- Theorie der kognitiven Dissonanz
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Als Kognitive Dissonanz versteht man in der Sozialpsychologie einen als negativ empfundenen Gefühlszustand, der durch nicht miteinander vereinbare Kognitionen – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten – entsteht. Dieser Zustand motiviert Personen, die entsprechenden Kognitionen miteinander vereinbar zu machen, wobei unterschiedliche Strategien benutzt werden, wie beispielsweise Verhaltensveränderungen oder Einstellungsveränderungen (Rechtfertigungen). Der Begriff wurde von Leon Festinger geprägt und sowohl die Entstehung als auch Auflösung von Dissonanz theoretisch formuliert.
Inhaltsverzeichnis
Dissonanzentstehung
Rein formal entsteht Dissonanz durch die logische Inkonsistenz von zwei oder mehreren Gedanken (Kognitionen), d.h. dass der Wahrheitswert eines Gedankens ("Wasser läuft immer den Berg hinab!") durch einen anderen Gedanken ("Wasser läuft den Berg hoch!?") in Frage gestellt wird. Da Dissonanz gefühlsmäßig als negativ empfunden wird, versuchen Personen die Gedanken in Einklang zu bringen (d.h. sie in eine konsonante Beziehung zu bringen), um den negativen Gefühlszustand zu beenden. Dies geschieht, indem entweder nach der Bestätigung (oder Widerlegung) eines der beiden Gedanken gesucht wird (z.B. "Wasser läuft auch den Berg hoch, falls es gepumpt wird" oder "Wasser läuft nicht immer den Berg hinab"). In der Regel ist einer der Gedanken veränderungsresistenter als der andere ("Wasser läuft immer den Berg hinab wegen der Gravitation"), weshalb in der Regel der Gedanke geändert wird, der am leichtesten zu ändern ist ("dann muss es gepumpt werden").
Generell entsteht Dissonanz, falls eine Person das Gefühl hat, inkompetent oder unmoralisch gehandelt zu haben (Selbstkonsistenzrevision nach Elliot Aronson), falls ein Verhalten negative Konsequenzen für sich selbst oder andere hervor ruft (Cooper & Fazio's "New-Look"), oder falls zwei oder mehrere Gedanken Verhalten oder Handlungen blockieren (Harmon-Jones' action-based model of dissonance). Die entstandene Dissonanz kann auf unterschiedliche Arten aufgelöst werden. Hierbei unterscheidet man zwischen direkten und indirekten Strategien. Direkte Strategien beziehen sich auf die Auflösung der für die Dissonanz verantwortlichen Diskrepanz zwischen Verhalten und Einstellung, d.h. Personen verändern ihr Verhalten, um es mit ihren Einstellungen in Einklang zu bringen, oder verändern ihre Einstellung bezüglich ihres Verhaltens. Indirekt lässt sich Dissonanz auch durch Selbstbestätigung in anderen Bereichen auflösen, z.B. falls man sich inkompetent verhalten hat und dies Dissonanz erzeugt, würde man nach anderen Verhaltensbereichen suchen, in denen man sich kompetent verhält (oder verhalten hat).
Geschichte
In den 1950er Jahren gab Marian Keech (eigentlich Dorothy Martin) aus Salt Lake City (Utah, Vereinigte Staaten) an, Nachrichten von der Außerirdischen „Sananda vom Planeten Clarion“ zu empfangen. Sie scharte in Wisconsin (USA) einen Kult um sich, der ihren Vorhersagen glaubte, eine gewaltige Flut werde alle Menschen auf der Erde töten und nur die Anhänger des Kults würden von fliegenden Untertassen gerettet.
Als die prophezeite Flut ausblieb, sah sich die Gruppe der Lächerlichkeit preisgegeben. Statt das Versagen des Kults zu akzeptieren und sich von ihrer Führerin abzuwenden, sahen sich die Anhänger in ihrem Glauben nur umso mehr bestärkt. Sie behaupteten, ihre Gebete hätten Gott umgestimmt, und versuchten mit einem Mal fieberhaft, andere Leute zu ihren Ansichten zu bekehren.
