- Theodizeefrage
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Theodizee [ˌteodiˈt͜seː] (frz. théodicée, v. altgriech. θεός theós „Gott“ und δίκη díke „Gerechtigkeit“) heißt „Rechtfertigung Gottes“. Das Theodizeeproblem ist ein klassisches philosophisches und theologisches Problem für diejenigen religiösen Traditionen, die von der Existenz eines allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gottes ausgehen. Es besteht in der Frage, wie die Existenz eines solchen Gottes mit der Existenz des Übels oder des Bösen in der Welt vereinbar sei.
Der Begriff selbst geht auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, der 1710 in seinem Werk Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal nachzuweisen versuchte, dass diese Welt „die beste aller möglichen Welten“ sei und deshalb die Existenz des Übels in der Welt nicht der Güte Gottes widerspreche. Eine weithin bekannte Antwort auf diese These ist Voltaires satirischer Roman Candide oder der Optimismus.
Angesprochen wird die Thematik schon im Buch Ijob im Alten Testament. Im antiken Griechenland wurde sie von skeptischen Philosophen erörtert. Das Buch Ijob geht dabei von einem aktiven Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen aus, während die griechischen Skeptiker als Vertreter des Agnostizismus die Idee einer göttlichen Lenkung und Prädestination bezweifelten.
Das Problem
Eine prägnante, oft zitierte Formulierung des Problems lautet:
- Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
- Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft,
- Oder er kann es und will es nicht:
- Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist,
- Oder er will es nicht und kann es nicht:
- Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,
- Oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:
- Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?
Diese Argumentation wurde von dem Kirchenschriftsteller Lactantius (ca. 250 bis nach 317) überliefert, der sie dem Philosophen Epikur zuschrieb,[1] allerdings zu Unrecht, denn sie ist nicht epikureisch, sondern stammt von einem unbekannten skeptischen Philosophen.[2] Der Skeptiker Sextus Empiricus hat im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinen Pyrrhoneischen Hypotyposen (3.3.9-12) dieselbe Überlegung in einer etwas ausführlicheren Version dargelegt.
Lösungsansätze
Das Theodizeeproblem besteht wegen des Widerspruchs zwischen zwei Aussagen: einerseits diejenige, es gebe einen allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott, andererseits diejenige, das Übel bzw. Böse in der Welt existiere real. Lösungen des Problems werden auf zweierlei Weise gesucht: Der Widerspruch wird aufgelöst, indem die eine oder die andere der beiden Aussagen eingeschränkt oder ganz fallen gelassen wird, oder indem man erklärt, wie an beiden Aussagen festgehalten werden kann. Es gibt im Wesentlichen folgende Lösungsansätze:
Bestimmung des Übels
Das Übel hat kein eigenständiges Sein, es ist ein Mangel am Guten
Schon der frühe christliche Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus und später mittelalterliche Denker wie Thomas von Aquin begründeten die Auffassung, das Übel habe kein eigenständiges Sein, sondern sei nur Mangel an Sein bzw. Mangel am Guten (privatio boni). Thomas nannte als Beispiel die Blindheit, die Entbehrung des Augenlichtes sei. Diese philosophische Position geht demnach von einem realen Mangel aus – im Gegensatz zu jener, die behauptet, das Leid bzw. das Übel sei für den davon Betroffenen nicht real.
Die Privationstheorie hat eine „außerordentliche Erfolgsgeschichte“ hinter sich, schreibt der zeitgenössische Theologe Friedrich Hermanni. Vom 2. bis in das 17. Jahrhundert hinein sei sie in fast allen philosophischen Systemen unumstritten gewesen – zwischen den Kirchenvätern und den spätantiken Philosophen, zwischen Aristotelikern und Platonikern, zwischen Thomisten und Scotisten, zwischen Reformatoren wie Philipp Melanchthon und römisch katholischen Dogmatikern wie Robert Bellarmin sei dies ein Punkt gewesen, in dem man sich einig war.
Im 17. Jahrhundert und bei einigen sogenannten Nominalisten im Universalienstreit bereits im 14. Jahrhundert, wurde das Leiden hingegen als ein Seiendes – eine auf empirischen Feststellungen beruhende Tatsache – betrachtet. Daher komme dem Übel auch eine eigene Realität zu. Weiterhin wurde vorgebracht, dass auch ein bloßer Mangel an Gutem, der zu Leid führt, nicht mit der Allmacht und Allgüte Gottes zu vereinbaren sei.
Das Böse ist Rest einer unvollkommenen Probeschöpfung Gottes (Kabbala)
Laut jüdisch-mystischer Sohar-Auslegung des Buches Genesis hat Gott vor der Schöpfung unserer Welt andere Welten erschaffen und wegen ihrer Unvollkommenheit wieder zerstört (soweit herrscht Übereinstimmung mit der Interpretation des Midrasch). Die Reste dieser Welten haben sich laut Sohar als „Hülsen“ (heb. qlipot) erhalten, die fortdauern und das Böse in der Welt verursachen (die „andere Seite“, heb. sitra achra). Da aber auch sie ursprünglich von Gott erschaffen wurden, enthalten sie noch „Funken von Heiligkeit“ (heb. nizzozot schel qduschah).
Diese Theorie steht zunächst im Widerspruch mit einigen Eigenschaften Gottes:
- Allwissen: Gott hätte wissen müssen, dass die vorherigen Welten unvollkommen sind.
- Allmacht: Gott hätte die unvollkommenen Welten perfekt erschaffen oder sie zumindest so weit beseitigen können, dass das Böse und Unvollkommene nicht Einzug in unsere Welt erhält.
- Allgüte: Wie kann Gott seine eigenen Schöpfungen zerstören, wenn er gütig ist? Und wie kann er zulassen, dass seine unvollkommenen Werke Leid über Unbeteiligte in unserer Welt bringen?
Diesen Widerspruch versuchen Kabbalisten durch die Einführung des Begriffs Zimzum aufzulösen. Zimzum, wörtlich Zusammenziehung oder Rückzug, ist ein Akt göttlicher Selbstbeschränkung des En Sof (des Unendlichen).
