Strafverfolgungshindernis für DDR-Spione

Strafverfolgungshindernis für DDR-Spione
Strafverfolgungshindernis für DDR-Spione
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verkündet
15. Mai 1995
Fundstelle: BVerfGE 92, 277
Aussagen
1. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG), nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, kann nicht festgestellt werden.

2. Zur Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach der Vereinigung Deutschlands wegen ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit.

Richter
Limbach, Böckenförde, Klein, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer
Angewandtes Recht
Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 38 GG; Art. 25 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 31 HLKO; Art. 315 Abs. 4 EStGB; § 94 StGB; § 99 StGB

Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Kammergerichts und dreier Verfassungsbeschwerden mit der Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten von DDR-Geheimdiensten nach der Wiedervereinigung wegen einer gegen die Bundesrepublik Deutschland oder andere NATO-Staaten gerichteten Spionagetätigkeit. Das Bundesverfassungsgericht stellte mit Beschluss vom 15. Mai 1995 fest, dass diesbezüglich von Verfassungs wegen ein Hindernis für die Strafverfolgung besteht.[1]

Inhaltsverzeichnis

Sachverhalt

Durch den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. August 1990 wurde der Anwendungsbereich des bundesdeutschen Strafrechts auf das Gebiet der DDR ausgedehnt. Danach hatten sich ehemalige DDR-Bürger, die Mitarbeiter oder Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit oder des militärischen Geheimdienstes der DDR und gegen die Bundesrepublik oder andere NATO-Staaten tätig gewesen waren, wegen Hochverrats (§§ 81ff. StGB) und geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 StGB) strafbar gemacht.

Anfang der 1990er Jahr kam es zu zahlreichen Strafverfahren gegen ehemalige Mitarbeiter und Agenten von DDR-Geheimdiensten. Diese beriefen sich darauf, dass eine allgemeine Regel des Völkerrechts (vgl. Art. 25 Grundgesetz) bestehe, die eine Strafverfolgung wegen einer im Auftrag und vom Gebiet eines anderen Staates aus begangenen Spionage hindere. Außerdem würde die Strafverfolgung das in Art. 103 Abs. 2 verankerte Verbot rückwirkender Strafgesetze verletzen, da die Spionagetätigkeit in der DDR nicht strafbar gewesen sei.

Das Bundesverfassungsgericht, das sich in einem verbundenen Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren mit dieser Frage zu beschäftigen hatte, konnte einen Verstoß gegen Art. 25 und 103 Abs. 2 Grundgesetz nicht erkennen. Es erkannte aber ein aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) abgeleitetes Verfolgungshindernis, das allerdings nur besteht, wenn die Betroffenen ihren Lebensmittelpunkt zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in der DDR hatten. Nicht erforderlich für das Eingreifen des Hindernisses ist hingegen, dass die Spionage ausschließlich vom Boden der DDR aus erfolgte. Es genügt, dass die Betroffenen in den Staaten, von denen aus sie ihrer Tätigkeit nachgingen, vor einer Strafverfolgung wegen dieser Handlungen sicher waren und diese Sicherheit erst nach der Wiedervereinigung entfallen ist.[2].

Folgen der Entscheidung

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führte in der Folgezeit dazu, dass ehemalige DDR-Bürger nicht mehr wegen Spionagehandlungen gegen die Bundesrepublik oder andere NATO-Staaten verfolgt werden konnten. Bundesbürger und Bürger von Berlin (West) können sich jedoch genauso wenig auf die Entscheidung berufen wie Agenten anderer östlicher Geheimdienste.[3]

Die Entscheidung war richtungsweisend für den strafrechtlichen Umgang mit DDR-Spionage. In der Folge änderte der Bundesgerichtshof auf die Revision des ehemaligen 1. Stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit Markus Wolf seine frühere Rechtsprechung[4] und hob das Urteil der Vorinstanz auf. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte Wolf ursprünglich u.a. wegen Landesverrats verurteilt.[5]

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Entscheidung unterschiedlich bewertet: Einerseits wird vertreten, sie diene dem Rechtsfrieden im vereinigten Deutschland, andererseits äußern viele Autoren Kritik.[6]


Literatur

  • Karl Doehring: Zur Ratio der Spionenbestrafung – Völkerrecht und nationales Recht, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1995, S. 293–297
  • Thomas Hillenkamp: Offene oder verdeckte Amnestie – über Wege strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung, in Juristenzeitung 1996, S. 179–187
  • Peter M. Huber: Die Strafbarkeit von MfS-Spionen, in: Juristische Ausbildung 1996, S. 301–307
  • Friedrich-Christian Schroeder: Die Strafbarkeit der Ausforschung der Bundesrepublik durch die DDR, in: Juristische Rundschau 1995, S. 441–445
  • Klaus Volk: Übermaß und Verfahrensrecht – Zur Spionage-Entscheidung des BVerfG, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1995, S. 367–371
  • Gerhard Werle/Klaus Marxen/Petra Schäfter/Ivo Thiemrodt: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Band 4, Spionage, Teilband 1. De Gruyter, Berlin 2004. ISBN 3-89949-080-0

Quellen

  1. BVerfGE 92, 277, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Mai 1995, Az. 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93.
  2. Jochen A. Frowein/Rüdiger Wolfrum/Gunnar Schuster: Völkerrechtliche Fragen der Strafbarkeit von Spionen aus der ehemaligen DDR. Gutachten erstattet im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts und Beschluß, Springer Verlag Berlin (September 2007), S. 157 ff., ISBN 3-540-60375-1
  3. Generalbundesanwalt Kay Nehm über Amnestie und die Verfolgung von DDR-Spionen im Spiegel-Interview/DER SPIEGEL 23/1995 vom 05.06.1995, Seite 87a
  4. BGHSt 39, 260 ff.
  5. BGHSt 41, 292 ff. ("Fall Markus Wolf")
  6. Jochen A. Frowein/Rüdiger Wolfrum/Gunnar Schuster: Völkerrechtliche Fragen", S. 168 ff.

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