Tillion

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Germaine Tillion (* 30. Mai 1907 in Allègre, Haute-Loire; † 19. April 2008 in Saint-Mandé) war eine französische Ethnologin und Widerstandskämpferin in der Résistance.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Jugend und Studium

Ihre Jugend verbrachte Germaine Tillion mit ihren Eltern und ihrer Schwester Françoise in Clermont-Ferrand, wo ihr Vater Lucien Tillion († 1925) als Friedensrichter arbeitete. Ihre Eltern waren gebildete Menschen, sie liebten die Kunst. Ihr Vater war Amateurfotograf, ihre Mutter Emilie Tillion war Schriftstellerin und arbeitete eine Zeitlang maßgeblich in der Redaktion der Guides bleus, einer angesehenen Sammlung von kleinen Nachschlagewerken für Touristen.

Sie verließ ihr Elternhaus, um in Paris zu studieren. Dort schloss sie sich einer Gruppe von Ethnologen um Marcel Mauss und Louis Massignon an. Sie beendete ihr Studium mit Diplomen der École pratique des hautes études, der École du Louvre sowie des Institut national des langues et civilisations orientales.

1934 brach sie zu ihrer ersten Studienreise nach Algerien auf, um dort das Berbervolk der Chaoui zu erforschen. Bis 1940 folgten drei weitere Studienaufenthalte in jener Gebirgsregion, dem Aurès im Osten Algeriens.

Widerstand und Konzentrationslager

Während der französischen Mobilmachung 1940 kehrte sie nach Frankreich zurück. Die französische Kapitulation angesichts des deutschen Angriffs nahm sie mit Verachtung zur Kenntnis; sie habe sich übergeben müssen, als sie die anschließende Rede von Marschall Pétain hörte.[1] Sie wurde Kommandantin der ersten Gruppe der Résistance, die sich im besetzten Gebiet bildete, der groupe du Musée de l'Homme. Diese Widerstandsgruppe setzte sich die Beschaffung von Informationen sowie die Befreiung von Gefangenen zum Ziel. Zu ihren Mitstreitern gehörten die Bibliothekarin Yvonne Oddon, der Linguist Boris Vildé und der Anthropologe Anatole Levitsky, die alle drei am Musée de l'Homme arbeiteten, sowie der Monarchist Maurice Dutheil de la Rochère und der Oberst im Ruhestand Paul Hauet.

Im Laufe des Jahres 1941 konnte die deutsche Aufklärung die Gruppe nach und nach enttarnen. Anatole Levitsky und Boris Vildé wurden verhaftet und im Februar 1942 auf dem Mont-Valérien erschossen. Am 13. August 1942 wurde auch Germaine Tillion infolge einer Denunziation bei einem Treffen im Bahnhof von Lyon verhaftet. Sie wurde im Gefängnis von Fresnes eingesperrt, wo auch ihre Mutter Emilie inhaftiert war.

Am 21. Oktober 1943 wurde sie ebenso wie ihre Mutter ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Germaine erhielt den niedrigsten Status in der Lagerhierarchie, den einer Verfügbaren, einer Gefangenen, die zu jeder Zeit für jede beliebige Arbeit eingesetzt werden konnte. In einer Kiste versteckt schrieb sie 1944 das Libretto einer makaber-komischen Operette: "Le Verfügbar aux Enfers".[2] Im März 1945 verlor sie ihre Mutter, die gemeinsam mit vielen anderen Mitgefangenen in jenem Monat durch Giftgas ermordet wurde. Im selben Frühjahr wurde sie noch vor dem Einmarsch der Alliierten durch den Transport des Schwedischen Roten Kreuzes gerettet. Das Manuskript Tillions rettete eine andere Gefangene. Germaine Tillion brachte eine Büchse mit Fotoaufnahmen von den Menschenversuchen mit in die Sicherheit. Ihr eigenes Überleben führte sie auf glückliche Umstände und auf ein freundschaftliches Netzwerk im Lager zurück, nicht aber auf ihren Überlebenswillen.[3]

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Krieg widmete sie sich der Erforschung des Zweiten Weltkriegs und der Aufklärung von deutschen Kriegsverbrechen. 1951 gründete sie gemeinsam mit dem Trotzkisten David Rousset die Commission internationale contré le régime concentrationnaire,[4] das die Existenz des Gulag aufdeckt und anprangert. Ab 1954 wandte sie sich erneut Studien über Algerien zu. Sie gründete ein Bildungsprogramm für Strafgefangene. Sie wurde Direktorin an der École pratique des hautes études und organisierte 20 Studienreisen nach Nordafrika und in den Mittleren Osten. An der École des Hautes Études en Sciences Sociales und am Centre national de la recherche scientifique erarbeitete sie eine Reihe von maßgeblichen Studien über Gesellschaften und Kulturen des Mittelmeerraums.