Wir leben in der besten aller möglichen Welten (Leibniz)
Nach Gottfried Wilhelm Leibniz gibt es eine unendliche Anzahl möglicher Welten. Von diesen hat Gott nur eine geschaffen, nämlich die vollkommenste, in der das Übel den kleinsten Raum hat („die beste aller möglichen Welten“). Jede Form des Übels ist letztlich notwendig und erklärbar.
Leibniz unterscheidet drei Arten des Übels:
- das malum metaphysicum, das metaphysische Übel, d. h. das Geschaffene ist notwendig unvollkommen, da es sonst mit Gott identisch wäre,
- das malum physicum, das physische Übel. Das bedeutet Schmerz und Leid sind notwendig, da sie vom Schädlichen abhalten und zum Nützlichen drängen und
- das malum morale, das moralische Übel, das bezeichnet die zur Abwendung von Gott führende Sünde.
Das Übel als Durchgangsstadium der Geschichte (Hegel)
Das Übel ist nur ein notwendiges Durchgangsstadium; es dient der dialektischen Entwicklung der Geschichte (Hegel).
Im Widerspruch dazu stehen Gottes Allgüte, denn nach Hegel kennt Gott bereits den Ausgang der Geschichte und erachtet es nicht für notwendig, regulierend (Leiden vermindernd) einzugreifen.
Das Übel hat einen guten Zweck (Teile der christlichen Theologie)
Das Übel habe, biblisch gesehen, einen guten Zweck: Das Erkennen von Gottes heiligen Eigenschaften setzt nach der Auffassung einiger Exegeten voraus, dass die Geschöpfe, die ihn dafür lieben sollen, auch den Gegensatz zwischen Gut und Böse erlernt haben. Mit dieser Erkenntnisfähigkeit wurde der Mensch aber nicht geschaffen. Er musste sie erst entwickeln. Woher aber hätte der Mensch den Gegensatz von Gut und Böse wissen können, wenn negative Umstände („das Böse“) nicht von außen an ihn herangetreten wären? Wie hätte dies ferner anders geschehen können, als durch ein Verbot, irgendetwas zu tun? So schuf Gott die Möglichkeit, dass die ersten Menschen von dem „Baum, der klug macht“, essen konnten (1 Mos 3,4 EU), dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Denn es ist häufig die Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht; besonders am Übel gemessen tritt das Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal die Ruhe. Nach einer dialektischen (allerdings höchst umstrittenen) Auffassung bilden für Gott diese Gegensätze eine Einheit – für Gott seien alle Dinge gerecht und gut, da sie in seinem Plan zielführend sind; Menschen mögen dagegen das eine für gerecht, das andere für schlecht halten. Wichtig sei es für sie, beides zu erleben.
Das Übel als undurchschaubarer Wille des Gottes der Bibel
Eine andere Interpretation der Bibel besagt, dem Menschen erscheinen Dinge als übel, aber er kann nicht objektiv urteilen. Für Gott habe das Übel einen Sinn, obwohl es aus menschlicher Sicht unverständlich ist. Gott ist demnach nicht nur für das verantwortlich, was Menschen subjektiv als „gut“ bewerten, sondern für alles, wenn man seine Allmacht ernst nehmen will. Dies wird u.a. mit folgenden Bibelstellen begründet:
- Gott hat demnach auch das Unheil erschaffen: „Ich [Gott] bilde das Licht und erschaffe das Finstere, bewirke das Gute und erschaffe das Unheil. Ich, Ieue Aluim, mache all dieses“ (Jes 45,7 EU).
- „Oder geschieht ein Unglück in der Stadt, und der HERR hätte es nicht bewirkt?“ (Am 3,6 EU).
- „Alles, d. h. ausnahmslos jedes Wesen, diene Gott“ (Ps 119,91 EU)
- Gott mache alles zu seinem Zweck, auch den Gottlosen (Spr 16,4 EU).
- Auch Unglaube wird als gottgewirkt angesehen, denn „Gott gibt ihnen einen Geist der Betäubung, Augen die nicht erblicken …“ (Röm 11,8 EU); „es [das Evangelium] ist denen verhüllt, die umkommen, in welchen der Gott dieses Äons die Gedanken der Ungläubigen blendet, damit ihnen der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus nicht erstrahle.“ (2 Kor 4,4 EU).
- „Was wollen wir nun vorbringen? Doch nicht, es gebe Ungerechtigkeit bei Gott! Möge das nicht gefolgert werden! Denn zu Mose sagt Er: Erbarmen werde ich Mich, wessen ich mich erbarmen möchte; und Mitleid werde ich haben, mit wem ich Mitleid haben möchte. Demnach liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Rennenden, sondern an dem sich erbarmenden Gott. Denn die Schrift sagt zu Pharao: Ebendeshalb habe ich dich erweckt, damit Ich an dir Meine Kraft zur Schau stelle und damit Mein Name auf der gesamten Erde kundgemacht werde. Demnach erbarmt Er sich nun, wessen Er will, aber Er verhärtet auch wen Er will.“ (Röm 9,14-18 EU), siehe dazu 2 Mos 4,21 EU, 9,12 EU, 14,4 EU, 14,7 EU.
- „Nun wirst du erwidern: Was tadelt Er dann noch? Wer hat je denn je Seiner Absicht widerstanden? – O Mensch, in der Tat, wer bist denn du, Gott gegenüber eine solche Antwort zu geben?
Das Gebilde wird doch nicht dem Bildner erwidern: Warum hast du mich so gemacht? – Hat der Töpfer nicht Vollmacht über den Ton, aus derselben Knetmasse das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre zu machen?“ (Röm 9,19-21 EU). - Gott wird die Macht zugeschrieben, auch das Wirken Satans ohne weiteres vollständig unterbinden oder einschränken zu können, wie es im nächsten Äon passieren werde: „Er [ein Bote Gottes] bemächtigte sich des Drachen, der uralten Schlange (die der Widerwirker und der Satan ist) und band ihn für 1000 Jahre.“ (Offb 20,1ff EU).
- So soll auch die Kreuzigung Jesu in seinem Plan festgelegt gewesen sein, und niemand hätte es verhindern können: „Herodes wie auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels [waren versammelt], um alles auszuführen, was Deine Hand und Dein Ratschluss vorherbestimmt hatten, dass es geschehe“ (Apg 4,26-28 EU).