Leon Festinger entwickelte auf Basis dieses Geschehens die Theorie der kognitiven Dissonanz: Nach der persönlichen Überzeugung der Kultanhänger hätte die Welt in der Flut versinken müssen. Da dies nicht eintrat, sei es zu einer kognitiven Dissonanz zwischen der eigenen Einstellung und der Erfahrung der Wirklichkeit gekommen. Um diesen Konflikt aufzulösen, habe es nur zwei Möglichkeiten gegeben: Die eigene Meinung ändern oder die Meinung aller anderen. Für die Anhänger des UFO-Kultes sei nur die zweite Möglichkeit in Betracht gekommen, ergo hätten sie ab da versucht, alle anderen von ihrem Glauben zu überzeugen.
Festinger veröffentlichte seine Theorie 1957 in seinem Buch A Theory of Cognitive Dissonance (deutscher Titel: „Theorie der kognitiven Dissonanz“, s. u. Literatur).
Festingers Theorie
Kognitive Elemente können in relevanter Beziehung zueinander stehen oder irrelevant füreinander sein. Für das Entstehen von Dissonanz sind nur relevante Relationen bedeutend. Diese können konsonant oder dissonant sein.
Grundlage von Festingers Theorie sind folgende Hypothesen:
- Das Vorhandensein von Dissonanz wird als unangenehmer Spannungszustand erlebt und übt auf den Menschen Druck aus, diesen zu beseitigen oder zu reduzieren. Die Stärke des Drucks zur Dissonanzreduktion ergibt sich aus der Stärke der Dissonanz.
- Die Dissonanz zwischen zwei kognitiven Elementen kann nicht größer sein, als notwendig ist, um das weniger widerstandsfähige der beiden Elemente zu ändern. Das Ausmaß an Dissonanz kann nicht stärker sein, weil sich zum Zeitpunkt größtmöglicher Dissonanz das weniger widerstandsfähige Element ändern würde – die Dissonanz wäre somit beseitigt.
Das bedeutet, dass Menschen konsonante Kognitionen als angenehm empfinden und daher aktiv suchen. Daher versuchen Menschen u.a., dissonante Informationen zu vermeiden (Seeking-and-Avoiding-Hypothese). Die Folge des geschilderten Verhaltens ist die selektive Wahrnehmung von Informationen, also beispielsweise von dargebotenen Medieninhalten. Menschen neigen demnach, einmal getroffene Entscheidungen zunächst beizubehalten oder zu rechtfertigen. Deshalb werden alle neuen Informationen, die zu der getroffenen Entscheidung in Widerspruch stehen, tendenziell abgewertet, während alle konsonanten Informationen tendenziell aufgewertet werden. Erst wenn die durch die Dissonanz erzeugte innere Spannung zu groß wird, also die individuelle Toleranzschwelle überschreitet, ändert das Individuum die getroffene Entscheidung, um so Erfahrung und Entscheidung wieder zur Konsonanz zu bringen. Je toleranter und veränderungsbereiter ein Mensch ist, desto geringer seien die durch neue Informationen erzeugten Spannungen (d.h. die empfundene Dissonanz).
Festinger nennt vier Anwendungsbereiche der Dissonanztheorie, auf welche sich ein Großteil der empirischen Forschung bezieht:
- Dissonanz nach Entscheidungen (post decisional dissonance)
- Dissonanz nach einstellungsdiskrepantem Verhalten (forced compliance Paradigma)
- Dissonanz und selektive Informationssuche (selective exposure)
- Dissonanz und soziale Unterstützung (social support)
Kognitive Dissonanz und kognitive Konsistenz
Die Dissonanztheorie gilt als populärste Theorie der Konsistenztheorien. Zu diesen gehören neben der Dissonanztheorie:
- die Balancetheorie von Heider
- die Weiterentwicklung der Balancetheorie durch Newcomb
- die Konguitätstheorie von Osgood und Tannenbaum
Trotz erheblicher Differenzierung und empirischer Variationsbreite beruhen sie auf den gleichen Grundannahmen.
