Todesmärsche

Todesmärsche
Gedenkstein für einen Todesmarsch in Breitenfeld (Altmark)

Inhaltsverzeichnis

Definitionen

Als Todesmarsch werden in der Konflikt- und Gewaltforschung erzwungene Märsche von Personengruppen bezeichnet, bei denen der Tod der Marschierenden billigend in Kauf genommen wird oder sogar das Ziel ist. Dabei kann eine hohe Todesrate durch Gleichgültigkeit der Aufseher gegenüber Überanstrengung und mangelnder Versorgung der Marschierenden mit Verpflegung, Kleidung und Unterkunft oder auch durch gezielte Gewalt gegen die Teilnehmer verursacht werden.

„Death march […] signifies the process by which a regime, usually a government or an occupying power, begins to summon members of a particular nation, group, or subgroup—on the basis of their ethnicity, religion, language, or culture—with a view to their elimination. The term death march signifies the physical action by which the gathered persons are then lined up and marched to certain mass death.“[1]

Nach der Definition des Soziologen Wolfgang Sofsky sind Todesmärsche „eine langsame Form der kollektiven Vernichtung“ und unterscheiden sich durch ihre zeitliche Ausdehnung von anderen Formen sozialer Verfolgung und Repression.[2] Sie stellen eine Sonderform der Deportation dar, bei der das Ziel nicht primär die Ankunft der Deportierten am Bestimmungsort, sondern deren Ableben ist. In der Reinform ist der Todesmarsch nach Sofsky sogar völlig ziellos.[3] Die direkt gegen die Marschierenden gerichteten Gewalthandlungen werden auf Gewaltexzesse, ausgelöst durch die absolute Macht der Aufseher über die Marschierenden, zurückgeführt.[4] Todesmärsche werden in der Geschichts- und Konfliktforschung allgemein als Kriegsverbrechen und Mittel ethnischer Säuberungen oder des Völkermordes eingeordnet,[5] wobei die Kriterien zur Einordnung eines speziellen Ereignisses als Todesmarsch umstritten sein können und der Begriff nicht stets eindeutig gebraucht wird.

In Wolfgang Benz' Enzyklopädie des Nationalsozialismus wird der Todesmarsch als ein "Phänomen im Dritten Reich, v. a. gegen Ende des Krieges, als die Häftlinge etlicher KZ evakuiert, d. h. in großer Zahl gezwungen wurden, unter unerträglichen Bedingungen und brutalen Mißhandlungen über weite Entfernungen zu marschieren, wobei ein großer Teil von ihnen von den Begleitmannschaften ermordet wurde", bezeichnet.[6] Diese Definition greift insofern zu kurz, als die Todesmärsche aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern die wohl am besten dokumentierten Todesmärsche sind, das Phänomen als solches jedoch nicht auf Märsche aus den Konzentrationslagern beschränkt ist.

Es gibt auch darüber hinaus Ereignisse, die durchgängig in der neutralen historischen Literatur mit der Bezeichnung Todesmarsch charakterisiert werden, so zum Beispiel der Todesmarsch von Bataan oder der Brünner Todesmarsch. Für Vertreibungen durch deutsche Truppen in Jugoslawien ist diese Bezeichnungen in den Protokollen der Nürnberger Prozesse ebenfalls belegt.[7] Auch Deportationen im Verlauf des Völkermordes an den Armeniern werden häufig als Todesmärsche bezeichnet.[8]

Historisch belegte Todesmärsche

Todesmarsch von Indianerstämmen (1838)

Die US-Regierung ließ im Herbst und Winter 1838/1839 unter Präsident Martin Van Buren diverse Indianerstämme, unter anderem die Cherokee, in Reservate umsiedeln, bei dem aufgrund mangelhafter Planung, Verpflegung und Ausstattung ungefähr 4.000 der etwa 10.000 Indianer starben, deshalb auch der „Pfad der Tränen“ (Englisch: Trail of Tears) genannt. Da ein großer Teil nicht bereit war, sich freiwillig dem Indian Removal Act zu unterwerfen, wurden sie vom Militär zusammengetrieben und in Trecks aus Tennessee, Kentucky, Missouri und Arkansas nach Westen in ein Indianerreservat in Oklahoma deportiert.