Gottes Eigenschaften sind neu zu durchdenken
Für die Theodizeefrage sind unter den Eigenschaften Gottes die (angenommene) Allgüte, Allmacht, Unbegreiflichkeit und Allwissenheit relevant.
Gottes Allgüte wird relativiert
Einige Theologen und Philosophen haben – z. T. mit Hinweis auf biblische Aussagen – die Meinung vertreten, dass Gott in sich komplex und eben nicht nur gut sei. Der ‚liebe‘ Gott wäre eine Verkürzung des biblischen Gottesbildes, wobei man dennoch auf diesen Aspekt Gottes vertrauen soll. Bekannt sind die Unterscheidungen von Luther und Schelling: Luther hebt den Deus absconditus (verborgenen Gott; Zorn, Gesetz) und den Deus revelatus (offenbarten Gott; Liebe, Evangelium) voneinander ab; Schelling unterscheidet zwischen Grund und Existenz in Gott, wobei Gott qua Grund die Ursache für das Übel sei.
Einer noch stärker ausgeprägten ambivalenten Gottesvorstellung begegnet man zum Beispiel im Hinduismus, in der altägyptischen Religion (Ägyptische Mythologie, Ägyptische Religion), in der griechischen Mythologie oder in der germanischen Mythologie, wo die Götter nicht als absolut gütig und gut betrachtet werden. Sie vereinen helfende, gebende und friedensbringende Eigenschaften ebenso in sich wie zerstörerisch-wütende und kriegerische. In diesem Sinne wird durch eine ambivalente Gottesvorstellung ebenfalls die Allgüte Gottes relativiert.
Gottes Gerechtigkeit wird seiner Güte gegenübergestellt
Es wird argumentiert, die Gerechtigkeit Gottes mache es erforderlich, dass er nicht immer auf maximales Wohlergehen hinwirken könne. Menschliches Leiden wird gedeutet als „gerechte Strafe“ für menschliches Fehlverhalten und/oder für Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes und/oder für „Sünde“, d. h. die Trennung des Menschen von Gott.
Dieser Theodizee-Versuch ist dem Einwand ausgesetzt, dass menschliches Leiden oft in keinem Verhältnis zur Schuld des Betroffenen stehe, dass auch Unschuldige litten, z. B. Säuglinge. So erhalte man keine Lösung des Theodizee-Problems, sondern ein Theodizee-Problem in etwas veränderter Gestalt: „Verträgt sich die Lehre vom allmächtigen und gerechten Gott mit der Erfahrung einer Welt voller Ungerechtigkeiten?“
Im Buch Ijob wird bei dieser Fragestellung der individuelle Anspruch des unschuldig Leidenden, eine reale Gotteserfahrung zu haben, in den Vordergrund gerückt.
Gottes Allgüte wird unterschieden von menschlichen Begriffen der Güte
Gottes Allgüte sei mit menschlichen Begriffen nicht zu erfassen, wird argumentiert. Der menschliche Begriff der Güte beschreibe die Allgüte Gottes nur unvollkommen und nicht fehlerfrei. Der Widerspruch im Theodizee-Problem sei lediglich eine Folge der Fehlerhaftigkeit menschlicher Begriffe.
Gegen Argumentationen dieser Art hat der Philosoph Norbert Hoerster eingewendet: Wenn jene Güte, die der Gläubige in maximalem Ausmaß Gott zuschreibt, nicht einmal jene bescheidene Form der Güte, die man sinnvollerweise einem Menschen zuschreiben kann, zu umfassen braucht, dann hat der Gläubige seine Überzeugung (d. h. die Überzeugung Dieser Gott ist allgütig, d. h. er besitzt ein Maximum an Güte) offenbar falsch formuliert. Eine „Güte“, die mit dem, was wir gewöhnlich im menschlichen Bereich unter diesem Begriff verstehen, nicht in Zusammenhang steht, ist ein leeres Wort.[3]
Gottes Allmacht wird relativiert …
… durch Annahme der Freiheit des Menschen
Weitere Ansätze bei der Lösung der Theodizee-Frage liegen in der Annahme, dass Gott dem Menschen Freiheit und Eigenverantwortung in seinem Handeln lasse.
- Da das zeitlich-irdische Leben zwar ein sehr hohes, aber nicht das höchste Gut sei, müsse es weder von Gott noch von den Menschen mit allen Mitteln angestrebt werden. Das höchste Ziel bzw. Gut des Menschen sei nach dem christlichen Glauben das ewige Leben, d. h. die maximal mögliche Gemeinschaft mit Gott. Wenn nötig, könne Gott dafür auch das physische Übel einsetzen oder das moralische Übel zulassen (jedoch nicht selbst direkt bewirken).
- Angenommen, Gott könnte das Leid zugunsten der menschlichen Freiheit nicht aktiv verhindern und sei selbst daher weitgehend passiv, so stellt sich die Frage nach der Distanz Gottes zum Leid im Diesseits. Hier setzt die Theorie einer „passio continua“ an, wonach Gott nicht distanziert zum irdischen Leid sei, sondern am Unrecht der Welt leide – und zwar nicht nur gedanklich-geistig, sondern seinshaft: erlebt und erlitten durch die Passion Christi, den Gipfelpunkt der Offenbarung.
Ein pragmatischer Lösungsansatz besteht darin zu postulieren, dass Gott die Welt mit Entwicklungspotential geschaffen hat und nun nicht mehr in sie eingreift (Deismus). Denn dies würde das Potenzial der Welt und den freien Willen des Menschen stören. Ein Eingreifen Gottes, um Leid zu verhindern, würde die Welt zu seinem Labor und uns zu seinen Laborratten degradieren und insgesamt mehr Schaden als Nutzen bringen. Dieses Prinzip widerspricht allerdings den Überlieferungen vieler Religionen (der Bibel im Christentum, der Thora und dem Talmud im Judentum, dem Koran im Islam etc.), welche alle eindeutig von Eingriffen deren Gottes auch noch nach der Schöpfung sprechen. Außerdem erklärt der Ansatz nicht das nicht von Menschen verursachte Übel wie Krankheiten und Naturkatastrophen. Das jüdische Konzept des Tikkun olam (hebräisch: תיקון עולם), was „Verbesserung der Welt“ oder „Reparieren der Welt“ bedeutet, kann neben verschiedenen Erklärungsvarianten der Theodizee bestehen und verschiedene Motive hinterlegt haben, welche das eigenverantwortliche Handeln des Menschen in der Schöpfung anerkennen.
