- Suññatā
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Shunyata bzw. Śūnyatā (Sanskrit, f., शून्यता; Pali: suññatā; chin. 空, kōng, W.-G. k'ung; jap. 空, kū, tib.: stong pa nyid) ist ein zentraler Begriff im Mahayana-Buddhismus und bedeutet soviel wie Leere, Leerheit oder auch Substanzlosigkeit.
Inhaltsverzeichnis
Leerheitsbegriff
Der Begriff der Shunyata leitet sich unmittelbar aus der buddhistischen Lehre vom "Nicht-Selbst" ab. Er verweist auf die Substanzlosigkeit aller Phänomene infolge ihrer Abhängigkeit von bedingenden Faktoren: ihrem bedingten Entstehen (Skrt.: pratityasamutpada, Pali: paticca samuppada). "Leerheit" ist somit eine Umschreibung für das Fehlen eines konstanten Seins, einer Eigennatur und eines beständigen Ich im steten Wandel der Existenz. Die Erscheinungen sind in ihrer Leerheit ohne eigenes Kennzeichen, ohne inhärente Eigenschaften und damit nicht mehr als nominalistische Begriffe einer nicht wesenhaften Welt. Die Welt ist keine Welt des Seins, sondern des ständigen Werdens, in dem es keine festen Substanzen und keine unumstößlichen Realitäten gibt.
Geschichtliche Entwicklung des Leerheitsbegriffes
Pali-Kanon
Der Leerheitsbegriff ist an mehreren Stellen des Pali-Kanons überliefert. Er wird darin jedoch meist adjektivisch verwendet. Hierzu ein Zitat aus dem Samyutta-Nikaya (einem Dialog zwischen Buddha und seinem Cousin und Schüler Ananda), das dies unterstreicht:
"Leer, ist die Welt, leer ist die Welt, o Herr, sagt man. Inwiefern aber wird gesagt, die Welt sei leer?" - "Was da, Anando, leer von Ich und zum Ich Gehörigen ist, zu dem, Anando, wird gesagt: 'Leer ist die Welt'. Was aber ist leer von Ich oder zum Ich Gehörigen? Die 6 Innen- und Außengebiete, die 6 Arten des Bewußtseins, die 6 Berührungen, die 18 Gefühle. Das ist leer von Ich und zum Ich Gehörigen." (Samyutta Nikaya 35.85)
In zwei Suttas des Majjhima-Nikaya (Mahasunnata Sutta und Culasunnata Sutta) taucht allerdings auch die später im Mahayana übliche, substantivierte Form auf. Hierzu ein Zitat aus dem "Culasunnata Sutta", in dem die verschiedenen Versenkungszustände der Samatha-Meditation erläutert werden:
"Weiter sodann, Anando, hat der Mönch den Gedanken 'Unbegrenzte Bewußtseinsphäre' entlassen, den Gedanken 'Nichtdaseinsphäre' entlassen; den Gedanken 'Grenzscheide möglicher Wahrnehmung' nimmt er auf als einzigen Gegenstand. Im Gedanken 'Grenzscheide möglicher Wahrnehmung' erhebt sich ihm das Herz, erheitert sich, beschwichtigt sich, beruhigt sich. Also erkennt er: 'Spaltungen, die aus dem Gedanken 'Unbegrenzte Bewußtseinsphäre' entständen, die gibt es da nicht, Spaltungen, die aus dem Gedanken 'Nichtdaseinsphäre' entständen, die gibt es da nicht; und nur eine Spaltung ist übrig geblieben, nämlich