Tottenham Outrage

Tottenham Outrage
Soldaten der Scots Guards eröffnen das Feuer auf die Anarchisten

Die Belagerung der Sidney Street (engl.: Siege of Sidney Street; auch bekannt als „Schlacht von Stepney“, engl.: Battle of Stepney) war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen staatlichen Ordnungskräften und einer Gruppe baltischer Anarchisten im Londoner East End im Januar 1911. Die Belagerung endete mit dem Tod der meisten Anarchisten. Die Affäre schlug hohe politische Wellen wegen der Verwicklung des damaligen britischen Innenministers Winston Churchill.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Infolge der einsetzenden Verfolgung antizaristischer Kräfte, insbesondere von Anarchisten, Kommunisten und anderen Sozialrevolutionären, im Kielwasser der gescheiterten russischen Revolution von 1905 wurden zahlreiche politisch Verfolgte des Zarenregimes, die versuchten sich dem Zugriff der staatlichen Behörden zu entziehen, in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nach Großbritannien verschlagen. In Großbritannien angelangt trieb es die meisten Flüchtlinge in die Weltmetropole London und dort vor allem in die Armenviertel des Eastend, in denen sich den naturgemäß finanzschwachen „refugees“ die Möglichkeit bot, trotz ihrer Mittellosigkeit einstweilen ein Unterkommen zu finden. Unter diesen Flüchtlingen war auch im Herbst 1905 für einige Monate der junge Josef Stalin.

Der „Tottenham Outrage“ („Die Gräueltat von Tottenham“)

Unter diesen Umständen war auch eine Gruppe lettischer Anarchisten nach London gekommen, die mutmaßlich unter der Führung einer dubiosen Gestalt stand, die als Peter Piaktow, auch Peter der Anstreicher („Peter the Painter“) genannt, bekannt ist und deren Historizität nicht einmal unzweifelhaft gesichert ist. Da alle Angehörigen der Bande diverse Alias verwendeten, sind exakte Angaben über ihre Größe kaum zu machen: die Kernmitglieder der Gruppe waren vermutlich Jacob Fogel (auch Jan Sprohe), William Sokolow (auch Joseph), Fritz Svaars, Mouremtzoff (auch George Gardstein), Nina Vassilleva (Gardsteins Geliebte), Luba Milstein (Svaars' Pussage), Jacob Peters, Max Smoller (auch Joseph Levi), und der angebliche Piaktow. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können und für die Fortsetzung ihres revolutionären Kampfes begingen sie in London diverse gewaltsame Raubdelikte, die sie, vom klassenkämpferischen Impetus geleitet, als „Expropriationen“ bezeichneten. Die erste dieser Aktionen war der Tottenham Outrage am 23. Januar 1909. Zwei der lettischen Anarchisten überfielen einen Geldboten, der die Löhne einer örtlichen Kautschukfabrik zur Bank bringen sollte. Im Laufe des sich ergebenden Handgemenges wurden Schüsse abgefeuert, die die Polizei auf den Plan riefen. Die Polizei konnte die beiden Täter schließlich nach einer Verfolgung über eine Strecke von mehr als 6 Meilen einholen und stellen. Die Bilanz der Verhaftung war jedoch verheerend: im Zuge der Verfolgungsjagd wurden 2 Menschen getötet und 27 verletzt.

Houndsditch Morde

Im Dezember 1910 hatten die Mitglieder dieser Gruppe geplant, ein Juweliergeschäft in Houndsditch auszurauben, indem sie einen Tunnel durch die Wand eines von ihnen angemieteten, angrenzenden Gebäudes trieben, um sich so Zugang zu den Räumlichkeiten des Juweliergeschäfts zu verschaffen. Um die Tresore des Juweliers knacken zu können hatte man einen Schlosser namens Dubof in die Gruppe geholt. Durch den Lärm, den diese „Bauarbeiten“ verursachten, misstrauisch geworden, verständigte ein Anwohner am 16. Dezember die Polizei. Als die – traditionell nicht mit Schusswaffen ausgestatteten – Beamten am Ort des Geschehens eintrafen, ertappten sie die Piaktow-Gruppe bei ihrer Tätigkeit: einer der Polizisten (Constable Bentley) wurde sofort beim Eindringen in das fragliche Haus erschossen, drei weitere (Constables Strongman, Choat und Tucker) in der sich nun ergebenden Straßenschlacht („Houndsditch murders“). Die meisten Mitglieder der Gruppen konnten sich der Festnahme durch die zahlenmäßig überlegene Polizei entziehen, jedoch wurde George Gardstein, ihr ursprünglicher Anführer durch die verirrte Kugel eines seiner Komplizen tödlich verwundet und erlag seinen Verletzungen, nach vermeintlich geglückter Flucht, in einem Unterschlupf der Bande in der Wohnung Svaars. Die Folge war eine Woge der Empörung über die Bluttat im ganzen Land und eine fieberhafte Polizeiuntersuchung, in deren Verlauf im Laufe der nächsten Wochen weitere Angehörige der Bande festgenommen werden konnten. Die toten Polizisten wurden in einem offiziellen Staatsakt in Anwesenheit des Innenministers Winston Churchill und seiner Ehefrau geehrt.

Die Belagerung

Winston Churchill (hervorgehoben) in der Sidney Street

Am 2. Januar 1911 teilte ein Informant (vermutlich ein gewisser Charles Perelman, der frühere Vermieter der Bande) der Polizei mit, dass zwei oder drei Angehörige der Bande, unter ihnen womöglich auch Peter der Anstreicher, sich in dem Gebäude der Adresse 100 Sidney Street, Stepney (im Metropolitan Police District) verborgen hielten.

Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Wechsel ihres Verstecks, veranlassten die Polizei dazu – in Erwartung bewaffneten Widerstandes - ein Sturmkommando zur Verhaftung der Verdächtigen zusammenzustellen. Am 3. Januar 1911 um zwei Uhr Morgens riegelten zweihundert Beamte den Block systematisch ab: bewaffnete Polizisten wurden in Geschäften und Wohnungen, die das Gebäude mit dem Versteck der Gesuchten umgaben, postiert.

Bei Tagesanbruch kam es zum Kampf: Die Überlegenheit der Waffen der Belagerten wurde alsbald ersichtlich und ihr scheinbar schier unerschöpflicher Munitionsvorrat verschärfte die Situation weiter. Die leitenden Beamten vor Ort entschlossen sich das Innenministerium um die Entsendung militärischer Hilfe zu ersuchen. Diese Bitte erreichte den Innenminister Churchill in seiner Privatwohnung: telephonisch garantierte er seine Zustimmung und fuhr daraufhin ins Innenministerium und – als er dort keine weiteren Informationen erhalten konnte – von dort direkt in die Sidney Street, um sich vor Ort ein Bild der Lage machen zu können. Seine Motive waren neben einem Gefühl persönlicher Verpflichtung vor allem – nach eigenem Zugeständnis – auch persönliche Neugierde und die ihm eigene Abenteuerlust.

Neben den Soldaten des Towers ließ Churchill außerdem Truppen der Scots Guards, darunter auch Scharfschützen, in voller Kampfmontur herbeirufen. Aus Ratlosigkeit, wie man an die Eingeschlossenen herankommen sollte, beschloss man vorerst, in nahegelegenen Gießereien nach massiven, kugelsicheren Stahlplatten zu fragen, um mit diesen als großem Schutzschild, das Gebäude Stockwerk für Stockwerk zu erobern. Anstatt durch eine dramatische Erstürmung, löste sich das Problem jedoch gewissermaßen von selbst: Nachdem die Belagerung sechs Stunden angedauert hatte, entstiegen Rauchschwaden den oberen Geschossen des Hauses und schließlich erfasste ein Feuer die oberen Stockwerke des Gebäudes der Sidney Street 100 und arbeitete sich langsam nach unten vor. Der eintreffenden Feuerwehr verweigerte die Polizei - aufgrund der Gefahr, unter Beschuss durch die Insassen des Gebäudes zu geraten – den Zutritt zu den Baulichkeiten, und Churchill, der sich den Standpunkt der Polizei zueigen machte, wies sie stattdessen an, lediglich ein Übergreifen des Feuers auf die angrenzenden Gebäude zu verhindern. Schlussendlich erfasste das Feuer auch das Erdgeschoss des Gebäudes, dessen Decke schließlich einbrach. Mit vorgehaltenen Waffen erwarteten die Ordnungskräfte einen Ausbruchsversuch der Eingeschlossenen. Ein solcher erfolgt jedoch nicht. Nachdem die Flammen letztlich von der Feuerwehr gelöscht wurden, fand man im Innern des Gebäudes die sterblichen Überreste von Fritz Svaars und William Skolow. Von Peter dem Anstreicher wurde jedoch niemals auch nur eine Spur entdeckt.

Nachspiel

Fünf Personen wurden wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Piaktow-Bande verhaftet, jedoch allesamt im später eingeleiteten Gerichtsverfahren freigesprochen, darunter Jacob Peters (Yakov Peters), der im Zuge der russischen Revolution von 1917 bis zum stellvertretenden Chef der Tscheka, der bolschewistischen Geheimpolizei aufstieg.

Churchills Rolle in der Affäre wurde in Parlament und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert und festigte seinen Ruf als Skandalminister, der mit geradezu „magnetischer“ Kraft“ Unruhe in sein Umfeld brachte. Der damalige konservative Parteichef Arthur Balfour bezichtigte Churchill in einer Unterhausdebatte, unangemessen gehandelt zu haben und sich durch seine direkte Beteiligung an einem „Straßenkampf“ – der noch dazu von den Kameras der britischen Wochenschau gefilmt wurde – eines Ministers unwürdig verhalten zu haben. Des Weiteren warf man ihm Publicity-Sucht und eine unnötige Gefährdung seiner für den Staat so kostbaren Person vor. Churchill selbst gestand in privatem Kreis ein, einen Fehler gemacht zu haben. Die Unterlegenheit der britischen Polizei im Feuergefecht zog die Abschaffung der Webley-Revolver und die Einführung der Webley Halbautomatik als Standardwaffe der Londoner Polizei nach sich.

Verfilmung

Die Ereignisse der Sidney Street Belagerung wurden 1960 in dem Film „The Siege of Sidney Street“ ereignisnah wiedergegeben. In der ursprünglichen, britischen, Verfilmung von Alfred HitchcocksDer Mann, der zuviel wusste“ von 1934 wurden die Ereignisse der Sidney Street Belagerung ebenfalls, hier jedoch mit künstlerischer Freiheit, verarbeitet. In dem amerikanischen Remake des Films, ebenfalls unter Regie Hitchcocks von 1956, finden sie jedoch keinen Eingang.

Literatur

  • The Houndsditch Murders and the Siege of Sidney Street, Donald Rumbelow, ISBN 0491031785
  • The Battle of Stepney, Colin Rogers, ISBN 0709191464

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