… durch die Annahme, Gott habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil sie ihn ablehnen
Grundlage dieses Ansatzes (z. B. vertreten durch den protestantischen Pfarrer, Prediger und Schriftsteller Wilhelm Busch (1897-1966)) ist die Beobachtung, dass in der westlichen Welt die Säkularisierung stets voranschreitet. Die Gebote Gottes werden nicht mehr beachtet und sind den meisten Menschen nicht einmal bekannt. Dies ist ein klares Nein zu Gott durch die Nichtbeachter. Ein „Nein“ durch Nicht-Kenner ist das noch keineswegs. Gott respektiert diese scheinbar endgültige Entscheidung und zieht sich weitgehend, aber nicht ganz zurück. Gott weiß nämlich, dass der Mensch dazulernt und zu einem geistig fortgeschritteneren Zeitpunkt aufgrund gereifter Einsicht, dass er Gottes Hilfe braucht, eine andere Entscheidung treffen könnte, die eine vertieftere Wissens- und Verstehenslage beinhalten kann.
Dietrich Bonhoeffer treibt solch eine Sicht in einem seiner Briefe auf die Spitze: “… Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt hinausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“
… durch die Annahme, die Schöpfung sei „nicht fertig“
Neutestamentliche Theologen wie der Heidelberger Klaus Berger weisen darauf hin, dass die Bibel selbst und damit der christliche Glaube nicht das Ziel habe, eine Antwort auf die Herkunft des Bösen zu geben, sondern eher darauf, dass Gott die Errettung daraus sei. Gott habe das Böse nicht geschaffen, sondern das Böse war bereits gegeben, als Gott zu wirken begann. Im Alten Testament der Bibel schaffe Gott die Welt als einen Bereich der Ordnung, der dem lebensfeindlichen Chaos abgerungen wurde. Das Chaos und die Mächte, die den Menschen und das Leben bedrohen, werden nach diesem Denkansatz hier vorerst zurückgedrängt, die Chaosmächte sind aber weiterhin anwesend und gefährlich, sobald die Anwesenheit Gottes schwindet.
Dadurch wird die Allmacht Gottes als Prinzip in Frage gestellt, welche im biblischen Denken so nicht bekannt sei, sondern eher aus dem Einfluss des griechischen Denkens komme. Gott wäre demnach dabei, in einer bösen Welt und einer unfertigen, schwachen Schöpfung sein Reich aufzubauen, aber dies könne er nicht mit einem Fingerschnippen und in einem Augenblick tun (insofern wäre der Begriff von Allmacht falsch). Allmacht sollte nach dieser Anschauung vielmehr so verstanden werden, als dass letzten Endes die Verheißung des Reiches Gottes und der vollendeten Schöpfung erfüllt wird und Gott mächtiger als alle anderen Mächte in Raum und Zeit ist, nicht aber, dass Gott alles und jedes jederzeit wirkt. Das Geheimnis der Zeit stehe nach Berger zwischen der „schwachen Schöpfung“ und der Erfüllung der Verheißung:
„Gott ist nicht grausam, davon bin ich im Laufe meines Lebens als Neutestamentler zusehends überzeugt. Sondern, wenn ein Unglück passiert, ist es allemal die Eigengesetzlichkeit dieser Schöpfung. Wenn jemand vor das Auto läuft und überfahren wird, ist es kein grausamer Gott, sondern es sind die Naturgesetze. Wer so über die rote Ampel hinwegsieht, dem ist nicht zu helfen. Wunder sind für diese Fälle nicht vorgesehen. Es gibt kein Menschenrecht auf Wunder. Der Tod gehört zu dieser Schöpfung hinzu, weil sie schwach ist. Gott will die Überwindung des Todes in all seinen Formen.[4]“
… durch den Hinweis auf Christus am Kreuz
Durch die Kreuzigung Christi sei die Ohnmacht Gottes deutlich geworden (Dorothee Sölle: „Gott hat keine anderen Hände als die unseren“). Zugleich wird die besondere Nähe Gottes zu den Menschen in der Passion beschrieben. Gott entäußert sich selbst und unterwirft sich menschlicher Grausamkeit, um zugleich eine Perspektive aufzuweisen, die in die Ewigkeit hineinragt.
… durch die Theorie des Dualismus
Das Böse sei durch gefallene Engel, den Satan, Demiurgen oder miteinander konkurrierende Weltprinzipien (Dualismus) zu erklären. Als Beispiel hierfür kann die altpersische Religion Zarathustras dienen, die davon ausging, dass zwei gleich mächtige Urprinzipien die Welt beherrschen: Auf der einen Seite das gute, gebende, göttliche Prinzip, auf der anderen Seite das böse, nehmende, widergöttliche. Auf diese Art und Weise der Darstellung wird die Allmacht Gottes relativiert, denn die beiden, voneinander untrennbaren Prinzipien ergeben eine dualistische, Gutes und Böses enthaltende Gottesvorstellung.
Andere, ebenfalls dualistische Gottesvorstellungen finden sich bei den Bogomilen, in der Gnosis und im Manichäismus. Ein atheistisches Beispiel wäre das Yin-Yang der chinesischen Philosophie, welches die Geschehnisse in der Welt durch dualistische Urprinzipien erklärt.
… durch die Unabhängigkeit der Engel
In gnostischen Schriften wird die Herkunft des Bösen durch ein für Gott inakzeptables Verhalten einiger Engel beschrieben. Diese sahen Adam, der als Gottes Ebenbild geschaffen wurde, und lachten ihn wegen seiner Schwäche aus. Da Gott diese Engel verstieß, wurden sie zu seinen Feinden. Und da sie Gott selbst nicht bezwingen können, wollen sie Gottes Schöpfung durch einen Abnützungskampf zerstören. Der Mensch kann sich nun nach seinem Schöpfer ausrichten oder sich unter der Herrschaft dieser Engel der Selbstzerstörung hingeben.