Grundannahmen im Konsonanzmodell:
Als "kognitiv" versteht man rationale, verstandesorientierte, logische und informationsverarbeitende Gedanken. Die durch Erfahrung entstandenen, komplexen Vorstellungen des Menschen (kognitive Landkarten) zu einzelnen Themen, die sich hierarchisiert aus Werten, Einstellungen und Meinungen zusammensetzen, streben nach Konsonanz (d.h. Ausgleich, Harmonie und Übereinstimmung). Die selektive Aufnahme von Informationen folgt in erster Linie der Verstärkung bestehender Einstellungen. Ausgewählt, verarbeitet und erinnert werden konsonante, passende Informationen, die problemlos in bestehende Landkarten eingebaut werden können. Unpassende (inkongruente, dissonante) Informationen werden gemieden, nicht selektiert, vergessen oder kongruent umgedeutet (Rechtfertigungen), um Widersprüche zu vermeiden. Falls Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Elementen kognitiv nicht zu überbrücken sind, bricht die Landkarte an der schwächsten Stelle (d.h. die Kognition, die sich am leichtesten verändern lässt) wird neu in Richtung auf Kongruenz geordnet. Findet auf der emotionalen und persönlich-sozialen Ebene eine Veränderung oder Verunsicherung statt, werden neue (passende, kongruente) Informationen gesucht. Widersprüche zwischen Kognition und Emotion können balanciert werden durch Verdrängung, Sublimierung und Umdeutung.
Beispiele
Raucher
Erläuterung zum ersten Beispiel: Wenn Raucher z.B. in Zeitschriften auf Artikel stoßen, die über die schlimmen Folgen ihres Zigarettenkonsums berichten, schenken sie diesen Artikeln deutlich weniger Aufmerksamkeit als Nichtraucher. Raucher werden durch die Information unangenehm berührt und blenden sie daher vorzugsweise aus. Dies kann auch als Begründung dafür gesehen werden, dass Raucher (auch nach eigenen Angaben) die gesundheits- oder todesbezogenen Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen kaum wahrzunehmen scheinen.
(Quelle: Aronson, E., Wilson, T.D., Akert, R.M; Seite 189; 2004; Sozialpsychologie 4. Aufl.; Pearson Studium, München. ISBN 3-8273-7084-1)
Verdacht
- Einstellung: „A ist dringend verdächtig, deshalb eröffne ich das Hauptverfahren.“
- Information: „überraschender Alibizeuge in der Hauptverhandlung“
Erläuterung zum zweiten Beispiel: Nach deutschem Strafprozessrecht muss der Richter nach der Anklageerhebung zunächst prüfen, ob eine Verurteilung wahrscheinlich ist (so genanntes Zwischenverfahren). Nur dann darf er die Anklage zur Hauptverhandlung zulassen und das Hauptverfahren eröffnen. Hat er aber eröffnet, so hält er notwendig die Aussage „Der Angeklagte ist der Täter“ für wahrscheinlich und wird deshalb alle Information, die dazu in Widerspruch steht (beispielsweise den überraschenden Alibizeugen), tendenziell in ihrer Bedeutung unterschätzen.
Forced compliance Paradigma
Forced compliance bzw. Induced compliance bezeichnet eine forcierte Zustimmung / herbeigeführte Einwilligung / Manipulation und basiert auf einer Untersuchung von Leon Festinger und Merrill Carlsmith aus dem Jahr 1959.
Das Experiment beruht auf der Annahme, dass Personen Dissonanz empfinden, wenn sie ein Verhalten zeigen, das nicht mit ihrer Einstellung übereinstimmt. In ihrem Experiment ließen Festinger und Carlsmith zwei Experimentalgruppen eine extrem langweilige Tätigkeit durchführen. Anschließend wurden die Probanden beider Gruppen gebeten, ihre Tätigkeit nachfolgenden Versuchspersonen als äußerst interessant und spannend zu „verkaufen“. Außerdem gab es jeweils eine Kontrollgruppe, die anschließend niemanden überreden musste und auch nicht belohnt wurde. Die Probanden der ersten Gruppe erhielten für die positive Darstellung des Experiments nur eine geringe Bezahlung (1 US-Dollar), die der zweiten Gruppe erhielten hingegen 20 Dollar.
Anschließend wurden die Probanden befragt, wie attraktiv sie die ausgeführte Tätigkeit einschätzten.
