- Szenisch
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Szenisches Verstehen ist ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie der Psychoanalyse von Alfred Lorenzer. Erstmals entfaltete Lorenzer das „szenische Verstehen“ als Schlüsselbegriff in seiner Arbeit Sprachzerstörung und Rekonstruktion, um die psychoanalytische Methode gegenüber Nicht-Psychoanalytikern zu erläutern.[1] Lorenzer sah mehrere Sprachebenen neben- und übereinander. In der Alltagskommunikation dominiere die verbal-diskursive Sprachebene mit eher alltäglichem oberflächlichem Symbolcharakter. Daraus ergaben sich für Lorenzer mehrere Verstehensebenen:
- Logisches Verstehen des sachlichen Gehalts von Kommunikation und Interaktion (Verstehen des Gesprochenen),
- Psychologisches Verstehen des emotionalen Beziehungsgehalts (Verstehen des Sprechers),
- Szenisches Verstehen derjenigen Muster einer Szene, welche die Lebensäußerungen mitorganisieren (Verstehen der Situation),
- Tiefenhermeneutisches Verstehen der in Szenen verborgenen Wünsche und Abwehrvorgänge.
„Szenisches Verstehen“ meint das, was sich in der Interaktion zwischen Menschen abspielt, bewusst oder unbewusst. Letzteres ist für die bewusste Integration bisher verborgen gebliebener Lebensentwürfe wichtig.
„Das wichtigste Instrument der psychoanalytischen Untersuchung ist das szenische Verstehen als Verstehen von Lebenssituationen, von Szenen des menschlichen Alltags[2].“
Charakteristisch für die von Sigmund Freud kultivierte Verstehensmethode sei, so Lorenzer, dass Freud vorurteilslos genug war, um systematisch so zu verstehen, wie es jeder ohnehin tue:
„Tatsächlich gebrauchen wir ja alltagspraktisch grundlegend weder das logische noch das psychologische, sondern das szenische Verstehen. Wer einen Raum betritt, in dem eine Runde von Menschen versammelt ist, wird sich, bevor er noch ein Wort hört, aus der Situation ein Bild machen, ob er in eine Kirchengemeinde, eine Gasthausrunde oder in ein Seminar geraten ist. Er wird die Situation ‚szenisch‘ verstehen[3].“
Literatur
- Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1970.
- Klaus Ottomeyer: Prinzip Neugier. Einführung in eine andere Sozialpsychologie. Unter Mitarbeit von Michael Wieser. Asanger, Heidelberg 1992, ISBN 3-89334-224-9.
- Michael Wieser: Szenisches Verstehen – Ein erster theoretischer Erkundungsversuch (Psychoanalyse, Psychodrama). In: Psychotherapie Forum 2, 1994, S. 6–19.
- Alfred Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften. Hrsg. von Ulrike Prokop. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-94354-4.
- Alfred Lorenzer: Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten. Hrsg. von Ulrike Prokop und Bernard Görlich. Tectum, Marburg 2006, ISBN 3-8288-8934-4 (Kulturanalysen, Bd. 1).
Einzelnachweise
- ↑ Einleitung. Alfred Lorenzer und die Perspektiven einer grenzüberschreitenden Psychoanalyse. In: Alfred Lorenzer: Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten. Hrsg. von Ulrike Prokop und Bernard Görlich. Tectum, Marburg 2006, ISBN 3-8288-8934-4 (Kulturanalysen, Bd. 1), S. 7–11, hier S. 8.
- ↑ Alfred Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften. Stuttgart 2002, S. 64.
- ↑ Alfred Lorenzer: Vorwort des Herausgebers. In: Alfred Lorenzer (Hrsg.): Kultur-Analysen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 7–9, hier S. 8.
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