… durch die Annahme, Gott sei gut, aber nicht allmächtig
Aus der Erfahrung persönlichen Leides kommt der Rabbi Harold S. Kushner in seinem Buch „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“ zu dem Schluss, dass Gott zwar gut, aber nicht allmächtig sei. Die Frage nach dem „Warum?“ des Leides führe zu nichts, da sie entweder Wut auf sich selbst (Was habe ich getan, dass mir das passiert?) oder auf Gott (Warum lässt Gott das zu?) zur Folge habe und diese Wut verhindere, dass der Mensch Hilfe von anderen Menschen und von Gott annehmen könne. Da Gott durch die Menschen wirke, solle die Frage vielmehr lauten „Wenn mir dieses Leid nun schon einmal passiert ist, wer kann mir helfen?“ Dieser Lösungsansatz ist auch im Rahmen der sog. Theologie nach Auschwitz verbreitet.
Gottes Allwissenheit wird relativiert
Die Gnosis sieht den Menschen als für eine vollkommene Gottesbeziehung gedacht. Durch die Sünde wurde die Weiterentwicklung der Schöpfung unvollkommen, wodurch die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer und Ursprung getrübt wird. Der Mensch leidet unter diesem Umstand. Gott hüllt sich aufgrund der Sünde in einen Nebel, der dem Menschen die Distanz und Freiheit gibt, während der Zeit, die ihm gegeben ist, in Sünde zu leben, wenn er das will. Gottes Allwissenheit wird zur warnenden Botschaft einer absoluten, heiligen Gerechtigkeit, die nicht auf diese Welt beschränkt bleibt.
Sowohl an der Realität des Übels als auch an Güte, Allmacht und Allwissenheit Gottes wird festgehalten
Es gibt keine Lösung
Nach Karl Barth gibt es keine Lösung des Theodizee-Problems. Wir sind nicht berechtigt, Gott anzuklagen. Wir können nur dialektisch vom Paradoxon reden (Karl Barth: Das Böse ist die „unmögliche Möglichkeit“).
Ähnlich äußern sich Theologen von heute, so der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß: „Ehrliche Theologie gesteht ein, dass es auf die Frage nach dem Sinn des Leidens keine Antwort gibt. Wer sie trotzdem versucht, setzt nur Irrlichter auf.“[5]
Fast 2000 Jahre zuvor wird in den Sprüchen der Väter, einem Teil der Mischna und Hauptwerk der jüdischen Ethik, formuliert: „Rabbi Janai sagt: Es ist uns nicht gegeben zu wissen, warum Frevler in Wohlergehen und Gerechte in Leiden leben.“ (Kap. IV, Vers 19)
Bei der Metaphysik stößt die Vernunft an ihre Grenzen (Kant)
Wir sind zu begrenzt, um metaphysische Spekulationen anzustellen. Hier stößt unsere Vernunft an ihre Grenzen (Kant: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, 1791).
Das zur Urteilsfindung herangezogene Quellenmaterial und die daraus entwickelten theologischen/philosophischen Denkmodelle sind unzureichend
Theologisch anerkannt relevante Überlieferungen wie die christliche Bibel können laut dieser Sichtweise nicht den Anspruch erheben, vollständig und widerspruchsfrei zu sein. Die theologische/philosophische Erkenntnis, die allein aus diesen Quellen geschöpft werden kann, genügt nicht, um ein hinreichend plausibles Bild der Beweggründe, Pläne und Ziele eines höchst vollkommenen Gottes, welchem Liebe, Weisheit und Macht in höchster Potenz zugeschrieben werden, zu zeichnen. (Mögliche Quellenerweiterung, siehe: Mystik, Neuoffenbarung.)
Hinweis auf den Beistand Gottes
„Gott ist bei den Leidenden. Gott zieht uns nicht plötzlich aus dem Leiden, aber wenn wir leiden und angefochten sind, steht Gott uns bei.“ (Margot Käßmann, Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers[6]), vgl. Ps 68,20 EU: „Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.“ und Heb 13,5 EU: „Denn der Herr hat gesagt (Jos 1,5 EU): ‚Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.‘“
Hinweis auf das Ziel Gottes: Umgestaltung des Menschen
Durch die gesamte Bibel findet sich immer wieder der Hinweis, dass Gott durch Leiden Menschen in seine Nähe ziehen möchte: Nachdem Ijob durch das Leid gegangen ist, sagt er am Ende des Buches in Ijob 42,5 EU: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen.“
Ähnliche Aussagen sind zu finden in
- Ps 78,34 EU: „Wenn er den Tod unter sie brachte, suchten sie Gott und fragten wieder nach ihm.“
- Röm 8,28 EU: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.“;
- Heb 12,5-7,10-11 EU: „… habt bereits den Trost vergessen, der zu euch redet wie zu seinen Kindern (Spr 3,11-12 EU): ‚Mein Sohn, achte nicht gering die Erziehung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.’ Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müsst. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch um; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? … dieser aber tut es zu unserm Besten, damit wir an seiner Heiligkeit Anteil erlangen. Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit.“
Es wird gewarnt, dass Menschen, denen es sehr gut geht, dazu neigen, Gott zu vergessen: „Als aber Jeschurun fett ward, wurde er übermütig. Er ist fett und dick und feist geworden und hat den Gott verworfen, der ihn gemacht hat.“ (5 Mos 32,15 EU)
Martin Luther schreibt zu Ps 118,5 EU: „… werde ein jeglicher auch ein Falke, der sich in solcher Not in die Höhe schwingen könne und wisse aufs erste sicher, zweifle auch nicht, dass ihm Gott solche Not nicht zum Verderben zuschickt, […], sondern dass er ihn damit zum Gebet, zum Rufen und zum Streit treiben will, damit er seinen Glauben übe und Gott erkennen lerne, in einem andern Anblick, als er es bisher getan hat, und gewöhne sich auch, mit dem Teufel und den Sünden zu kämpfen und durch Gottes Hilfe zu siegen. Sonst lernten wir nimmermehr, was Glaube, Wort, Geist, Gnade, Sünde, Tod oder Teufel wäre, wo es immer in Frieden und ohne Anfechtung zugehen sollte. Damit würden wir denn Gott nimmermehr kennenlernen, wir würden nimmermehr rechte Christen, … Er will, dass du zu schwach sein sollst, solche Not zu tragen und zu überwinden, auf dass du in ihm stark werden lernest und er in dir durch seine Stärke gepriesen werde.“[7]
Die Umgestaltung der menschlichen Seele kann mehrere Erdenleben dauern
Wenn sich das Theodizee-Problem in seiner ursprünglichen Formulierung nicht auflösen lässt, muss dies nicht unbedingt heißen, dass Gott die ihm zugeschriebenen Eigenschaften nicht hat. Möglich ist auch, dass die gemachten Annahmen zu einfach sind. So argumentieren einige Menschen, die an Reinkarnation glauben: Gottes Güte bestehe darin, den Menschen einen Zeitrahmen von mehreren Leben zu geben, in welchen sie durch das von ihren falschen Entscheidungen verursachte Leid lernen könnten, sich im göttlichen Sinne zu verhalten. Diesem oder einem sehr ähnlichen Gedankenmodell folgen die Theosophie-Anhänger oder im christlichen Bereich die Anthroposophen, die Geistchristen und die sich „Urchristen“ nennenden Vertreter der Bewegung Universelles Leben, außerdem viele New-Age-Anhänger.
