarkteten) Fesselungskünste wird sie in einem Zeitschriftenarchiv fündig. Die filmische Spannung sei gerade extrem hoch, sagt die Dolmetscherin, während Steyerl Fotos ihrer selbst aus filmstudentischen Tagen durchsieht. Eine Festmachung, aber keine biografische Letztoffenbarung; vielmehr gerät der Bilderfund selbst in den Sog eines informell vernetzten Archivs des medialen Lebens mit Bondage – im Sinn dessen, dass Herr-und-Knecht-Spiele, wie es heißt, alltagsnormal sind. Citizen Kanesche Detektivik kreuzt Bild-Kaskaden der Klugeschen Art, dazu Fetzen von Superhelden-Cartoons, Depeche Mode, X-Ray Spex, Girls mit Nadel und Faden im Videoclip-Sweatshop. Einst galt Bilder-Zensur verschnürten Models, heute trifft sie den ‚Spider-Man’-Teaser mit dem zwischen den Twin Towers gespannten Netz; manche Fesselungen sind Kriegsverbrechen, andere nehmen den Platz der Kunst ein. Und die Dolmetscherin, selbst Bondage-Model, Studentin (des Web Design!) und eben Übersetzerin, nimmt als Alter Ego den Platz der Filmemacherin ein; sie schwebt im Akt der Selbstbestimmung qua self-suspension. Selbst-Suspendierung, das geschieht in der Historie wie auch, als gewendete, in Steyerls Montage: von Gesicht und Identität zum ‚Genital’, nicht als Anblick verstanden, sondern als Logik der (freizulegenden) Herkunft, der Auflösung medialer Klischees in Macht-Fragen und – in den Production Shots, die den Film rahmen – der Erlösung der Pose in der Panne.“ (Drehli Robnik) [7] In Interviews äußerte Steyerl, sie sei in Zusammenhang mit Bildern aus Guantánamo und Abu Ghraib zum Nachdenken über die damit einhergehende Pornografisierung der Politik gekommen.[8] Aus ihrer Sicht hat man es „… hier mit einer Art von politischem Bondage von ungeahnten Ausmaßen zu tun.“[9][10].

Bei der documenta 12 war Steyerl auch mit der Installation Red Alert im Aue-Pavillon vertreten. Red Alert zeigte scheinbar drei orange-rote Bilder, die tatsächlich an der Wand hängende Bildschirme waren, die ausschließlich die reine Farbe ausstrahlten. Es handelte sich dabei um die Farbe, die vom U.S. Homeland Security Office verwendet wird, um die höchste Terror-Warnstufe anzuzeigen. Formal griff die Arbeit eine Monochromserie Aleksander Rodtschenkos aus dem Jahr 1921 wieder auf. Rodtschenko hatte damals erklärt, am Ende der Malerei angelangt zu sein. Red Alert verhandelt laut Steyerl eine ähnliche Grenze des Mediums Video. Nach Presseberichten ist diese Arbeit voraussichtlich eines der 5 Werke, die repräsentativ für die d12 dauerhaft in Kassel verbleiben werden.

Filmografie

  • 2007: Journal No 1
  • 2007: Lovely Andrea
  • 2004: November
  • 1999: Normalität 1-10
  • 1998: Die leere Mitte
  • 1997: Babenhausen
  • 1996: Land des Lächelns
  • 1994: Deutschland und das Ich

Texte

Bücher

  • Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien: Turia + Kant (republicart 8), 2008, ISBN 978-3-85132-517-1
  • Tester. San Sebastian: Arteleku, 2004 (Hg. gemeinsam mit Fondacion Rodriguez, Marina Grzinic, Jose Maria Mariategui, Marcus Neustetter und Oliver Ressler).
  • Spricht die Subalterne deutsch? Postkoloniale Kritik und Migration. Münster: Unrast Verlag, 2003 (Hg. gemeinsam mit Encarnacion Gutierrez Rodriguez).

Artikel (Auswahl)

  • „Die Gegenwart der Subalternen.“ In: Can the Subaltern speak German. Gayatri Spivak. Vorwort. Wien: Turia + Kant, 2007.
  • „Dokumentarismus als Politik der Wahrheit.“ In: Gerald Raunig (Hg.): Differences and Representations. Wien: Turia + Kant 2004.
  • „Die leere Mitte.“ In: Ursula Biemann (Hg.): Stuff it: The Video Essay in the Digital Age. Edition Voldemeer / Springer, Zürich, Wien, New York 2003.

Quellen

  1. Siehe [1]
  2. Vgl. dazu Christina Gerhardt: Transnational Germany: Hito Steyerl's Film Die leere Mitte and Two Hundred Years of Border Crossings. In: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture 23 (2007) 205-223. Online unter [2]
  3. Sixpack Film Wien [3]
  4. Ein kurzer Ausschnitt und Hito Steyerls Treatment zum Film mit zahlreichen visuellen Materialien finden sich auf der Website des Department of German an der University of California in Berkeley [4]
  5. Sixpack Film Wien [5]
  6. Sixpack Film Wien [6]
  7. Sixpack Film Wien [7]
  8. Christoph Bannat: Theorie aus Notwehr – Ein Gespräch mit der documenta-Künstlerin Hito Steyerl, 14. Juni 2007, online unter [8]
  9. hr-online.de: Hito Steyerl: “Lovely Andrea“, unter: hr-online.de, 28. Mai 2007.
  10. Rezensionen des Films finden sich z. B. unter Austrian Independent Film and Video Database oder unter [9]

Weblinks


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