der Gedanke 'Grenzscheide möglicher Wahrnehmung' als einziger Gegenstand.' Er weiß: 'Weniger geworden ist diese Denkart um den Gedanken 'Unbegrenzte Bewußtseinsphäre', weiß: 'Weniger geworden ist diese Denkart um den Gedanken 'Nichtdaseinsphäre'; und nur einen Reichtum weist sie auf am Gedanken 'Grenzscheide möglicher Wahrnehmung' als einzigen Gegenstand.' Um was denn also weniger da ist, darum weniger geworden sieht er es an; und was da noch übrig geblieben ist, davon weiß er: 'Bleibt dieses, bleibt jenes.' Also aber, Anando, kommt diese wahrhafte, unverbrüchliche, durchaus reine Leerheit über ihn herab." (Majjhima Nikaya 121)
Das Prädikat "leer" bezieht sich im frühbuddhistischen Zusammenhang noch ausschließlich auf die Ichlosigkeit und nicht auf eine angenommene "letztendliche" Bestehensweise der Daseinsfaktoren (Skrt.: dharmas, Pali: dhammas), insbesondere der fünf Skandhas in ihrem abhängigen Entstehen, welche nach frühbuddhistischer Lehre die gesamte Erfahrungswelt einer Person ausmachen. Dies ändert sich später in einigen Schulen des Hinayana, insbesondere in den Schulen des Sarvastivada und des Sautrantika, die, ausgehend von der Systematik des Abhidharma, diskutieren, ob die Daseinsfaktoren über eine dauerhafte Eigenexistenz (svabhava) verfügen oder nur momenthaft aufblitzen, um im selben Augenblick wieder vollständig zu verlöschen.
Prajnaparamita-Literatur
In den Prajnaparamita-Schriften des Mahayana (z.B. im Herz-Sutra), deren Entstehungszeit um das 1. Jahrhundert v. Chr. anzusiedeln ist, findet der Leerheitsbegriff in der substantivierten Form seinen festen Platz. Es kommt dabei zu einem Bedeutungswandel. Die Daseinsfaktoren, die die gesamte Erfahrungswelt der Person konstituieren, sind nicht nur leer von einem Selbst, sondern leer von jeglicher Eigenexistenz. Alle Wesen, ob verblendet oder erleuchtet, sind demnach im universellen Bedingungszusammenhang des pratityasamutpada untrennbar miteinander verwoben und in ihrer Leerheit, die daraus resultiert, letztlich nicht voneinander getrennt und unterschiedslos. Es findet eine Universalisierung des Leerheitsaspekts statt. Auf dem Gipfel der Erkenntnis (prajna) wird keine Unterscheidung mehr getroffen zwischen Samsara und Nirvana, "bedingt" und "nichtbedingt", "existent" und "nichtexistent", "gleich" und "verschieden". Dies sind dualistische Begriffe, die infolge ihrer Aufeinander-Bezogenheit leer von eigenem Wesen sind und auf die Wirklichkeit, wie sie sich wahrhaft darstellt, nicht zutreffen. Es zeigt sich hier die zunehmend wichtige erlösende Rolle, die im Mahayana der Erkenntnis (prajna) und dem Wissen (jnana) zukommt, da alle Wesen in ihrer Leerheit bereits potentiell erlöst sind und es diese Gegebenheit nur noch zu erkennen gilt.