Derlei Reinkarnationslehren stehen im Widerspruch zu Lehren der Bibel. Im Hebräerbrief steht: „Und wie es dem Menschen bestimmt ist, ein einziges Mal zu sterben …“ (Heb 9,27 EU). So lehrt die Römisch-Katholische Kirche: „Wenn unser einmaliger irdischer Lebenslauf erfüllt ist“ (LG 48), kehren wir nicht mehr zurück, um noch weitere Male auf Erden zu leben. Es ist „dem Menschen bestimmt“, „ein einziges Mal zu sterben“ (Hebr 9,27). Nach dem Tod gibt es keine „Reinkarnation“. (Katechismus der Katholischen Kirche, Absatz 1013). Auch das Lexikon der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland stellt fest: Der biblisch begründete Glaube geht davon aus, dass dem Menschen nur ein Leben geschenkt wird, dass er von Gott geliebt wird und keiner karmischen Aufarbeitung bedarf, wenn er unwiderruflich stirbt.[8]
Unbedingtes Vertrauen zu Gott statt Suche nach rationalen Lösungen (Küng)
Nach Hans Küng soll „Durch Leiden … der Mensch zum Leben gelangen. Warum das so ist, warum das für den Menschen gut und sinnvoll ist, warum es nicht ohne Leid besser ginge, das kann keine Vernunft erweisen. Das kann aber vom Leiden, Sterben und neuen Leben Jesu im Vertrauen auf Gott schon in der Gegenwart als sinnvoll angenommen werden, in der Gewissheit der Hoffnung auf ein Offenbarwerden des Sinnes in der Vollendung.“[9]
„Unbedingtes und restloses Vertrauen“ zu Gott, trotz „Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen enträtseln zu können“, dafür wirbt Küng mit dem Versprechen, darin finde „der leidende, zweifelnde, verzweifelte Mensch“ einen „letzten Halt“; so lasse sich das Leid „zwar nicht ‚erklären‘, aber bestehen“.[10] So verschiebt Küng den Akzent des Theodizee-Problems: weg vom Problem eines logischen Widerspruchs zwischen zwei Aussagen, hin zur Frage nach der Qualität der Beziehung des gläubigen Menschen zu seinem Gott, und hin zu der Frage, welche Auswirkungen dies Gottvertrauen auf das Leben eines Menschen haben kann, insbesondere auf das Leben eines leidenden Menschen.
Theodizee-Frage wird als Anmaßung zurückgewiesen
Einige Gläubige erklären, es stehe dem Menschen nicht zu, die Theodizee-Frage zu stellen. Hans Küng spricht von der „Anmaßung, als neutraler und angeblich unschuldiger Zensor über Gott und die Welt das Urteil sprechen zu wollen.“[11] Andere Menschen, darunter auch Gläubige, erwidern, es gehe bei der Theodizee-Frage nicht darum, sich ein Urteil über Gott zu bilden, sondern darum, sich ein Urteil über einen Glauben zu bilden: ein Urteil darüber, ob der Glaube an einen allmächtigen und gütigen Gott trotz Theodizee-Problem gerechtfertigt ist.
Das Buch Ijob: Warum wir nicht leiden – gegen den Tun-Ergehen-Zusammenhang
Anhand der dramatischen Geschichte des leidenden Ijob entwirft der Autor des gleichnamigen biblischen Buches eine Theodizeeantwort, die vor allem negativ ist. Durch die Streitgespräche Ijobs mit seinen Freunden argumentiert der Autor intensiv gegen den so genannten „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ (Glück/Wohlstand einerseits und Leid/Not andererseits gelten als eine Belohnung bzw. Bestrafung Gottes für gerechtes oder sündhaftes Leben). Ijob weist diesen angeblich göttlich garantierten Zusammenhang plausibel zurück und verlangt eine andere Antwort von Gott. In zwei großen Gottesreden am Ende des Buches ergreift Jahwe selbst das Wort und gibt Ijob Recht. Das Leiden in der Welt folge nicht einem Belohnungs-Bestrafungs-Kalkül. Vielmehr sei das Leiden ein natürlicher Bestandteil der für den Menschen unergründlichen aber kunstvollen Schöpfungsordnung. Am Ende erkennt „Hiob im farbenprächtigen Mosaik der Schöpfung das Antlitz des Schöpfers und einen Plan, der weit entfernt ist von menschlichen, allzu menschlichen Vergeltungsfantasien, von göttlicher Willkür und kosmischer Sinnlosigkeit.“ [12]
Die Existenz eines Gottes wird abgestritten
Die atheistische Schlussfolgerung aus der, wie man meinte, misslungenen Theodizee gewann Ende des 18. Jahrhunderts an Boden. Als nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 die optimistische Leibniz'sche Lösung der Theodizee für viele an Plausibilität einbüßte, war es nur noch ein kleiner Schritt, anstatt Gottes Güte gleich Gottes Existenz zu verneinen.