Todesmarsch der Armenier (1915)

Beim Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich wurden auch auf Todesmärschen 300.000 bis zu über 1,5 Millionen Menschen getötet. Nach dem im Juli 1915 die meisten Armenier zunächst in ihren Hauptsiedlungsgebieten konzentriert wurden, wurden sie entweder gleich dort ermordet oder auf Befehl Talats auf Todesmärsche über unwegsames Gebirge Richtung Aleppo geschickt. Dabei ging es nicht nur um eine Umsiedlung, sondern auch die „gänzliche Ausrottung derselben in der Türkei“.[9]

Todesmarsch von amerikanischen und philippinischen Soldaten (1942)

Beim Todesmarsch von Bataan wurden 70.000 amerikanische und philippinische Kriegsgefangene durch japanische Truppen zu einem 6 Tage dauernden und über 100 km langen Marsch gezwungen. Dabei starben 16.000 Gefangene durch Krankheiten, wie Malaria und Ruhr, sowie Dehydration, Hunger und Erschöpfung.

Todesmärsche von KZ-Häftlingen (1944/45)

Mit den später so genannten Todesmärschen von KZ-Häftlingen verfolgten die SS-Wachmannschaften in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zwei Ziele: sie entzogen die Beweise ihrer Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern den heranrückenden alliierten Truppen durch die Beseitigung der Opfer und versuchten zumindest zum Teil die Arbeitskraft der Häftlinge für andere Lager zu erhalten. Durch diese Endphaseverbrechen kamen von den 1944 registrierten 714.000 KZ-Häftlingen wahrscheinlich mindestens ein Drittel[10] ums Leben. Häufig wurden nicht marschfähige Häftlinge in großer Zahl erschossen. Lagerteile der KZ wurden von der SS vor dem Abmarsch in Brand gesetzt. Manche Todesmärsche endeten mit einer Katastrophe wie der Versenkung der Cap Arcona oder in einem Massaker wie bei der Isenschnibber Feldscheune.

Todesmärsche von Deutschen aus den Ostgebieten (1945)

Nach dem Kriegsende 1945 begann für die Deutschen im Osten (Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Neumark) und Südosten (Sudetenland, Donauschwaben, Bessarabien) die Vertreibung von über 15 Millionen Menschen. In zahlreichen Todesmärschen wurden die Deutschen aus ihren Heimatorten und -städten gejagt. Der bekannteste ist der Brünner Todesmarsch mit 27.000 Beteiligten und 5.200 Toten, ferner etwa der Todesmarsch der Komotauer (Sudetenland) nach Sachsen.

Todesmarsch von kroatischen und slowenischen Wehrmachtverbündeten (1945)

Zu den Massakern von Bleiburg kam es im Anschluss an ihre bedingungslose Kapitulation in Bleiburg (Kärnten), als kroatische, slowenische und weitere Truppen, die auf der Seite der Wehrmacht gekämpft hatten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs von britischen Armeestellen an die Tito-Partisanen ausgeliefert wurden. In der Folgezeit kam es auf dem Transport dieser entwaffneten Truppen in Lager in Slowenien und Nordkroatien zu den Massakern von Bleiburg. Aus diesen Lagern wurden sie, ebenso wie deutsche Kriegsgefangene, in Märschen in Lager in der Vojvodina getrieben, teils über hunderte von Kilometern. Bei diesen Todesmärschen kam es zu einer großen Zahl von Opfern, darunter waren Tausende von deutschen Kriegsgefangenen. Viele der Marschierenden sollen an Entkräftung, Krankheiten oder Folgen von Misshandlungen gestorben oder aus Willkür oder, weil sie das Marschtempo nicht mehr mithalten konnten, erschossen worden sein.