Madhyamaka
In der frühen Literatur des Mahayana findet sich auch der Ansatz für Nagarjuna, auf dessen Wirken die Schule des Mittleren Weges (Madhyamaka) zurückgeht. Nagarjuna verfolgte den in den Prajnaparamita-Schriften eingeschlagenen Kurs konsequent weiter und berief sich in seiner Argumentation zudem auf die überlieferten Aussagen des Buddha. Die in den buddhistischen Schulen entbrannte Diskussion über den Wirklichkeitsgrad und ontologischen Status der Daseinsfaktoren brachte ihn dazu, den Leerheitsbegriff weiter auszuarbeiten. Er setzte ihn als didaktisches Werkzeug ein, mithilfe dessen er unheilsame extreme Ansichten wie die des "Seins" (bhava) oder des "Nichtseins" (abhava) zurückwies. Leerheit war für Nagarjuna somit weder ein Absolutes noch ein der Vielfalt der Phänomene gegenübergestelltes Vakuum. Er verwies mit dem Begriff auf die fehlende Eigenexistenz (svabhava) alles Zusammengesetzten und abhängig Entstandenen und machte dabei mehrfach darauf aufmerksam, nicht den Fehler zu begehen, die Leerheit mit einer hinter der Welt liegenden "Realität" oder einer Ansicht zu verwechseln, die diese Realität repräsentiert. Selbst die Leerheit erklärt Nagarjuna für leer von inhärenter Wirklichkeit. Sie kann nicht widerspruchslos ausgedrückt werden, da jede Aussageweise stets eine verhüllte Wahrheit (samvrtti satya) wiedergibt. Die Wahrheit im höchsten Sinn (paramartha satya) kann sich nur in der nonverbalen Erkenntnis (prajna) als Leerheit zeigen. Seine Methodik, den Praktizierenden an die Leerheit heranzuführen, war daher dekonstruktiv: er versuchte, über den Weg der strikten Negation jeglichem Anhaften an einer bestimmten Ansicht vorzubeugen und dem "Ergreifen" (Upadana) damit von vorneherein den Nährboden zu entziehen.
Yogacara
In der Schule des Yogacara wurde hingegen versucht, die Leerheit positiv zu formulieren. Im Zuge dessen wurden Begriffe entwickelt wie "Schoß des Tathagata" (tathagatagharba), "Soheit" (tathata), "Dasheit" (tattva) oder "Reich aller dharmas" (dharmadhatu), die als Vorboten der später im außerindischen Buddhismus geläufigen Bezeichnung "Buddhanatur" anzusehen sind. Im Yogacara fungiert nun der Geist als Grundlage von Samsara und Nirvana: ihn gilt es, durch Training des Geistes (Meditation) zu erkennen und schlussendlich vollständig zu verwirklichen.
Abgrenzung zu westlichen Vorstellungen
In Abgrenzung gegen die westliche Vorstellung von "Nichts" (im Sinne eines physikalischen Vakuums) beinhaltet der Begriff Shunyata also gleichzeitig das Potential der Entstehung von Phänomenen ("Leerheit ist Form, Form ist nichts anderes als Leerheit", Herz-Sutra). Diese Kernaussage des Mahayana zielt darauf ab, dass es unmöglich ist, durch die beiden extremen Weltanschauungen der Vernichtungslehre (ucchedavada) und des Eternalismus (sassvatavada) die wahre Natur des Geistes (und somit aller Erscheinungen) zu ergründen; eben der "Mittelweg" (daher: Mittlerer Weg, Skrt.: madhyamapratipad) führt schließlich zur Erkenntnis von Prajnaparamita - der letztendlichen (engl. ultimate) Weisheit, mit der nichts anderes als Shunyata gemeint ist.
Auf das buddhistische Philosophieren über die Leerheit ist die "Erfindung" der Null und letztendlich des Dezimalsystems zurückzuführen. In Hindi heißt "Null" heute noch shunya (siehe indische Mathematik).
Siehe auch
Literatur
- The fifth Dalai Lama: Practice of Emptiness - The Perfection of Wisdom Chapter of the Fifth Dalai Lama's "Sacred Word of Manjushri", Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala 1974
- Nishitani Keiji: Was ist Religion?. deutsche Übertragung von Dora Fischer-Barnicol, Frankfurt am Main 1982
- Nishitani, Keiji: Religion and Nothingness. The University of California Press, Berkeley 1982, ISBN 0520049462
- Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik http://orient.ruf.uni-freiburg.de/dotpub/kohl.pdf
- Bernhard Weber-Brosamer, Dieter M. Back: Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mulamadhyamaka-Karikas. 2. Auflage. Harassowitz, Wiesbaden 2005, ISBN 3-44705-250-3 (Übersetzung des buddhistischen Basistexts mit kommentierenden Einführungen)
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