Viele Atheisten und Agnostiker ziehen aus dem Theodizeeproblem ähnliche Schlüsse wie der Philosoph Norbert Hoerster: „... dass jedenfalls auf dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens die Existenz eines ebenso allmächtigen wie allgütigen göttlichen Wesens angesichts der vielfältigen Übel der Welt als äußerst unwahrscheinlich gelten muss.“[13] Joachim Kahl sieht im Theodizeeproblem sogar eine „empirische Widerlegung des Gottesglaubens“.[14]
Eine besondere Sichtweise findet sich bei Odo Marquard: „[Nach 1755] lag es nahe, zu meinen: die Theodizee gelingt nicht dort, wo – wie bei Leibniz – Gott durch das Schöpfungsprinzip ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ entlastet, sondern erst dort, wo Gott von diesem Prinzip entlastet wird. Wo dieses Prinzip als Prinzip der Schöpfung gleichwohl unangefochten bleibt, muss das schließlich folgende Konsequenz haben: Gott muss – zugunsten seiner Güte – aus der Rolle des Schöpfers befreit, ihm muss – zur Rettung seiner Güte – sein Nichtsein erlaubt oder gar nahegelegt werden. … Durch diesen Atheismus ad maiorem Dei gloriam wird der Mensch der Erbe der Funktionen Gottes: nicht nur seiner Funktion als Schöpfer, sondern eben darum auch … seiner Funktion als Angeklagter der Theodizee.“ Damit sei die Theodizee in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in die Geschichtsphilosophie gemündet.[15] An Gottes Allgüte, Allwissenheit und Allmacht wird also in vollem Umfang festgehalten. Zur Rettung aller drei klassischen Eigenschaften wird aber die Existenz (des so definierten) Gottes aufgegeben.
Siehe auch: Atheismus, Gottesbeweis
Fußnoten
- ↑ Laktanz: De ira dei 13,19 = Us. 374.
- ↑ Reinhold F. Glei: Et invidus et inbecillus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz, De ira dei 13,20-21, in: Vigiliae Christianae 42 (1988), S. 47-58; Arthur Stanley Pease (Hrsg.): M. Tulli Ciceronis De natura deorum. Libri secundus et tertius, Cambridge (Mass.) 1958, S. 1232f.
- ↑ THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE, Vierteljahresschrift, 6O. Jahrgang Heft 3 1985, ThPh 60 (1985) 400-409, Unlösbarkeit des Theodizee-Problems, von Norbert Hoerster
- ↑ Zitat aus einem Interview, siehe http://www.evangelische-kirchenzeitung.de/200213/glaube.htm
- ↑ Karsten Huhn|Wie kann Gott das zulassen?
- ↑ Saar-Echo
- ↑ Luther, Martin: Das schöne Confitemini an der Zahl der 118. Psalm (1530), in: Aland, Kurt: Luther deutsch, Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1954, Band 7, S. 308 – 415 (323, 324), entspricht S. 4940, 4942 der CD-Rom von Kurt Aland: Martin Luther. Gesammelte Werke, Berlin 2002.
- ↑ Website der EKD zur Reinkarnation
- ↑ Hans Küng, Christ sein, S. 528
- ↑ Küng: Christ sein, S. 357
- ↑ Hans Küng, Christ sein, S. 357
- ↑ Klaus Kühlwein, Schöpfung ohne Sinn?, S. 68
- ↑ Norbert Hoerster, Die Frage nach Gott, ISBN 3-406-52805-8, S. 113
- ↑ Die Antwort des Atheismus: „Es gibt keinen Gott“
- ↑ (Odo Marquard: „Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“. In: Ders., Abschied vom Prinzipiellen, reclam, Stuttgart 1981, S. 39-66, hier S. 48)
Literatur
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Textsammlungen
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Geschichtliche Überblicke
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- Peter Gerlitz / Melanie Köhlmoos u. a.: Theodizee I.-VI.. In: Theologische Realenzyklopädie 33 (2002), S. 210-237 (sehr konzise, materialreiche Darstellung zur Theodizee in der Religionsgeschichte, Altem Testament, Judentum, Dogmatik, Praktischer Theologie und Philosophie)
- Hans-Gerd Janßen: Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizee-Problem in der Philosophie der Neuzeit. 2., unveränd. Aufl. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1993 ISBN 3-534-02399-4
- Thomas Schumacher: Theodizee. Bedeutung und Anspruch eines Begriffs. Europäische Hochschulschriften 20/435. Lang, Frankfurt a. M. 1994 ISBN 3-631-47554-3 (Diss. Freiburg i. Brsg. 1992)
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- Gotthard Fuchs (Hrsg.) Angesichts des Leidens an Gott glauben? Zur Theologie der Klage, Knecht Vlg Frankfurt am Main 1996
- Bernd Gräfrath: Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein. Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem, Beck Vlg., München 1998
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- Hermann Häring: Das Problem des Bösen in der Theologie. Darmstadt 1985
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- Walter Sparn, Leiden, Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, ISBN 3-459-01313-3
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- Gerhard Streminger: Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem. Tübingen 1992
- Werner Thiede: Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007, ISBN 978-3-579-08012-3
- Harald Wagner u. a. (Hrsg.): Mit Gott streiten. Neue Zugänge zum Theodizee-Problem. Quaestiones disputatae 169. Herder, Freiburg i. Brsg. 1998 ISBN 3-451-02169-2
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Klassische Werke
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- Martin Luther: De servo arbitrio / Über den unfreien Willen (1525). WA 18. pdf-Download
- Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), hrsg. v. Thomas Buchheim. Philosophische Bibliothek 503. Meiner, Hamburg 1997
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- Jörg Eickhoff: Theodizee. Die theologische Antwort Paul Tillichs im Kontext der philosophischen Fragestellung. Frankfurt a. M. u. a. 1997 ISBN 3-631-31704-2