Am 4. Juli 1957 traf sie sich in Algier heimlich mit Yacef Saadi, um der Eskalation von Attentaten und Hinrichtungen im Laufe des Algerienkrieges ein Ende zu setzen. Nach dem Algerienkrieg engagierte sie sich in verschiedenen politischen Projekten:

  • gegen die Verelendung der algerischen Bevölkerung,
  • gegen die Folter in Algerien,
  • für die Emanzipation der Frauen im Mittelmeerraum.

2004 beteiligte sie sich gemeinsam mit anderen französischen Intellektuellen an einem Aufruf gegen die Folter im Irak.

Am 2. Juni 2007 wurde anlässlich ihres 100. Geburtstags am Théâtre du Châtelet in Paris ihre Operette Verfügbar aux enfers uraufgeführt.

Ehrungen und Auszeichnungen

  • Großes Kreuz der Ehrenlegion, 1999
  • Nationaler Verdienstorden Ordre national du Mérite
  • Kriegskreuz des Zweiten Weltkriegs Croix de guerre 1939–1945
  • Medaille der Résistance mit Rosette
  • Medaille der Deportierten und Internierten der Résistance
  • Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 2004

Werke

  • Verfügbar aux enfers, Operette in drei Akten, veröffentlicht 2005, Uraufführung 2007
  • Le Verfügbar aux enfers. Une opérette à Ravensbrück. Editeur: La Martinière, 2005, 224 Seiten. ISBN 2732432814 (frz.)
  • L’Algérie aurésienne in Zusammenarbeit mit Nancy Woods (2001)
  • Il était une fois l’ethnographie (Autobiografie) (2000)
  • Les ennemis complémentaires (1958)
  • Ravensbrück (Original ISBN 2020310074; 1988), auf deutsch erschienen als Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Fischer, Frankfurt 2001, ISBN 359614728X
  • Le harem et les cousins (1966)
  • L’Algérie en 1957 (1956)
  • L'Afrique bascule vers l'avenir (1959)

Literatur

  • Cathérine Simon: Le siècle de Germaine Tillion. In: Le Monde. 30. Mai 2007, Seite 24
  • Cathérine Simon: Germaine Tillion. In: Le Monde. 22. April 2008, Seite 20
  • Tzvetan Todorov: Une héroïne de la fraternité. (eine Heldin der Brüderlichkeit), In: Le Monde. 22. April 2008
  • Martin Blumenson: Le Réseau du Musée de l'Homme. Seuil, Paris 1979.
  • Jean Lacouture: Le Témoignage est un combat. Une biographie de Germaine Tillion. Seuil, Paris 2000, ISBN 2-02-040401-X.
  • Nancy Woods: Germaine Tillion, une femme-mémoire. D’une Algérie à l’autre. Autrement, Paris 2003, ISBN 9782746703186.
  • François Gauducheau: Les images oubliées de Germaine Tillion. Pois Chiche Films, Lorient 2001 (ein Film mit einer Sammlung von Fotografien, die die Ethnologin in den 1930er-Jahren in Algerien angefertigt hat).

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. „Quand j'ai entendu le discours de Pétain, j'ai vomi. Littéralement“; Zitat laut Cathérine Simon in Le Monde, 22. April 2008, S. 20
  2. Auf deutsch: Verfügbar in der Hölle, dabei steht der Ausdruck für diese Häftlingskategorie als Fremdwort im französischen Titel, der ja Orpheus in der Unterwelt'' aufnimmt.
  3. „J'ai surpassé, oui, mais sans de le faire exprès. Si j'ai survécu, je le dois d'abord et à coup sur au hasard, ensuite à la colère, à la volonté de dévoiler ses crimes et, enfin, à une coalition de l'amitié - car j'avais perdu le désir viscéral de vivre“, Germaine Tillion in Ravensbrück, Ausgabe 1988.
  4. deutsch etwa: Internationales Komitee gegen Konzentrationslager

Weblinks

In französischer Sprache:

In deutscher Sprache:

In englischer Sprache:


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