Fußnoten

  1. Encyclopedia of Genocide and Crimes Against Humanity. Dinah Shelton, Macmillan Reference, 2005, S. 226 (ISBN 0028658485)
  2. Wolfgang Sofsky, Gewaltzeit. in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37, Jg. 49, 1997, S. 102-121.
  3. Zeiten des Schreckens: Amok, Terror, Krieg. Wolfgang Sofsky, Verlag S. Fischer, 2002, S. 103ff (ISBN 310072707X)
  4. Soziologie der Gewalt. Trutz von Trotha, Westdeutscher Verlag, 1997, S. 115ff (ISBN 3531131370)
  5. gemäß Artikel II c) der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes über die "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen"
  6. Wolfgang Benz (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus. 1997 ff, ISBN 3-608-91805-1, S. 759
  7. Protokolle vom 18. Februar 1946. Nuremberg Trial Proceedings Vol. 7, S. 552
  8. Annihilation, Impunity, Denial: The Case Study of the Armenian Genocide in the Ottoman Empire (1915/16) and Genocide Research in Comparison. Dr. Tessa Hofmann, CGS Symposium, Tokyo, 27. März 2004
  9. Wolfgang Gust (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Klampern Verlag Springe 2005, S. 219 oder: auf armenocide.de
  10. Eberhard Kolb: Die letzte Kriegsphase... , S. 1135 in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Fischer TB, Frankfurt, ISBN 3-596-15516-9

Weblinks

  • "Death March." Genocide and Crimes Against Humanity. Ed. Dinah L. Shelton. Gale Cengage, 2005. eNotes.com. 2006. 24 Feb, 2009

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Todesmärsche von Sandakan — 24. Oktober 1945. Sandakan Kriegsgefangenenlager ein paar Monate nachdem es aufgegeben wurde. In dem abgebildeten Bereich wurden die Körper von 300 Gefangenen gefunden. Es waren diejenigen, die im Lager nach dem Todesmarsch nach Ranau verblieben …   Deutsch Wikipedia

  • Todesmarsch von KZ-Häftlingen — Gedenkstein an den Todesmarsch vom KZ Dachau nach Süden im April 1945. Errichtet 1989 …   Deutsch Wikipedia

  • Todesmarsch — Gedenkstein für einen Todesmarsch in Breitenfeld Als Todesmarsch werden in der Konflikt und Gewaltforschung erzwungene Märsche von Personengruppen bezeichnet, bei denen der Tod der Marschierenden billigend in Kauf genommen wird oder sogar das… …   Deutsch Wikipedia

  • Mahn- und Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune — Opfer des Massenmordes Die Mahn und Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune der Hansestadt Gardelegen in Sachsen Anhalt erinnert an die Ermordung von mehr als 1.000 KZ Häftlingen bei einem Todesmarsch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs …   Deutsch Wikipedia

  • Bleiburger Massaker — Gedenkkapelle an einem Massengrab, Kočevski Rog Gedenkstätte für die Opfer von Bleiburg Die Massaker von Bleibur …   Deutsch Wikipedia

  • Bleiburger Tragödie — Gedenkkapelle an einem Massengrab, Kočevski Rog Gedenkstätte für die Opfer von Bleiburg Die Massaker von Bleibur …   Deutsch Wikipedia

  • Die Tragödie von Bleiburg — Gedenkkapelle an einem Massengrab, Kočevski Rog Gedenkstätte für die Opfer von Bleiburg Die Massaker von Bleibur …   Deutsch Wikipedia

  • Tragödie von Bleiburg — Gedenkkapelle an einem Massengrab, Kočevski Rog Gedenkstätte für die Opfer von Bleiburg Die Massaker von Bleib …   Deutsch Wikipedia

  • Massaker von Bleiburg — NDH Truppen auf dem Rückzug kurz vor Bleiburg, Mai 1945 G …   Deutsch Wikipedia

  • Der Verlorene Zug — Jüdische Gedenkstätte in Schipkau Als der Verlorene Zug, Verlorene Transport oder Zug der Verlorenen wird der letzte von drei Transporten bezeichnet, mit denen während der Zeit des Nationalsozialismus in der Endphase des Zweiten Weltkrieges… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”