- Gerold Graf: Gott dennoch Recht geben. Die Theodizeefrage als ein entscheidendes Problem – besonders bei Luther, Bultmann und Sölle. Frankfurt a. M. u. a. 1983
- Christian Iber: Die Theodizeeproblematik in Schellings Freiheitsschrift. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 48 (2001), S. 146-164
- Christine Kress: Gottes Allmacht angesichts von Leiden. Zur Interpretation der Gotteslehre in den systematisch-theologischen Entwürfen von Paul Althaus, Paul Tillich und Karl Barth. Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen 27. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 1999 ISBN 3-7887-1756-4 (Diss. Heidelberg 1998/99)
- Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz‘ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710-1791). Studia Leibnitiana: Supplementa 31. Steiner, Stuttgart 1997 ISBN 3-515-07122-9
- Werner Otto, Verborgene Gerechtigkeit – Luthers Gottesbegriff nach seiner Schrift De servo arbitrio als Antwort auf die Theodizeefrage (Regensburger Studien zur Theologie; Band 54), Peter Lang: Frankfurt am Main 1998, ISSN 0170-9151, ISBN 3-631-33994-1
- Peter Steinacker: Luther und das Böse. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 33 (1991), S. 139-151
Das Theodizeeproblem in der theologischen Dogmatik
Evangelische Theologen:
- Wilfried Härle: Dogmatik. 2., überarb. Aufl. Berlin; New York, de Gruyter 2000 ISBN 3-11-016589-9 (Standardwerk für ev. Theologen; S. 439-455 zum Theodizeeproblem; argumentiert im Anschluss an Leibniz)
- Wilfried Joest: Dogmatik. Bd. 1: Die Wirklichkeit Gottes. Uni-Taschenbücher 1336. 4., durchges. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1995 ISBN 3-8252-1336-6 (S. 180-185 zum Theodizeeproblem; Leibniz und Luther)
- Markus Mühling: "Grundinformation Eschatologie. Systematische Theologie aus der Perspektive der Hoffnung". Uni-Taschenbücher 2918, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, 122–138
Katholische Theologen:
- Karl Rahner: Warum lässt Gott uns leiden?, in: Schriften zur Theologie XIV (1980), 450-466. (Ebenfalls veröffentlicht in: Worte vom Kreuz, Freiburg 1980 und Praxis des Glaubens, geistliches Lesebuch, hrsg. von K. Lehmann und A. Raffelt (²1982), 432-444.
- Theodor Schneider: Was wir glauben. Eine Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnis. 5. Aufl. Düsseldorf, Patmos 1998 ISBN 3-491-69011-0 (Zur Einführung sehr geeignet! Modernes Proseminar (Systematische Theologie) Standardwerk)
Das Theodizeeproblem in der Literaturwissenschaft
- Martin A. Hainz: Die Enthüllung als Erfahrungsverpackung – Rose Ausländer und das Sinnbild der atomaren Apokalypse. In: Trans – Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15, Nov. 2003
- Ders.: Imitation als Poiesis? Ein Orthodoxie-Problem, auch bei Friedrich Gottlieb Klopstock. In: www.literatur-religion.net · diskurs, januar 2006, S. 1-11, jetzt zu finden unter [1]
- Ders.: Masken der Mehrdeutigkeit. Celan-Lektüren mit Adorno, Szondi und Derrida. Wien: Braumüller ²2003 (=Untersuchungen zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 15)
- Karl-Josef Kuschel: Die Erfahrung des Höllischen und Teuflischen in der Literatur des 20. Jahrhunderts – zur literarischen und theologischen Kritik einer Ästhetik des Horrors. In: Evangelische Aspekte 14 (2004), S. 13-17
- Meinolf Schumacher: Gefangensein – waz wirret daz? Ein Theodizee-Argument des 'Welschen Gastes' im Horizont europäischer Gefängnis-Literatur von Boethius bis Vladimir Nabokov. In: Horst Wenzel / Christina Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des 'Welschen Gastes' von Thomasin von Zerclaere. Köln: Böhlau 2002, S. 238-255 ISBN 3-412-09801-9
Populäre Darstellungen
- Klaus Berger: Wie kann Gott Leid und Katastrophen zulassen? Gütersloher Verlagshaus, 1999
- Bernward Gesang: Angeklagt: GOTT Attempto 1997, ISBN 3-89308-262-X
- Peter Hahne: Leid. Warum lässt Gott das zu?; Hänssler 26. Aufl. 2005, ISBN 3-7751-1240-5
- Armin Kreiner: Gott und das Leid, Paderborn 5. Aufl. 2005
- Klaus Kühlwein: Schöpfung ohne Sinn? Gott und das Leid, Patmos 2003, ISBN 3-491-77053-X
- Harold S. Kushner: Wenn guten Menschen Böses widerfährt Gütersloher Verlagshaus 8. Aufl. 2004
- Ralph Sauer: Gott – lieb und gerecht? Hilfen zur Leidensproblematik in der Sekundarstufe I und II. Herder, Freiburg i. Brsg. 1991 ISBN 3-451-22441-0 (298 S.)
- Arthur Ernest Wilder-Smith: Ist das ein Gott der Liebe? Neuhausen-Stuttgart, 1988
- Arthur Ernest Wilder-Smith: Warum lässt Gott es zu? Bielefeld 12. Aufl. 2002, ISBN 3-89397-489-X (64 S., PDF)
- Heinz Zahrnt: Wie kann Gott das zulassen? München; Zürich 1985, 6. Aufl. 1996
- Monika Renz: Grenzerfahrung Gott: Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. 3. Aufl. Herder, Freiburg i. Br. 2006. ISBN 3-451-05341-1
Siehe auch
Weblinks
- Herbert Frohnhofen: Aktuelle Literatur zur Theodizee
- Michael Murray: „Leibniz on the Problem of Evil“ in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (englisch, inklusive Literaturangaben)
- Howard Snyder: God, Evil, and Suffering, in: Michael Murray (Hg.): Reason for the Hope Within, Grand Rapids: Eerdmans 1999, 76-115
- Gerhard Streminger: „Von der Güte Gottes und die Leiden der Welt“. Ein Überblick über das Theodizeeproblem, in: Aufklärung und Kritik 1 (2003), 11 ff.
- Michael Tooley: „The Problem of Evil“ in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (englisch, inklusive Literaturangaben)
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