Die erste Gruppe (1 Dollar) bewertete die Aufgabe viel attraktiver als die zweite Gruppe und die Kontrollgruppe. Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz lässt sich das Verhalten folgendermaßen erklären: Die Versuchspersonen der ersten Gruppe mussten lügen, um die Tätigkeit als spannend darstellen zu können, dabei entstand eine kognitive Dissonanz. Um diese auszugleichen, bewerteten sie die Aufgabe im nachhinein attraktiver. Die Versuchspersonen aus der 20-Dollar-Gruppe hatten eine externe Rechtfertigung für ihre Lüge (die 20 Dollar als Belohnung), sodass sie ihr Verhalten nicht im Widerspruch zu ihrer negativen Einstellung zum Experiment erlebten, also keine Dissonanz verspürten.
Kognitive Dissonanz im Marketing
Das Konzept der kognitiven Dissonanz spielt auch im Marketing eine Rolle, besonders beim Verkauf von Konsumgütern. Da kognitive Dissonanzen von Menschen als unangenehm empfunden werden, versuchen sie die positiven Aspekte eines Produktes zu verstärken, während negative Teile verdrängt werden. Dem kommt hinzu, dass Konsumenten vor Kaufentscheidungen Informationen sehr selektiv wahrnehmen. Dadurch entstehen kognitive Dissonanzen, die beim Konsument eine Diskrepanz zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Nutzen des Produktes verursachen. In Konsumwahlexperimenten wurde bestätigt, dass im Nachkaufverhalten eine kognitive Umbewertung des gekauften Produktes stattfindet, um die Dissonanz zu reduzieren.[1] Beispiel: "Mein neues Auto hat noch mehr Vorzüge, als ich dachte.[1]
Ursachen
- Nachträgliches Bedauern der Kaufentscheidung (Kaufreue)
- Neue Informationen über das gewählte Produkt (z.B. Veröffentlichungen der Stiftung Warentest)
- Neue Informationen über Konkurrenzprodukte
- Ausbleiben des „Social Support“
- Neue Informationen über bessere Informationsquellen.
Kognitive Dissonanzen treten dabei umso eher auf, je
- wichtiger die Entscheidung,
- ähnlicher die Alternativen,
- vorhersehbarer die Entscheidungskonsequenzen,
- dringlicher der Entschluss,
- niedriger der Informationsgrad des Entscheidungsträgers,
- stärker das Kaufmuster vom bisherigen Verhalten abweicht,
- teurer ein Produkt ist.
In diesen Situationen versucht der Konsument die Dissonanz zu reduzieren durch Umbewertung der Alternativen, Selektion geeigneter Informationen sowie Einstellungs- und Verhaltensänderungen.
Die Auflösung kognitiver Dissonanzen zur Erlangung eines mental angenehmen Zustands ist somit ein wesentliches Element des psychologischen Egoismus.
Verkaufstechniken
- Low-Ball-Taktik: Zuerst ein günstiges Angebot machen, und dann Zusatzkosten berechnen. Der Käufer willigt im Normalfall ein, um nicht gegen seine Kaufentscheidung zu handeln.
- Foot-in-the-door: Nach dem Kauf passende Zusatzartikel anbieten, die die meisten Kunden kaufen, um konsistentes Verhalten zu zeigen.
Zitate mit Bezug zur kognitiven Dissonanz
„Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, dass er an die Stelle, wo das unaufgelöste Problem liegt, gern ein Phantasiebild hinfabelt, das er nicht loswerden kann.“
– Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre II, 1795/96
„Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.“
– Henrik Ibsen, Die Wildente, 1884
Literatur
- L. Festinger, H. W. Riecken, S. Schachter: When Prophecy Fails. Minneapolis 1956
- L. Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford, CA: Stanford University Press 1957
- Martin Irle, Volker Möntmann (Hrsg.): Leon Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern 1978: Verlag Hans Huber, ISBN 3-456-80444-X
- Jürgen Beckmann: Kognitive Dissonanz – eine handlungstheoretische Perspektive. Springer-Verlag, Berlin 1984, ISBN 3-540-13772-6
Quellen
Siehe auch
- Verdrängung
- Wunschdenken
- Kaufreue
- Doppelbindungstheorie
- Balancetheorie
- Selbstwahrnehmungstheorie nach Daryl Bem
- Eristische Dialektik
- Verkaufspsychologie
Weblinks
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